Wenn ein ausverkauftes Haus kein Selbstläufer mehr ist
Nicht nur bei Borussia Dortmund läuft der Ticketverkauf äußerst schleppend. Die Gründe hierfür sind vielfältig.
Die Corona-Pandemie hat zweifelsohne zu einem harten Cut im Fußball geführt – zumindest was die Fans betrifft. 545 Tage ist es her, dass das Westfalenstadion 81.365 Zuschauer auf den Rängen zählen konnte. Damals gewann der BVB wenig spektakulär – aber immerhin! – mit einem 1:0-Treffer von Jadon Sancho gegen den SC Freiburg. Nach einem letzten Auswärtsspiel in Mönchengladbach mussten sich die Fans vorerst vom Gedanken an einen Stadionbesuch verabschieden. Die Ansteckungsgefahr machte dies unmöglich.
Während zu Beginn der letzten Saison temporär nur eine geringe Anzahl von Fans ins Stadion durfte, sofern die regionalen Bedingungen es zuließen, kehren die Anhänger in dieser Saison bundesweit vermehrt an ihre „angestammten“ Plätze zurück.
Jahrelang hatte der Verein ein Luxusproblem, auf dem er sich bequem ausruhen konnte. Tickets fanden händeringende Abnehmer: Wer weder Dauerkarte noch Fanclubkontingent hatte und nach Atomuhr um Punkt 8:00 Uhr nicht an der Tickethotline durchkam, konnte es eigentlich auch direkt sein lassen. Nach anderthalb Jahren Pandemie inkl. Zwangsentzug zeichnet sich jedoch ein ganz anderes Bild ab: Die 25.000 möglichen Karten wird der BVB tagelang nicht los und muss sie, nachdem viele Dauerkarteninhaber (der BVB hat rund 55.000) und Vereinsmitglieder (rund 154.000) ihre Chance auf ein Ticket ungenutzt verstreichen ließen, mit dem Aufruf „Wir brauchen EUCH!“ in den freien Verkauf schicken.
Dabei ist das kein exklusives BVB-Problem – auch bei anderen Bundesliga-Vereinen läuft der Vorverkauf eher schleppend. Hat sich hier eine Fußballmüdigkeit eingeschlichen? Die Gründe sind vielfältig.
Sucht man eine naheliegende, recht simple „Ausrede“, so könnte man für das Auftaktspiel gegen Frankfurt noch die Sommerferien in NRW anführen, die bei einigen Anhängern zu terminlichen Unstimmigkeiten geführt haben könnten. Doch unterhält man sich mit Bekannten, die man früher bei jedem Spiel im Stadion angetroffen hat, so stößt man auf einige tiefgreifendere Argumente:
Entfremdung vom Profifußball
Zum einen ist da die Entfremdung der Fans – eine schleichende Entwicklung, die bereits weit vor der Pandemie Einzug in die Stadien erhalten hat und über die ich im Dezember 2020 ausführlicher schrieb:
„Egal ob Kommerzialisierung, Ticketpreise, Eventisierung, Katar, Super League, Montagsspiele, VAR, Red Bull oder Dietmar Hopp: Es mangelt nicht an fanpolitischen Themen, die den Fans vereinsübergreifend bereits seit vielen Jahren ein Dorn im Auge sind und gegen die sie sich mit viel Engagement seit jeher einsetzen, um den Volkssport zu schützen, dem sie sich schon in jungen Jahren verschrieben haben. Der Fußball verändert sich, und das nicht zum Guten. Stattdessen entfernt er sich immer mehr von denjenigen, die ihm seine Bedeutung verleihen. Denn Fußball ohne Fans ist nichts.“
Durch den coronabedingten Zwangsentzug haben einige auch gemerkt: Ein Leben ohne ein bis zwei (oder gar mehr) Stadionbesuche pro Woche ist möglich – und sinnvoll. Andere Aspekte wie Familie, Freunde und Hobbies nehmen einen höheren Stellenwert ein. Zeit ist ein kostbares Gut, das man dann vielleicht nicht mehr an einen Profifußball „verschwenden“ möchte, der Fans lediglich als Kunden definiert. Dabei dient auch die leidenschaftliche Stimmung der aktiven Fanszenen gerne als Verkaufsargument auf dem internationalen Markt.
Alle oder Keiner
Zum anderen ist weiterhin kein Normalbetrieb möglich, so muss man auch auf die sich über Jahre und Jahrzehnte entwickelten Strukturen verzichten. Viele treffen sich normalerweise mit größeren Gruppen im Stadion, die nun auseinandergerissen werden. Gleichzeitig müssen regelmäßige Stadiongänger ihren Stammplatz räumen und teilweise für einen Stadionbesuch draufzahlen. Wer also sonst für weniger als 20 € auf der Süd stand, sitzt jetzt ggf. für bis zu 47€ unterm Dach (im Unterrang sogar für 57€) auf West-, Nord- oder Osttribüne – ohne das bekannte Umfeld aus Freunden und Bekannten.
Corona weiterhin ein Faktor
Auch die Pandemie spielt natürlich eine Rolle und sorgt bei einigen für Unsicherheiten. So will man vielleicht erstmal absehen und Erfahrungswerte sammeln, ob die Maßnahmen in der Bundesliga reibungslos funktionieren. Manche sind weiterhin vorsichtig, was das Infektionsrisiko auf Großveranstaltungen angeht – auch mit 3G- bzw. 2G-Regelung. Und da sind wir auch schon beim nächsten Punkt: Der BVB stellt 1.000 Karten für Kinder ab 6 Jahren und Jugendliche bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres sowie für Schwangere zur Verfügung – diese müssen einen negativen Test vorweisen. Alle anderen Tickets sind ausnahmslos Geimpften und Genesenen vorbehalten – wer sich trotz Möglichkeit also nicht impfen lassen möchte, muss draußen bleiben. Und nein, liebe Querdenker und „Impfzwang“-Schreier, das ist keine Diskriminierung. Der BVB übt hier lediglich sein Hausrecht aus und schützt seine Anhänger vor möglichen Ansteckungen. Wie Ferdinand schrieb: „Diskriminierung ist es, wenn man Personen aufgrund unveränderlicher Eigenschaften schlechter behandelt als andere. Der Impfstatus ist aber kein unveränderliches Datum. Wer sich nicht impfen lässt, trifft eine freie Entscheidung – und muss es dann auch akzeptieren, dass Borussia Dortmund ebenso eine Entscheidung trifft.“
Auch wenn das Auftaktspiel mitreißend war, so folgte am zweiten Spieltag der jährliche Dämpfer – Tradition verpflichtet. Eine klassische Euphoriebremse, die auch nicht dafür sorgt, dass die „Massen“ ins Stadion strömen. Wenn irgendwann eine volle Auslastung wieder möglich sein wird, kehren dann wirklich alle, die bis Februar 2020 regelmäßig zum BVB gingen, ins Stadion zurück? Daran darf man getrost zweifeln. Je nachdem, wer dem Stadion auch in Zukunft fernbleiben wird und wie groß die Anzahl derer ist, wird sich die Fanszene und Stimmung auf den Rängen langfristig verändern.