Der Fußball taugt nicht mehr
Lange ist es still um Dietfried Dembowski, den mehrfachen Ermittler des Jahres. Doch für das Dembo-Derby zieht er seinen alten Mantel noch einmal an, fährt in die Stadt und erlebt schreckliche Dinge bei dem 3:2 der Hertha über den BVB. Dembowski trifft eine dramatische Entscheidung.
Justin Hagenberg-Scholz zog sich seine Kutte über. Er hatte sie günstig im Internet geschossen und war heute endlich einmal BVB-Fan. Rüber ins Westend. Olympiastadion. Einer von 200. Er kam sich vor wie ein alter Kämpfer, er war bereit Geschichten zu erleben, die niemand vor ihm erlebt hatte und von denen er Berenice später berichten konnte. Die verstand das nicht und so hatte er Wu seine zweite Kutte überlassen. Sie sahen herrlich aus. Auf ihrem Weg stiegen sie an jeder S-Bahn-Station aus, hielten einen kurzen Plausch mit den Späti-Besitzern, holten sich einen Spruch ab, denn hier war jeder für die Hertha und trafen vor dem Tor des Stadions endlich auf den Ermittler. Sie hatten ihn lange nicht mehr gesehen.
Dembowski war erst den Abend vorher von der Farm zurück in die Stadt gekommen. Der Ermittler hatte sich komplett aus dem Geschäft zurückgezogen. Gemeinsam mit Dörte hatte er die letzten Monate ein paar Kraniche über den Sommer gebracht und sie erst kürzlich tränenreich in Richtung Süden verabschiedet. Sie waren ihm ans Herz gewachsen, so wie Koi. Er hatte ihn häufiger beim Gründeln beobachtet als die Spiele der Bundesliga verfolgt. Fußball war für ihn weit in den Hintergrund gerückt. Viel lieber hing er draußen an den Teichen rum. Er sah die Sonne irgendwo über der Oder aufgehen und später hinter den Schiffshebewerken verschwinden. Mehr musste er nicht wissen. "Die Welt", sagte Dembowski einmal zu Koi, wird sich immer weiterdrehen. Egal, was auch auf ihr passiert." Der Karpfen hatte ihn nur mit seinen glubschigen Augen angesehen und war tief hinab getaucht. "Dembo", dachte Koi, "muss endlich mal wieder raus."
Aber der Sommer war gekommen und gegangen, ohne dass etwas passiert war. So sehr der Fußball auch in Gefahr war, so sehr JHS und Hauke Schill ihn auch lockten, Dembowski hatte genug. "Der Fußball ist immer in Gefahr", schrieb er JHS in einer langen Mail: "Er war immer in Gefahr und wird immer in Gefahr sein. Daran wird sich nie etwas ändern. Wir, mein lieber Freund, waren lange genug Teil der Maschine. Zehn Jahre haben wir ermittelt und schau Dir an, was passiert ist. Nichts. Wir haben nichts erreicht. Auch Deine Vermessung des Fußballs hat am Ende nur zu noch mehr Ungerechtigkeiten geführt. Unter Wu hat sich auch die Internationalisierung der Liga erledigt. Sie ist gescheitert. Der Fußball ist schon lange gestorben, aber Koi, lieber JHS, der lebt noch. Wie auch meine Kraniche."
JHS hatte nicht aufgeben, ihm tägliche Presseschauen rübergeschickt, in Nachtarbeit lange Spielanalysen angefertigt und sich die größte Mühe gegeben. Doch Dembowski hatte es nicht interessiert. Alles, was er wollte, war nichts mehr mit dem DID zu tun zu haben. Das war ihm gelungen, bis Wu über dunkle Kanäle an die Karten für den Jahresabschluss gekommen war. "Okay", hatte Dembo, wie ihn seine Freunde nannten, geschrieben, "machen wir die Sache rund. Ich hab hier Hertha gegen die Blauen gesehen. Am 3. Januar. Mit Oczipka. Alle waren im Tasmania-Wahn, draußen hatten sogar deren Fans für den Erhalt des Rekords demonstriert. Komplett verrückt. Oczipka spielt jetzt bei Union, die Blauen sind weg und ob Greuther Fürth Tasmania jetzt den Rekord abluchst oder nicht, interessiert wirklich niemanden. Komme ich vorbei."
