Wenn wir (wieder) im Westfalenstadion stehen…
Bald ein Jahr ist es her, dass zum letzten Mal 80.000 Menschen im Westfalenstadion zusammenkamen, um einen Heimsieg des BVB zu sehen. Mit dem Impfstoff ist auch die Hoffnung verbunden, irgendwann wieder mit Freundinnen und Freunden auf der Südtribüne stehen zu können. Wie das wohl wird?
Ausfahrt Dortmund-Hombruch, zur Linken erheben sich die gelben Pylonen des Westfalenstadions, aber ich biege erstmal rechts ab. Wittekindstraße, durch den Tunnel, links aufs die Lindemannstraße, ab ins Kreuzviertel. Irgendwo zwischen Südwestfriedhof und Möllerbrücke findet sich ein Parkplatz. Der erste Weg führt Richtung Westpark, Freunde wiedersehen. Zur Begrüßung kein leichtes Ellenbogen-Touchieren, sondern ein kräftiges Händeklatschen, eine feste Umarmung. Weiter geht’s auf die Hohe Straße, bei Zorbas einen Taxi-Teller essen, beim Kiosk nebenan ein Kronen kaufen. Dann weiter Richtung Stadion. Die Kneipen und Restaurants sind gefüllt, die Vorfreude ist greifbar. Entlang des Weges: ein Kopfnicken und Händeschütteln hier, ein „na, auch wieder da?“ dort.
Rückblick: Als Jadon Sancho am 29. Februar 2020 gegen 15.45 Uhr den Ball zum 1:0-Siegtreffer ins Freiburger Tor schießt, ahnen von den 81.365 im Westfalenstadion nur die Wenigsten, dass dieses Tor das letzte für lange Zeit sein wird, das von vollen Rängen bejubelt wird. Wenige Wochen später wird der Spielbetrieb gestoppt, seither hat Corona die Welt im Griff. Und auch wenn der Profifußball es natürlich geschafft hat, irgendwie den Spielbetrieb wiederaufzunehmen und das Geschäft so gut wie eben möglich weiterzuführen – von Normalität kann keine Rede sein. Ohne Fans auf den Rängen fehlt dem Fußball die Seele. Ohne Fans auf den Rängen ist Fußball nur ein Sport.
Am Tag der Rückkehr überqueren wir die Brücke über die B1, gehen an den Westfalenhallen vorbei, betreten zum ersten Mal wieder den Biergarten Rote Erde. Die Getränkestände haben geöffnet und sind hochfrequentiert, die Bratwurst ist immer noch die Beste rund ums Westfalenstadion. Andere haben sich in die Flora begeben, wieder andere zum Reitstall oder ins Schwimmbad. Gespräche hier, Umarmungen dort.
Die Corona-Pandemie stellt das soziale Miteinander auf eine außergewöhnliche Probe. Auch Freundschaften droht die Entfremdung, wenn man sich über Monate nur virtuell oder sogar gar nicht sieht. Fußball-Freundschaften sind in dieser Zeit besonders fragil. Manche dieser Freundschaften basierten über Jahre darauf, alle x Tage gemeinsam in einem x-beliebigen Fußballstadion zu stehen und zwischen Bratwurst, Bier und Borussia über das Leben zu diskutieren. Natürlich gibt es genügend Beispiele, wo derartige Freundschaften sich weiterentwickelt haben, aber auch dann bleibt der gemeinsame Stadionbesuch ein verbindendes Element, ein wichtiger Bestandteil der freundschaftlichen Beziehung. Darüber hinaus beschert uns der Besuch beim Fußball ein Miteinander, wie es außerhalb der Fußballwelt kaum noch zustande kommt. So viele Menschen außerhalb meiner eigentlichen Lebenswelt habe ich beim Fußball kennen gelernt und durch sie einen wertvollen Blick über den Tellerrand erhalten. Diese Kontakte fehlen genauso wie manch Freundschaft, die in letzter Zeit gelitten hat.
Schon bald aber hat die Leidenszeit ein Ende; die Sonne scheint über der Roten Erde, nebenan im Westfalenstadion füllt sich langsam die Südtribüne. Zaunfahnen werden aufgehängt, die Mikrofonanlage der Vorsänger angeschlossen, die ankommende Gästemannschaft ausgepfiffen. Irgendwann gehen auch wir Richtung Einlass. Kurzes Gedränge vor den Drehkreuzen, freundliches Nicken der Ordner, der Karten-Scanner piept. Ein kurzer Fußmarsch entlang der Westtribüne, ein kurzer Stopp beim mobilen Bierverkäufer, die Karte am Blockeingang vorzeigen und dann betreten wir endlich wieder die Tribüne. Die Sorge, der Ärger, die Sehnsucht und der Frust der letzten Monate sind für den Moment vergessen.
