Gänsehaut im Wembley Ein Moment für die Ewigkeit
Es gibt Momente im Fußball, die sind für die Ewigkeit. Die meisten davon sind Tore, wie das 3:2 gegen Malaga. Manche sind verhinderte Tore des Gegners, wie der gehaltene Elfmeter von Weidenfeller gegen Robben. Manche sind Tore auf einem anderen Platz, wie das 1:0 von Köln. Die seltensten sind keines davon, doch es gibt sie.
Es ist Mitte der zweiten Halbzeit im Wembley Stadion in London. Im Champions League Finale (Wahnsinn!). Nach den ersten paar Minuten des Anpassens an die Situation, das fast unbekannte Stadion, die deutlich andere Akustik, hat die BVB-Kurve zu diesem Zeitpunkt bereits alles abgerissen, was man sprichwörtlich abreißen kann. Ich schaue mich voller Gänsehaut um, weil wirklich der ganze Oberrang (den Unterrang kann ich aus meiner Position nicht gut sehen, der dürfte aber auch nicht anders aussehen) bis zum letzten Platz an der Mittellinie mithüpft. JEDER. EINZELNE.
Auch wenn es noch mehr Leute verdient gehabt hätten dabei zu sein, ist in diesem Moment klar, dass jeder der heute hier im Stadion steht hier zurecht steht.
Anders als 2013 sitzt nicht jemand gähnend kurz vor Spielbeginn neben mir mit einem gelangweilten Kind auf dem Schoß Nägel zu feilen. Es sitzt überhaupt keiner neben mir, weil jede einzelne Person in gelb steht.
Die unglaubliche Kraft, Macht, Energie des Westfalenstadions ist hier im Wembley, weil das Westfalenstadion hier ist. Und auch das Gespür für die Notwendigkeiten eines bestimmten Moments, das kein anderes Stadion in dieser Weise besitzt, ist mit nach London gekommen.
Es läuft die 67. oder 68. Minute, die Mannschaft ruft hier alles ab, was sie kann. Es ist eine Travestie, dass sie nicht längst und deutlich führt. Es ist der Moment, indem etwas passieren muss. Wir zusammen für den Titel! Der Vorsänger stimmt einen Wechselgesang an.
Ich mag Wechselgesänge, aber der letze Wechselgesang, an den ich mich bewusst erinnere war 2012 bei den Amateuren in Wuppertal. Weil er laut war. Sehr laut. Und Spaß gemacht hat. Aber auch irgendwie aus Langeweile entstanden ist. Im Westfalenstadion sind Wechselgesänge kurz und stark und voller Energie und animieren Leute zum mitmachen, danach sind sie aber auch wieder vergessen. Sie beginnen laut und schwächen sich dann langsam ab.
In dieser 67. Minute hingegen beginnt es fast zögerlich, zumindest im Vergleich zu dem was noch kommen würde. Dann wird es immer lauter. Wir singen von unten. BVB! Es schallt von oben lauter zurück. BVB! Wir lauter: BVB! Von oben noch lauter: BVB! Nach dem fünften Mal hab ich Gänsehaut, weil dieser Gesang wie eine Naturgewalt rollt, sich verstärkt. Noch ein paar mehr: BVB! Lauter. BVB! Noch lauter. Die aufstehenden Härchen auf den Armen vibrieren, an der Spitze berühren sie sich, bilden eine elektrische Spannung, die den ganzen Arm zum kribbeln bringt. Ich schaue einen Moment verwirrt auf meinen Arm, dieses Gefühl der Elektrizität ist anders als alles, was ich bisher erlebt habe. Ich spüre den Schall. Noch immer wird es lauter: BVB! Ich stehe auf den Zehenspitzen, wenn wir schreien, Schienbeine am Vordersitz, zehnmal grösser als ich eigentlich bin. BVB! Von oben kommt wie ein Wasserfall das nächste BVB. Die heißen Schauer gehen nicht über den Rücken, sondern kommen mit dem Geräusch von hinten in den Körper und treten durch das Herz wieder aus der Brust aus. Ich kann mich nicht erinnern jemals einen Gesang physisch gespürt zu haben bis zu diesem Moment. Welle um Welle geht durch meinen Körper, immer und immer wieder, für eine gefühlte Ewigkeit, und noch immer wird es jedes Mal lauter. Das elektrische Feld auf meinen Armen hat sich längst im ganzen Körper ausgebreitet. BVB! BVB! BVB!
Als der längste, lauteste Wechselgesang der Welt irgendwann sein Ende findet zittere ich am ganzen Körper und weine fast. Der Puls ist bei 147. Ich huste.
Keine 10 Minuten später ist das Spiel entschieden, doch dieser eine Moment ist für immer in meinem Gedächtnis.
Er ist da zusammen mit dem Blick zum Linienrichter nach dem 3:2 gegen Málaga und dem zögerlich ängstlichen, dann schockieren Gesicht in das ich sah als er realisierte, dass er den Moment zum Fahne heben verpasst hatte und dieses warme Gefühl in meinem Bauch, das schnell hoch stieg als ich die Bedeutung dessen realisierte und mich so explodieren ließ, dass ich durch den Plastikstuhl gesackt bin.
Er ist da zusammen mit dem Torjubel als Petric den Ausgleich schoss und ich, von meiner zerplatzten Banane aufgefangen, am Boden lag und einen Menschen im Olympiastadion wörtlich über mich drüber fliegen sah, in der Luft hängend, ehe er zwei Reihen weiter unten landete.
Er ist da zusammen mit dem ohrenbetäubenden Aufschrei nach dem 1:0 für Köln, die weichen Knie und die nie enden wollende Hüpferei die danach folgte mit diesem unendlichen Kribbeln im Bauch, das wochenlang nicht endete. Es ist ein ganz persönlicher Moment für meine Ewigkeit, der nicht in den Statistiken und in den Geschichtsbüchern erscheint, aber für immer bei mir sein wird.
Dieser Moment ist der Grund, warum ich nicht mit einem komplett gebrochenen Herzen aus London zurück kam.