Borussia Dortmund verlor das Spiel. Und der DID hatte im Anschluss Gelegenheit, mit dem großen Ermittler zu sprechen. So wie früher.
Herr Dembowski. Sie waren im Berliner Olympiastadion?
Das ist korrekt. Das Dembo-Derby vor 5000 Anwesenden in dieser Betonschüssel vor den Toren der Stadt. Was wollen Sie von mir wissen? Das Ergebnis verrate ich Ihnen gerne. Hertha BSC schlägt Borussia mit 3:2. Zwar trifft Julian Brandt, zeigt aber ansonsten erneut eine erschreckende Leistung. Wie der Rest der Mannschaft auch. Zeit für die Winterpause. Sonst? Was wollen Sie wissen?
Erzählen Sie doch einfach mal.
Da gibt es nichts zu erzählen. Sie erinnern sich vielleicht. Dortmund erzielte irgendwann das 1:0. Julian Brandt. Irgendwo auf der anderen Seite vor der Ostkurve. Man sieht das ja so schlecht aus der Distanz und dann der VAR.
Der hat doch überhaupt nicht eingegriffen.
Aber niemand jubelte. Alle warteten auf den Anstoß. Irgendwer hinter mir sagte: "Ich jubel doch nicht vorher. Ich habe schon so oft vorher gejubelt. Und dann nichts" Und irgendwie fassen doch meine ersten drei Antworten alles zusammen. 5000 Anwesende, denen die Lust am Spiel mit jedem Treffer mehr vergeht, weil immer irgendwas sein kann. Da stehst Du da in diesem gottverlassenen Stadion in einer ohnehin schon beschissenen Zeit, willst eigentlich nur ein wenig Weltenflucht betreiben, mit den 90 Minuten schwimmen und am Ende ist da diese Technik, die auch noch die letzte Freude raubt.
Die Berliner haben doch gefeiert.
Sogar Windhorst. Das ist korrekt. Die haben Punkte geholt. Mit einer normalen Leistung, das war jetzt nicht außerordentliches. Sie haben das Fehlerspiel für sich entschieden. Sie haben die VAR-Widerstände überwunden und sprachen später vom "besten Spiel des Jahres". Was ich ihnen gönne. Sind doch bei einigen zur Lachnummer der Liga verkommen. Nicht ohne Grund, aber eben auch nur, wenn man nicht unter die Oberfläche schaut. Denn unter der Oberfläche des Größenwahns liegt eben eine alte Berliner Seele. Eine, die es sich irgendwie in der Realität eingerichtet hat und die in Stadt wirkt, sonst überall auf Ablehnung stößt, aber das ist eben auch der Hauptstadtangst der Deutschen geschuldet. Dort wohnen nur Versager und Hipster, heißt es.
Stimmt das denn?
Wollen wir jetzt darüber reden?
Nein. Das ist schon sehr langweilig. Was passiert denn jetzt mit dem BVB? Vier Punkte aus vier Spielen, alle Meisterträume sind ausgeträumt.
Tja. Das Szenario der vergangenen Saison hatte was. Abgestürzt auf Platz fünf, die Champions League kaum zu erreichen. Das Comeback mit dem alten Piszczek auf der rechten Seite, mit einer Mannschaft, die um etwas kämpfen musste, um etwas zu erreichen. Und die dann ja die Leipziger im Finale an die Wand spielte. Das war schön anzuschauen im Fernsehen. Gab einem etwas. Aber dann war es auch wieder weg. Denn es ist doch so: Was wir im Fernsehen sehen, berührt uns niemals so tief, wie etwas, was wir riechen, spüren und an dem wir in irgendeiner Form teilhaben. Erst hat man uns den Wettbewerb geraubt und dann die Erinnerungen. Alles, was während dieser Pandemie passiert, werden wir irgendwann vergessen haben. Wir werden uns daran erinnern, wie wir in sie hineingeschlittert sind und hoffentlich auch daran, wie es endete. Aber was dazwischen passierte?
Der BVB ist Pokalsieger. Das lässt sich auf jedem Briefkopf nachlesen.
Aber nicht in den Herzen. Dort ist das nicht verankert. Es ist ein TV-Event. Schnell konsumierbar und dann auch bald zu vergessen. In den letzten 20 Monaten sind wir Zeuge einer absoluten Entfremdung geworden. Die Fans müssen alles neu erlernen. Das bringt mich dann auch wieder zu dem Spiel.
