Das Lied in uns
Im Transitbereich des Aeropuerto de Ezeiza in Buenos Aires sitzt die 30 jährige Schwimmerin Maria. Sie wartet auf ihren Anschlußflug nach Chile. Dort wird sie nicht ankommen. Sie erkennt ein spanisches Kinderlied. Sie ist der Sprache nicht mächtig und singt trotzdem mit. Sie bricht zusammen, rennt auf die Toilette und weint und weint und weint. Sie verpasst ihren Anschlußflug. Von den Ereignissen aufgerüttelt, begibt sie sich auf Spurensuche. Schnell wird ihr bewusst, dass sie eigentlich aus Buenos Aires stammt. Sie findet ihre Wahrheit. Ihr Leben verändert sich schlagartig.
Was Florian Cossen in seinem mit mächtigen Bildern der argentinischen Hauptstadt versehenen Regiedebüt „Das Lied in mir" in Szene setzt, ist so oder so ähnlich fast allen von uns irgendwann einmal passiert. Nicht im Transitbereich eines Flughafens, vielleicht auch nicht mit der emotionalen Wucht und gottlob nicht mit einem dermaßen großen persönlichen Schicksal verbunden. Der Prozess bei uns war manchmal schleichend, manchmal jedoch ähnelte unsere Erweckung, der von der grandiosen Jessica Schwarz verkörperten Maria. Wir alle hörten irgendwann dieses Lied, vernahmen diesen unvergleichlichen Sound. Er ließ uns nicht mehr los. Woche für Woche nun, wenn die Liga nicht gerade in der nervenzerreißenden Sommerpause ist, wachen wir an Spieltagen auf und hören auf dieses Lied, erinnern uns an die ersten zaghaften Begegnungen und die Wucht, mit der uns diese Liebe mitriss. Auf einmal waren wir Teil einer Familie. Einer Familie, die um so vieles größer war, als alle, die wir jemals hatten. Die Liebe, die wir für diese Familie verspürten, würde uns nicht mehr loslassen. Uns war klar, es würden auch schlechte Zeiten kommen und vielleicht würden wir uns auch für einen Moment von ihr lösen wollen, doch ihre unsichtbare Magie, auch das war uns bewusst, würde uns immer wieder zu ihr zurückführen.
Ein Teil der Familie erlebte die quälende Zweitligazeit in den 70ern, ein anderer Teil stieß erst in den wankelmütigen 80ern hinzu und wahrscheinlich ein Großteil fand in den erfolgsverwöhnten 90er-Jahren den Weg in unseren Schoß. Niemand konnte ahnen, welch schwere Zeiten uns bevorstanden. In den 00er-Jahren verbrannten wir beinahe, der Übermut hatte uns zu nah an die Sonne geführt. Unser Größenwahn verflog binnen weniger Spiele, das Lügenkonstrukt zerbrach. Doch auch in den prekären Jahren verließ kaum jemand die Familie und eine junge Generation rückte nach. Sie kannten die Erfolge nur aus Erzählungen, hatten vielleicht die letzten Zuckungen 2002 erlebt und machten sich auf ihren ganz eigenen Weg. Sie lehnten sich gegen die alten Herren auf und eroberten sich letztendlich ihren Platz auf der Tribüne. Manchmal benahmen sie sich, wie sich Pubertierende eben benehmen und schlugen über die Stränge. Doch als der Trainer verjagt wurde, schlugen wir alle über die Stränge. Auf leidvolle Jahre folgten leidvollere Jahre. Bis sich alle ein Herz fassten und die letzte Chance ergriffen. Seitdem fühlten wir uns wieder besser, wir wurden lauter, das Lied in uns war an Spieltagen jetzt wieder da. Wir schleppten uns nicht mehr ins Stadion, um unsere Strafe abzuholen. In all den Jahren hatten wir uns gefragt, weswegen es uns so getroffen hatte und doch war uns die Antwort bekannt. Sie lag in dem Hochmut, der uns überfallen hatte und den wir erst nach einem großen Schock abschütteln konnten.
