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71/72-Die Saison der Träumer

17.03.2021, 20:08 Uhr von:  DocKay
Das Buch und die E-Gitarre "Summer of Love" als Hommage an die wilden Jahre.
© DocKay

Im August 1996 starben im Abstand von nur fünf Tagen Reinhard Libuda und Rio Reiser. Beide haben auf sportlicher und kultureller Ebene eine ganz besondere Spielzeit mitgeprägt.

Sie sind beide nicht alt geworden, 52 Jahre der eine, 46 der andere. Rio, mit bürgerlichem Namen Ralph Christian Möbius, kam aus Süddeutschland nach Berlin und wurde viele Jahre später zum „König von Deutschland“. „Stan“ Libuda wurde als Rechtsaußen und Dribbelkünstler mit Höhen und Tiefen bei Schalke 04 zur tragischen Figur. Seine Formschwankungen verstärkten sich durch die Ereignisse und Beschuldigungen im Bundesligaskandal. Frustriert wanderte er, davongetrieben aus der Heimat, Richtung Racing Strasbourg. Die Blauen erlösten damals mit einer halben Million die bis dahin höchste Transfersumme. 1972 wurde er vom DFB-Schiedsgericht auf Lebenszeit gesperrt, zwei Jahre später jedoch wieder begnadigt, um 1973 zu Schalke zurück zu kehren.

Für dich war doch schon Dortmund Ausland. Und jetzt willst du nach Straßburg? Du verstehst doch nicht einmal die Sprache!“


„WAZ“-Sportchef Hans-Josef Justen

Dies sind nur zwei Episoden aus dem Buch von Bernd-M. Beyer: "71/72 Die Saison der Träumer". Eine Saison, in der die Fußball-Bundesliga durch den bis heute größten Skandal erschüttert wurde. Alles begann mit der Einladung von Horst-Gregorio Canellas, Präsident der Offenbacher Kickers, zu einem Gartenfest anlässlich seines 50. Geburtstages. In der Folgezeit nahm die Krise ihren Verlauf und produzierte immer neue Höhepunkte. Gleichzeitig entwickelte sich parallel dazu eine neue Blütezeit des deutschen Fußballs mit herausragenden spielerischen Momenten. Garant hierfür waren die neuen „Wilden“. Franz Beckenbauer, Günther Netzer, Wolfgang Overath und viele andere trugen dazu bei. Lange Männerhaare waren Ausdruck von Rebellion und schnelle Autos passten in den Kontext: Rockmusik, Politik und Befreiung vom Muff der deutschen Nachkriegsgesellschaft.

Das Fußballerinnerungsbuch „71/72- die Saison der Träumer“ ist eigentlich ein Buch über Rockmusik und Politik - und deshalb so bereichernd.


Holger Gertz (Süddeutsche Zeitung)

Die 352 Seiten des Buches beschreiben jeden Spieltag mit allen Träumen und Enttäuschungen. Oft tritt der Spieltag aber in den Hintergrund und es liegt der Fokus auf unfassbar vielen Ereignissen im parallelen Umfeld. Die Vorurteile gegen Frauenfußball bekamen prominente Unterstützung. So bemerkte Gerd Müller: „Frauen gehören doch hinter den Kochtopf. Meiner Frau würde ich nicht erlauben Fußball zu spielen.“ Fortschrittlicher waren da schon Rio Reiser und seine Ton Steine Scherben mit ihrem Engagement bei der Besetzung des leerstehenden Bethanien-Krankenhauses in Berlin. Es war aber auch die Zeit der RAF und ihren Attentaten. Aus Räuber-und-Gendarm-Spiel wurde blutiger Ernst. Es war der Bloody Sunday, der Nordirland erschütterte. In Deutschland führte der Radikalenerlass zu Diskussionen. "Die Angst des Tormanns beim Elfmeter", eine Erzählung von Peter Handke, wurde verfilmt. Die Verfilmung rückte Außenseiter in den Mittelpunkt, ein neuer Trend sowohl im Fußball als auch in der Gesellschaft. Der Friedensnobelpreisträger Willi Brandt und seine Ostpolitik überstanden das Misstrauensvotum im Deutschen Bundestag.

Die Blauen schienen dem Bundesligaskandal und dem Chefankläger des DFB Hans Kindermann mit einem Meineid zu trotzen. Es entwickelte sich ein Zweikampf um die Meisterschaft mit dem FC Bayern München. Beim Europacup-Gewinner von 1966 Borussia Dortmund, ging die Abstiegsangst um. Am letzten Spieltag der Saison kam es zum Endspiel um die Deutsche Meisterschaft im Olympiastadion in München. Die Blauen verloren schließlich mit 1:5 und wurden bekannterweise nur Vizemeister. Zu diesem Zeitpunkt war Borussia Dortmund längst aus der ersten Liga abgestiegen.

Das Buch 71/72 Die Saison der Träumer als Hardcover
© Verlag Die Werkstatt

Das Buch von Bend-M. Beyer begeistert mit den Ausführungen zur schönsten Nebensache der Welt. Und der Fußball spielt wirklich eine Nebenrolle. Viel spannender und zum Teil erschütternd sind die gesellschaftlichen und politischen Ereignisse dieser Spielzeit. Dadurch lebt dieses Buch von einer permanenten Spannung, aber auch von einer historischen Erinnerung. Dies wird beim Studium des Quellen-Verzeichnisses noch deutlicher. Der Epilog befasst sich dann nochmals mit dem tragischen Ende von "Stan" Libuda und Rio Reiser.

Das Traumtier geht auf weite Reise / und grauer Regen löscht das Feuer.


Rio Reiser („Zauberland“)

Ein absolut lesenswertes Buch, als Hardcover im Verlag „Die Werkstatt“ erschienen. Vom Autor stammt auch die Biografie über Helmut Schön, die im Jahr 2017 als Fußballbuch des Jahres ausgezeichnet wurde.

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