Alte Liebe
Die fast leere Straßenbahn hatte außer ihm niemanden mehr ausgespuckt, als er in der Dämmerung und dem Nieselregen an der Haltestelle die Bahn verlassen hatte und sich auf den Weg Richtung Osterdeich und Stadion machte.
Während seines Weges zwischen den Häusern und den jetzt geschlossene, Kneipen und den vielen Tags an den Häusern und all den anderen Anzeichen, die deutlich machten, dass hier absolutes Werder-Territorium ist, versuchte er sich an all die Spiele zu erinnern, die er zwischen dem SVW und dem BVB erlebt hatte und wie oft er und seine Verbindungen geholfen hatte, seinem Verein den Sieg zu bringen.
Alles hatte irgendwie, zumindest für ihn, begonnen im Jahr 1989 als er live dabei war, als beide Mannschaften im Olympiastadion Berlin aufeinandergetroffen waren, um den DFB-Pokalsieger zu ermitteln. Was hatte er sich gefreut, als es einem Verein (und seinem persönlichen Helden) gelungen war, dem favorisierten SVW ein Bein zu stellen. Viel mehr Erinnerungen hatte er aber an den Tag nicht mehr. Leise spuckte er einen Fluch auf diese verwunschene Berliner Weisse aus. Anders konnte sein Erinnerungsverlust an die folgenden Stunden nicht zu erklären sein.
Und auch an all die anderen Aufeinandertreffen hatte er nur bruchstückhafte Erinnerungen.
Aber den Auftrag, den er gestern von seiner Kontaktfrau erhalten hatte, an den erinnerte er sich bestens. Es war für ihn ja schon fast Routine geworden, die Informationen weiterzugeben, die seinem Verein den Sieg bringen sollten. Egal, ob das Spiel nun in Bremen oder wie jetzt in Dortmund stattfand. Bei dem Gedanken spürte er einen leichten Stich in der Herzgegend. Aber er wusste, dass er nie wieder ein Stadion von innen würde sehen können. Und wo ihm die eindringenden Worte wieder in Erinnerung kamen, schaute er sich noch einmal vorsichtig um. Aber außer ihm war in er Abenddämmerung hier niemand zu sehen. Entfernt hörte er eine Tür schlagen, aber das konnte ja, so war er sich sicher, alles und nichts sein. Vorsichtig tastete er nach dem Umschlag und dem anderen Gegenstand, den er in der linken Tasche seiner Jacke bei sich trug. Beides war noch an dem Ort, den er in seiner Wohnung für sie bestimmt hatte.
So allmählich war der Osterdeich in Sicht gekommen und auch das Stadion war nun deutlich sichtbar.
Nun rief er sich wieder die Worte von gestern Abend in Erinnerung und blickte auf seine Uhr. Sein Smartphone hatte er, so paranoisch war dann doch, zu Haus gelassen. Er war pünktlich. In fünf Minuten sollte er den Umschlag an eine bestimmte Person am Gästeeingang des Stadions übergeben. Er beschleunigte seinen Schritt etwas, um nicht zu spät zu kommen. Denn für die verbleibende Zeit von fünf Minuten war der Weg dann doch für einen gemütlichen Gang etwas zu weit. Allerdings nicht zu sehr, denn Aufmerksamkeit wollte er auf keinen Fall erregen.
Drei Minuten später erreichte er das Stadionvorfeld und suchte sich dort Deckung, um nicht sofort allen aufzufallen. Er hielt inne und hielt Ausschau, so gut wie das in der hereinbrechenden Dunkelheit noch möglich war. Es war still. Nur die Weser, das Brummen der Geräte im Stadion und ein paar Vögel waren zu hören. Ansonsten nichts.
Dennoch zog er seinen Hut weiter ins Gesicht und zog die Jacke bis obenhin zu. Neunzig Sekunden später trat er aus seiner Deckung und bewegte sich vorsichtig zum genannten Eingang. Andere Menschen um sich oder in seiner Nähe hatte er noch immer nicht bemerkt. Er griff nach dem Umschlag. Doch dann spürte er eine Hand an seinem Arm und zog seine Hand wieder zurück. Er erstarrte und wagte kaum zu atmen. Er spürte, wie die Hand in die Tasche griff und zuerst den anderen Gegenstand ergriff, diesen wieder losließ und dann den Umschlag ergriff und ihn aus seiner Tasche zog.
Jemand flüsterte in sein Ohr: „Hervorragende Arbeit. Warte zwei Minuten und dann verschwinde hier. Suche nicht nach mir.“
Leise zählte er die 120 Sekunden hoch. Noch immer wagte er sich nicht zu bewegen. Schritte hatte er aber noch immer nicht gehört. Wie zum Teufel war das nur möglich?
Endlich hatte er die 120 Sekunden hochgezählt. Tief sog er die feuchte Luft ein und bewegte sich wieder in die Richtung, aus der er gekommen war. Als er im Schatten der Bäume angekommen war, die den Weg säumten, griff er in die Tasche und holte den zweiten Gegenstand hervor.
Ein alter Aufnäher, wie er früher auf Kutten genäht worden war. Das, was er jetzt in der Hand hielt, war der Rest seiner Kutte, die er lange Jahre mit Stolz getragen hatte. Er hob den Aufnäher zum Mund und küsste ihn.
Er trug das BVB Logo.