Auf der Flucht
17.12 Uhr, Westfalenstadion, Dortmund. Hertha BSC, ein Bundesligaklub aus der deutschen Hauptstadt, ist soeben mit 2:0 beim Deutschen Meister Borussia Dortmund in Führung gegangen. Das Spiel dauert (die Nachspielzeit nicht mit eingerechnet) noch neun Minuten. Knapp 60 Sekunden später zeigt sich das Westfalenstadion an vielen Stellen auf Nord-, Ost- und Westtribüne entblößt, schwarze und gelbe Sitzschalen kommen zum Vorschein. Ich beginne an mir und meiner visuellen Wahrnehmung zu zweifeln. Noch findet da unten auf dem sommerlich satten Grün kein Trikottausch zwischen den Spielern beider Mannschaften statt, noch sind keine für Spielerinterviews bestimmte Werbeaufsteller vor dem Eingang zum Spielertunnel aufgestellt, noch diskutiert Klopp nicht mit seinem Trainerpendant Markus Babbel, noch kann die Partie also nicht beendet sein.
Doch ein Blick nach links und rechts, geradeaus, nach unten und nach oben verrät mir das Gegenteil. Wie lautet nun die Lösung dieser geradezu komplexen Problemstellung? Fest steht, es muss einen Grund geben für die panikartige Flucht von Hunderten schwarzgelber Anhänger (später im Fernsehen wird, um die gigantische Medienwirkung nicht zu verfehlen, von Tausenden Fans die Rede sein). Und vielleicht waren es sogar Tausende. Fakt ist, die Suche nach einem Grund entpuppt sich als sehr schwieriges Unterfangen, denn es gibt scheinbar mehrere Ansätze. Der, der mir als erstes in den Sinn kommt, ist folgender: Die Leute waren geschockt, dass sie am Dienstag zum Champions-League Spiel gegen Arsenal schon so verdammt zeitig anreisen müssen, weil zu internationalen Spielen ja 50.000 Zuschauer mehr ins Stadion passen. So sind viele vorsorglich also schonmal nach Hause gefahren und haben sämtliche Aufgaben erledigt und sich allen Verpflichtungen entledigt, um Dienstag ja früh genug anreisen zu können.
Ansatz Nummer Zwei: Das Fernsehprogramm. Samstagabend ist bekanntlich Blockbuster-Zeit, Primetime für unzählige Privatsender auf der Suche nach Menschen mit von Werbung noch nicht vollständig aufgeweichtem Hirn. Ein Blick in die Fernsehzeitung. Titanic? Hat der mittlerweile gefühlt 25 Jahre alte Realkitsch-Epos auch noch in 2011 die Macht, Leute in Scharen frühzeitig aus dem Stadion zu rekrutieren (schließlich sollte man keinesfalls den Beginn der stereotypischsten Liebesgeschichte aller Zeiten verpassen)? Diese Frage sollte sich jeder selbst beantworten. Just in diesem Augenblick fällt mein Blick noch einmal auf die Fernsehzeitung, genauer gesagt auf das Programm der Öffentlich-Rechtlichen (ohne Werbeunterbrechung wohl gemerkt). Da steht es also, schwarz auf weiß: 20.15 Uhr – Das große Hansi Hinterseer Open Air 2011! Wow! Jetzt kann ich wieder beruhigt schlafen, denn die „Stadionmassenflucht“ ist erklärt. Denn ganz ehrlich, ich hatte schon Angst es gäbe gar keinen rational verständlichen Grund.
Nur wenn man um viele, viele verschiedene Ecken denkt, könnte man vielleicht auf den Gedanken kommen, die Mannschaftsleistung und das Ergebnis des Spieles könnten schuld sein am Zuschauerstrom gen Ausgang (in der 82. Spielminute!). Obwohl, so ein wenig angedeutet hatte sich das Ganze ja schon während der zweiten Hälfte. Pfiffe waren da nicht unbedingt nur in Einzelfällen zu vernehmen. Es gab da diesen einen Moment, in dem ich mich mal ausnahmsweise nicht auf die Position auf dem Feld konzentriert habe, wo der Ball gerade war, sondern einfach mal so auf Roman Weidenfeller schaute. Und genau in dieser Sekunde (das Spielgerät und sämtliche Zweikämpfe befinden sich in der Hälfte der Herthaner) spielt da Silva einen Fehlpass und Leute pfeifen und seufzen in nicht gerade leisen Ausmaßen. Unser Keeper, ein paar Meter vor seinem Strafraum stehend, schaut zur West und schüttelt verständnislos den Kopf. Dann klatscht er in die Hände und versucht seine Vordermänner zu motivieren.
Was will der Dichter uns damit sagen? Nun ja, Meisterschaft war gestern (also im Mai). Die neue Saison läuft seit einigen Wochen und Borussia Dortmund ist nicht Tabellenführer. Der BVB hat auch noch keine 20 Saisontore erzielt. Bisher wurden die Gegner (mit Ausnahme des HSV) auch noch nicht an die Wand gezaubert. Und am Samstag hat unser geliebter Ballspielverein seit über einem Jahr mal wieder ein Heimspiel verloren, und das gegen einen Aufsteiger. Aber ist das ein triftiger Grund, das Stadion zehn Minuten vor Anpfiff zu verlassen? Auch hier liegt die Entscheidung natürlich bei jedem selbst. Eintritt bezahlt hat schließlich jeder und es kann und sollte natürlich auch jedem gegönnt sein, aufkommenden Unmut zu äußern. Doch ein großes ABER darf nicht fehlen: Jeder sollte auch nachdenken, ob die persönliche Erwartungshaltung nachvollziehbar und tragbar ist. Sich an der letzten Saison zu orientieren, dürfte wohl nicht ideal sein. Vor allem aber sollte man die Spieler in einer solchen Situation nicht noch weiter verunsichern, denn auch wenn jeder von ihnen ein Jahr älter geworden ist, haben wir immer noch eine verdammt junge Truppe auf dem Rasen. Und „Zuschauer“, die das nicht begreifen, akzeptieren und nachvollziehen können/wollen, sollten an einem solch schönen Sommertag dann vielleicht doch eher die blassen Beine in die Sonne halten oder dem Hund den nötigen Auslauf im Park ermöglichen. Hand aufs Herz, Heimniederlage hin oder her, die letzten fünf Minuten waren doch das, was man vom BVB sehen will. Und gestehen wir uns doch folgendes ein: Vor fünf Jahren wäre der Großteil der Zuschauer trotz Heimniederlage nach einem solchen Fight in der Schlussphase mit einem Lächeln nach Hause gegangen. So viel also zur Verschiebung der Erwartungshaltung.
Ein kleines Fazit also...
Ganz einfach, jeder auf den Rängen sollte sich im Klaren darüber sein, dass letzte Saison eine ganz besondere war, aber jeder Sieg in dieser Spielzeit wieder hart erarbeitet werden muss (egal gegen wen) und eben nicht selbstverständlich ist. Dann steht unser Ballspielverein auch bald wieder auf einem Tabellenplatz, mit dem jeder sicherlich sehr gut leben kann…
Tim, 12.09.2011