Seit dem ersten Lockdown im Frühjahr 2020 wird eifrig debattiert, wie stark die Loyalität der Fans zu ihrem Verein und zum Fußball im Allgemeinen in der Pandemie leidet. Die Klubs sorgen sich um Ticketkäufer, die TV-Sender um Abonnenten, die Verbände um Sponsoren. Wie viele andere, habe auch ich in den letzten Monaten längst nicht mehr jedes BVB-Spiel verfolgt, ist auch mir Fußball abseits des BVB noch ein Stück egaler geworden. Länderspiele gucke ich seit Jahren nicht mehr, auch Spiele anderer Klubs – egal ob Champions-League oder Bundesliga – sind für mich mittlerweile nahezu bedeutungslos. Der Fußball macht sich zurecht Sorgen. Ohne Stadionbesuch nimmt das Fansein Schaden. Auf jedwede Extravaganz des Profi-Fußballlagers, jedes populistische Gerede, jedes gebrochene Versprechen, jede weitere Fehlentwicklung reagiert Fan sensibler. Der regelmäßige Stadionbesuch als Ausgleich zu diesen Abgründen des Fußballs fehlt. Weil wir aber nun mal alle irgendwann ein Stück unseres Herzens an Borussia Dortmund verloren haben und weil Borussia Dortmund nun mal Fußball spielt, verfolgen wir dann aber doch, wie die Show weitergeht. Noch.
Auf der Südtribüne rückt der Anpfiff näher, dicht gedrängt stehen wir im Kreise derer, mit denen wir schon vor der Pandemie im Block zusammenstanden. Irgendwann werden die ersten Lieder angestimmt, die Vorsänger richten ihre ersten Worte an die Tribüne. Euphorie und Energie stellen selbst die Stimmung vor den ganz großen Spielen der Vor-Pandemie-Zeit in den Schatten. Endlich wieder Westfalenstadion. Endlich wieder Südtribüne. Endlich wieder Fußball ohne Distanz, ohne Bildschirm und ohne Emotionsbremse. Endlich wieder schreien, pöbeln, jubeln und fluchen ohne das die Nachbarn einen für bescheuert halten. Hier schreien, pöbeln, jubeln und fluchen wir gemeinsam mit dem Nachbar.
Geht es nach manchem Politiker und Fußballfunktionär, stünde zumindest der Pöbel-Aspekt mittlerweile auf dem Verhaltens-Index. Die Dietmar-Hopp-Geste-des-Jahres ließ einen noch vor Pandemie-Beginn den Kopf schütteln. Kurz nach Schließung der Tribünen folgte dann in NRW die sogenannte „Stadion-Allianz“, die bei vermeintlichen Beschimpfungen von den Rängen eine sofortige Distanzierung des Klubs von den eigenen Anhängern vorsieht. Vorbei an allen angeblich vertrauensvollen Gesprächspartnern und sogar den eigenen Mitarbeitern für Fanbelange, wurde diese „Allianz“ zwischen Vereinsführungen und Innenministerium geschlossen, um Minister Reul in seinem überflüssigen Populismus gegen Fußballfans zu unterstützen. Dass später noch die DFL trotz der offenkundigen systematischen Ungerechtigkeit und trotz aller großspurigen Ankündigungen, im Fußball „etwas ändern“ zu wollen, die TV-Geld-Verteilung nur minimalst anpasste, ist kaum verwunderlich. Genauso wenig, wie das Gebaren der großen Fußballverbände, die trotz Pandemie auf bedeutungslose Wettbewerbe wie die Nations-League oder die Klub-Weltmeisterschaft bestehen.
Doch am Tag der Rückkehr geht es nicht um FIFA, UEFA oder DFB, nicht um Sky oder Dazn, um TV-Geld-Verteilung oder Super-Ligen. Auch nicht um Fantokens oder Sicherheits-Populismus. Es geht auch nur sekundär um Harm Osmers oder Manuel Gräfe, Julian Brandt oder Jadon Sancho. Auf Fußball als Sport und die Absurditäten abseits des Platzes konnte man sich lange genug fokussieren. An diesem Tag geht es um uns. Es geht um das Zusammensein, um das Frönen der gemeinsamen Leidenschaft. Um das Ausmaß der Hingabe und Emotion, die ein Fußballspiel nur durch Fans auf den Tribünen erreicht.
An diesem Tag ist der Gegner auf Rasen und Tribüne egal. Das Ergebnis eigentlich auch. Bei einem Sieg wird gemeinsam im Kreuzviertel gefeiert, bei einer Niederlage gemeinsam geflucht. Bei einem Unentschieden irgendwas von beidem.
Es wird ein guter Tag.