Durch Kinderaugen
Julian ist 10 Jahre alt. Er ist ein schüchterner Junge, sehr lehrbegierig und an allem interessiert, aber keinesfalls auffällig. Fußball ist in seinem Leben eher ein kleiner Teil, auch wenn er sich natürlich dafür interessiert. Er mag die Bayern, weil sie immer gewinnen und seit ein paar Jahren mag er auch den BVB, weil seine Lieblingsnachbarn BVB-Fan sind. Und genau diese haben ihn jetzt eingeladen. Ins Stadion. Zum BVB.
Die ganze Nacht konnte Julian kaum schlafen, so aufgeregt war er. Und auch ein bisschen nervös, weil er keine Ahnung hat, was ihn erwarten würde.
Früh am Morgen weckt er seinen Papa mit der Frage, was er anziehen soll und wann es denn endlich, endlich losgehen würde. Der Papa schaut ihn liebevoll an, denn er sieht diese jugendliche Begeisterung, die ihn an seine eigene Kindheit erinnert. An seine ersten Erlebnisse im Stadion, sein erstes Konzert, das erste Mal im Kino, die Begeisterungsfähigkeit, die er damals hatte und wie alle Erwachsenen irgendwann ein bisschen verloren hat. Sie bei seinem Sohn zu sehen, bringt sie zurück. Er erklärt Julian zum gefühlt hundertsten Mal, was gleich passieren wird, dass er sich keine Sorgen machen muss, dass sie den ganzen Tag zusammen sind und er jederzeit sagen kann, wenn ihm was zu viel wird. Er hilft Julian, die Sachen rauszusuchen. Natürlich müssen sie schwarz-gelb sein, aber auch warm, denn es ist nicht mehr so angenehm, es ist bereits Ende Oktober. Und auf gar keinen Fall etwas Rotes, denn der heutige Gegner Stuttgart trägt rot-weiß.
Wie verabredet kommen dann auch schon die Nachbarn und es geht los! Ab ins Auto, nach Dortmund. Je näher sie dem Ziel kommen, umso aufgeregter wird Julian. Er rutscht auf seinem Sitz hin und her, schaut aus dem Fenster, zu seinem Papa, zum Nachbarn nach vorne und wieder aus dem Fenster. DA! Die Pylonen vom Stadion tauchen am Horizont auf. „Das Stadion!“, ruft Julian begeistert, „da vorne ist es!“. Die Nachbarn lachen fröhlich, im Hinterkopf das Gefühl, als sie selbst zum ersten Mal diese Pylonen gesehen haben. Das Gefühl, sie das erste Mal zur neuen Saison oder nach der Winterpause zu sehen. Es ist für sie nachhause kommen. Für Julian hingegen ist alles neu: der Parkplatz, die Dortmunder Innenstadt, der Fanshop. Etwas unsicher steht er vor der großen Auswahl an Fanartikeln. Ein Trikot muss es sein, natürlich, dazu ein Schal – denn der Schal ist das wichtigste Utensil eines Fußballfans, wie ihm sein Vater erklärt. Der wird hochgehalten, geschwenkt, manchmal sogar vor Freude hochgeworfen. Der Schal macht das Stadion schwarz-gelb. Und das Trikot. Mit seinem Namen hinten drauf und der Nummer 9. Die 9 ist seine Lieblingszahl – und sie steht für den BVB – und für den Mittelstürmer, den Julian am allerliebsten mag. Dazu natürlich noch eine Mütze gegen die Kälte und eine schwarz-gelbe Maske für die U-Bahn. Das sagt zumindest die Nachbarin, denn sie hat ihre zu Hause vergessen. Julian ist ein netter Junge, er denkt auch an seine Schwester und will ihr von seinem eigenen Geld einen Schlüsselanhänger kaufen. Doch Papa sagt, dass er das übernimmt.
Julian ist hungrig geworden und der Papa und der Nachbar möchten gerne ein Bier. Zu viert setzen sie sich am Markt in ein Restaurant und Julian darf eine Cola bestellen – und eine Currywurst! Die Erwachsenen genießen ihre Getränke und die Aussicht auf den schwarz-gelben Markt, doch Julian beginnt immer nervöser auf seinem Sitz rumzurutschen, er will endlich los! Zu Fuß gehen sie zum Stadion, dann müssen die Erwachsenen in der roten Erde schon wieder ein Bier nehmen, gleich neben dem Stadion! Julian will einfach nur rein, doch so schnell lassen sich sein Papa und der Nachbar nicht von dem Bier weglocken. Endlich schreitet die Nachbarin ein, sie will auch rein, die Warterei hat lange genug gedauert.