Das Leiden hatte also ein Ende und wir waren immer noch alle da. Mit einem Lachen ging es an Spieltagen ins Stadion. Man hatte uns Vollgasveranstaltungen versprochen und wir bekamen sie. In den nächsten beiden Jahren wurden die Spieler jünger, die Veranstaltungen noch ein wenig schneller, bis Anfang dieser Saison selbst den Gegnern schwindelig wurde. Sie wussten nicht mehr, wo sie zu stehen hatten, wie sie gegen diese neue Macht verteidigen, geschweige denn ein Tor erzielen sollten. Für uns waren das alles keine Rätsel, wir reisten dem Team hinterher, verbrüderten uns mit ihm und sorgten in den wenigen Momenten der Schwäche für stabile Verhältnisse. Mit beeindruckender Lautstärke verbanden wir all unsere Lieder zu einem großen Chor, der mal wütend gegen den Gegner ansang, nur um dann wieder mit peitschender Brutalität unsere Jungs dort unten anzutreiben. Wir waren wieder wer. Auf den Tribünen und auf dem Platz. Man überhäufte die Jungs auf dem Platz mit Lob, versuchte uns einzulullen. Für einen Moment gelang es ihnen, die Ansprüche hatten wir ins Unermessliche hochgeschraubt. Grundsätzlich aber ist das Unermessliche selten erfüllbar und so war es auch diesmal. Während wir unseren Ansprüchen nachhingen und nur noch von dem, was da kommen mag träumten, entschwand uns mal wieder der Blick für das Hier und Jetzt. Wenn wir nicht gerade einen Treffer erzielten, hielten wir uns zurück. Alles andere als ein Treffer dort unten auf dem Platz war eine Enttäuschung für uns. Wir hatten die quälenden Zweitligazeiten in den 70ern erlebt, die wankelmütigen 80er mit einem Pokalerfolg verabschiedet, in den 90er die großen Triumphe genossen und sogar im Leidensjahrzehnt konnten wir einen Titel einfahren, da war es also nur ein natürliches Anrecht auch die stürmischen 10er mit einem Titel einzuläuten. Alles andere wäre eine herbe Enttäuschung.
Wir machten uns Gedanken, wann wir wo und wie feiern würden und vergaßen über dies das wunderbare Feuer an den Spieltagen. Wir schleppten uns in das Stadion und wollten uns auch auswärts bedienen lassen. Die Jungs dort unten würden es schon richten, da brauchte es unsere Unterstützung nicht. Doch auf einmal richteten es die Jungs dort unten nicht mehr, auch sie hatten sich scheinbar auf uns und auf ihre eigenen, großen Fähigkeiten verlassen. Der Gegner stört uns nicht wurde ad absurdum geführt, er störte uns auf einmal mit großer Leidenschaft, während unsere Toleranzgrenze sank. Sollten wir es auf einmal doch noch verspielen. Die große Feier. Die Feier, die wir schon so lange geplant hatten, für die wir uns 360.000fach eingeladen und manchmal sogar bereits unsere Seele verkauften hatten. Es gab nur zwei Möglichkeiten. Wir konnten entweder ernsthaft beleidigt sein oder wir konnten uns mit aller Kraft an das Lied in uns erinnern. Wir entschieden uns für die Möglichkeit Nummer 2. Es fiel uns zeitweise nicht leicht, doch als uns alle am Boden sahen, peitschte ein Orkan durch unser Wohnzimmer. Er fiel an der Süd ein und trieb den Ball immer wieder in Richtung Nord. Der Jüngste der jungen Mannschaft konnte dem Wind nicht standhalten und bog von seinem Weg zur Ost in Richtung Nord ab, er wurde durch fünf Abwehrspieler zum Tor getrieben und als der Ball sich nach endlosen Sekunden von seinem Fuß löste, war die Erleichterung spürbar. Weiter, immer weiter. Nur an den nächsten Spielzug denken. Wenige Minuten später explodierte Dortmund. Wir erinnerten uns an andere Momente der Erlösung. Dies war wieder so ein Moment. Irgendwo da draußen würde jetzt gerade in einigen Köpfen das Lied erklingen und nicht mehr verschwinden.
Wir verabschiedeten später noch einen wichtigen Teil unserer Familie, auch er wird uns für einen Moment verlassen, doch auf ewig Teil unserer Gemeinschaft bleiben. Wir schämten uns unserer Tränen nicht und wollten ihn nicht gehen lassen. Auch wenn er sich noch ein paar Mal bei uns blicken lassen würde, wir wussten, dass dieser Augenblick dort unten am Samstag, dem 2.April 2011 um 17.19 Uhr niemals zurückkommen würde. Wir hielten ihn fest und auch Tage später ist er noch in unserem Herzen und auch in 19 Jahren wird er noch in unseren Herzen sein. Dessen sind wir uns sicher.
Jetzt, sechs Wochen vor Ende einer weiteren Spielzeit, stehen wir vor einer unlösbaren Aufgabe. Wir dürfen uns weiterhin nicht einnehmen lassen, von den Gedanken an die unendlichen Möglichkeiten, die uns diese sechs Wochen bescheren. Wir müssen weiterhin für die Jungs auf dem Platz da sein, sie brauchen uns, so wie wir sie brauchen. Wir dürfen nicht wieder zu nahe an die Sonne fliegen, denn auch diesmal würden wir dort verglühen. Wir brauchen unsere Leidenschaft, unsere Atemlosigkeit und unsere Empathie. Wir müssen auf das Lied in uns hören. Noch sechs Mal müssen wir alles für den großen Traum geben. Dann können wir uns erholen. Dann wartet die nervenzerreißende Sommerpause mit ihren ganz eigenen Wirren auf uns. Bis dahin aber sollten wir den 2.April 2011 zu unserem Vorbild nehmen und genau hinhören, wenn wir an Spieltagen aufwachen. Es lohnt sich.
steph, 06.04.2011