Sie waren beim Spiel?
Bei der Niederlage im Olympiastadion. Haben wir doch drüber geredet. Da sind dann aber der 86. Minute unzählige Leute runter an den Graben. Mit ihren Pappschildern lungerten sie da rum. Es bestand ja durchaus noch die Möglichkeit, dass ein Ausgleich fällt. Aber die standen da und fixierten die Spieler, wollte nur an die Trikots. Was ist das für eine Welt? Ich bin dafür nicht mehr gemacht.
Hand aufs Herz: Ist Marco Rose beim BVB gescheitert, Herr Dembowski?
Müsste mal ins Archiv steigen. Aber gefühlt stellen Sie dieser Frage mit stets wechselnden Namen seit Sie mich belästigen.
Ist er gescheitert?
Gescheitert ist die Dortmunder Transferpolitik. Die absurderweise notwendig ist, um auf diesem hohen Plateau zu verhungern. Die vielen Spielern absurde Gehälter hinterherwirft und die Stagnation bedeutet. Ursprünglich wollte der BVB damit ran an die Superklubs. Jetzt geht es nur noch ums Überleben, wie diese Abenteurer, die sich früher auf den Nanga Parbat wagten, vom Wetter eingeholt wurden und sich entscheiden mussten. Hoch da und womöglich nie wieder runter da, zumindest nicht lebend. Oder auf der Basisstation bleiben, den Blick auf die Spitze genießen und es lieber doch nicht wagen. Das ist ja sogar ein vernünftiger Weg, aber einer, der keine Heldengeschichte mehr erzählt. Aber einer der Borussia Dortmund in den Schlagzeilen belässt, der aber den Verein im Prinzip zum Spielball der Berater macht. Die Abgänge werden immer nerviger. Haaland hier, Haaland da, Haaland überall. Unfassbar guter Spieler, aber auch mit einem Berater, der zunehmend in Panik gerät, weil niemand auf seine Forderungen eingehen kann. Weil die Pandemie immer mehr Geld aus dem Fußball zieht, und ja nur noch irgendwelche Schurken die Kohle reinstopfen und wenn es dann nicht zu einem Schurkenklub gehen kann, wird es schon eng.
Wohin wechselt Haaland?
Barcelona, Real, Bayern. Wer weiß das schon. Ich tippe auf Bayern.
Wieso das?
Weil die Welt dann brennt und wenn die Welt des Fußballs brennt, dann sind da wenigstens Emotionen.
Weil Sie das Spiel nicht lieben!
Das Spiel ist doch tot. Die Bundesliga taugt nicht mehr.
Die Pandemie schon. Neue Welle. Neues Variante. Neuer Lockdown.
Möchte ich nicht drüber reden. Ich geh zurück auf die Farm. Koi wartet.
Herr Dembowski, wir bedanken uns für das Gespräch.
Dafür nicht.
Wir saßen noch ein wenig beisammen. Hauke haut die Steinis raus. Wu tanzte mit JHS und Johan Rottenberg skizzierte auf einer Wand neue Stadionmodelle. "Ich habe gefurzt", sagte JHS mitten im Tanz. Stille. "Sagen, was ist", rief Hauke von hinter der Theke. Als es draußen dämmerte, hatte jeder wieder Position gezogen. Der Abschied nahte. Der Ermittler nahm einen großen Schluck Schulle, rückte sich seinen Mantel zurecht und schleppte sich langsam in Richtung Tür. Schill rief ihm ein paar Abschiedsworte nach, JHS beugte sich über seinen Laptop, deutete verzweifelt auf die Expected Points. "Wir sind im Erwartungskorridor", flehte er und wusste, dass es sinnlos war.
"Let me ride on the wall of death one more time. You can waste your time on the other rides. But this is the nearest to being alive. Let me take my chances on the Wall of Death", sangen Richard & Linda Thompson, draußen fiel der Dezemberregen und auf der alten Röhre über der Tür richteten nun Scholz und Lindner leere Worte an die Bevölkerung. "Wissen Sie", sagte Dembowski, "alles hat seine Zeit. Meine ist abgelaufen. Wir sehen uns in einem anderen Leben."