Dann steht Julian vor den Toren des Stadions. Er schaut hoch, doch die Mauern scheinen nicht zu enden. Und ganz oben, im grau bedeckten Himmel, strahlen die gelben Pylonen. So viel größer, als Julian sie sich ausgemalt hat. Sie gehen an der Nordtribüne rein und als Erstes zeigt der Nachbar ihm den Blick auf die Südtribüne. Dort werden sie gleich stehen, mitten drin. Halb hüpfend, halb rennend geht Julian den Weg unter der Westtribüne entlang. Augenrollend sieht er, wie sein Papa und der Nachbar schon wieder vor dem Bierstand stehen, wenigstens darf er auch nochmal ne Cola haben, ehe es endlich, endlich auf die Südtribüne geht. Er geht die Treppe hoch und da ist es: wie versteinert bleibt Julian stehen und schaut mit weit offenen Augen und weit offenem Mund auf das, was er vor sich sieht. So groß, so voll, so laut, die Eindrücke prasseln auf ihn rein, kaum möglich alles zu verarbeiten. Die Nachbarn und sein Papa führen ihn zu den Plätzen. Wegen des ganzen Biertrinkens sind sie nicht mehr so früh, es sind schon viele Leute da, doch der Weg zum Platz ist noch frei. Sie stellen sich hinter die Trommler und Julian darf, weil er noch ziemlich klein ist, ganz vorne stehen.
Die Mannschaft kommt zum Aufwärmen rein und zum ersten Mal wird das Stadion laut und Julian schaut begeistert um sich. Etwas später fragt die nette Trommlerin, ob er noch etwas näher bei ihr stehen möchte, damit er das Spiel besser sieht. Er schaut sich etwas schüchtern um, weil er doch lieber nicht zu weit weg von seinem Papa sein möchte, doch der lacht ihm aufmunternd zu und auch die Nachbarn stehen gleich hinter ihm, also traut er sich noch einen Schritt runter.
Mittlerweile ist der Block sehr voll, doch Julian hat gut Platz dort zwischen den Trommlern und er kann alles sehen. Und dann geht es los: You’ll never walk alone, der Einlauf der Mannschaft, Heja BVB und der Anpfiff. Die Eindrücke sind etwas viel, Julian hat keine Ahnung, wohin er zuerst schauen soll. Dann geht das Spiel los und bevor er seine Augen aufs Spielfeld wenden konnte, jubelt schon alles um ihn herum. Tatsächlich hat der BVB nach weniger als zwei Minuten bereits das erste Tor geschossen. Um ihn herum fliegt Bier durch die Luft, Menschen liegen sich in den Armen, doch Julian steht sicher. Er hüpft wie ein Gummiball auf und ab: „TOOOOOOOOR!“, schreit er in die Welt. Die Fans beginnen jetzt auch zu hüpfen und Julian macht mit, er schwenkt seinen Schal, wie sein Vater ihm gesagt hat und die Menschen um ihn herum es vormachen. Er singt mit, auch wenn er keines der Lieder wirklich kennt, das macht ihm nichts aus. Die Feierei vom ersten Tor ist noch nicht vorbei, da liegt der Ball zum zweiten Mal im Stuttgarter Tor. Immer wieder schaut Julian mit offenem Mund um sich herum und ab und zu auch mit etwas schüchternen Augen zu seinem Papa, der sich auch mitreißen lässt und mittlerweile ganz selbstverständlich mit hüpft und singt. Kurz vor der Pause gibt es das nächste Tor, wieder liegen sich die Leute in den Armen. Ein fremder Mann hebt ihn kurz hoch, dreht sich einmal um die eigene Achse und setzt ihn wieder hin. Julian weiß nicht genau, ob er das gut findet, weil er den Mann nicht kennt, aber es hat sich irgendwie toll angefühlt, wie er seine Freude mit ihm geteilt hat.
In der Halbzeit beruhigt sich alles ein wenig, manche Leute finden sogar Platz sich hinzusetzen. Doch kaum hat er sich etwas beruhigt, geht es auch schon weiter. Der Nachbar kommt mit mehr Bier und einer Bratwurst für Julian, das ist toll. Schnell isst er sie auf, damit er zum Beginn der zweiten Halbzeit wieder Zeit hat, mitzusingen und zu hüpfen.
Auch in der zweiten Halbzeit geht es weiter wie in der ersten, das nächste Tor lässt nicht lange auf sich warten. Wieder hüpft Julian mit allen Leuten um ihn herum mit. Er umarmt sogar den fremden Mann, weil er sich so freut! Und dann fragt die nette Trommlerin, ob er mal mit trommeln mag. Julian strahlt über das ganze Gesicht. Oh ja, das möchte er sehr gerne. Sie zeigt ihm wie und er schlägt im Rhythmus der Fangesänge auf die Trommel ein und strahlt dabei wie ein Honigkuchenpferd über beide Backen. Als das letzte Tor des Tages fällt, ist Julian bereits in einem Zuckerkoma der Emotionen. Wie auf Wolken feiert er mit seinem Papa, den Nachbarn, dem fremden Mann und der Trommlerin die Mannschaft nach dem Spiel und schwebt dann aus dem Stadion. Den Rest des Tages, beim Italiener, wo sie noch essen, im Auto zurück, beim Milchshake von MacDonalds und abends im Bett mit seinem neuen Schal, verbringt Julian in Glückseligkeit und am nächsten Morgen erwacht er mit einem Lächeln. Bayern? Wer ist eigentlich Bayern? Julian ist BVB-Fan!
Alle Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig und der Tatsache geschuldet, dass Kinderaugen die Wahrheit besser sehen.