Wir brauchen mehr Mentalitätsspieler (Pro)
Bremen, 04.05.2019 so gegen 18:20 Uhr: Es ist kurz vor Anpfiff im Bremer Weserstadion. Seb und ich unterhalten uns über die letzten BVB-Spiele. Wir kommen dabei auch auf das Thema „Mentalität“ zu sprechen, und ob wir mehr davon brauchen, vertagen die Diskussion aber aufgrund des näher rückenden Anpfiffs auf nach der Saison – schriftlich. Hier unsere Gedanken:
Sebs Contra-Text findet ihr hier: Link
Schulz, Brandt, Hazard. Zugegeben, auf den ersten Blick sind das natürlich alles Top-Transfers. Wenn man jedoch einen genaueren Blick auf diese drei Jungs wirft, fällt auf, dass mit dieser Auswahl keine Kontrapunkte zu den bereits vorhandenen Spielern getroffen wurde, sondern die bisherige Mentalität in unserem Kader lediglich vervielfacht wurde. Diese drei Akteure sind stromlinienförmige, anpassungsfähige, spielerisch starke und agile Spieler, die sicher gut ins Kombinationsspiel um Götze, Reus und Sancho eingebaut werden können.
Es bleibt jedoch die Frage, ob wir nun endlich „Krieger“ haben, die bereit sind „Schlachten“ zu gewinnen. Mit diesem martialischen Sprachgebrauch bezeichnete ja vor allem Ex-Trainer Tuchel einen ganz bestimmten Spielertypus, der sich per definitonem dadurch auszeichnet, sich in jeden Ball zu werfen und in entscheidenden wie engen Spielsituationen Präsenz und Siegermentalität zu zeigen. In meiner Kindheit verkörperten Michael Zorc und auch Lars Ricken diese Art von Spielern, die oft nicht zu sehen waren, aber trotzdem (oder gerade deshalb?) im entscheidenden Moment wie ein Raubtier zur Stelle waren und eiskalt einnetzten. Spätestens seit Tuchel schaut der BVB aber offenbar nur noch auf Spieler, die in Ballstafetten reüssieren können und lieber noch einmal auf der Torlinie quer legen, statt die Murmel auch einmal aus 25 Metern in den Knick zu schweißen.
Wir haben in unserem Kader keine Spieler, die dem gegnerischen Fan den Schweiß auf die Stirn zaubern. Delaney und Witsel haben das in der Hinrunde noch geschafft, während auch sie in der Rückrunde in den entscheidenden Momenten nicht mehr zu sehen waren. Dies führte unter anderem auch dazu, dass man skandalös emotionslos neun Punkte Vorsprung verspielte und das als eine Art Naturgesetz ansah, weil die Bayern ja eh reicher und besser sind. Ein Sammer ist 1996 in Karlsruhe wie eine Tarantel abgegangen, Kehl wollte 2002 in Stuttgart im Interview wohl wirklich eine Kamera einschlagen und Jürgen „Gotto“ Klopp sorgte in der letzten großen BVB-Zeit für die Mentalität am Seitenrand. Wen haben wir jetzt für diese provokativen Reizpunkte?
Der BVB wird in naher Zukunft eine Grundsatzfrage stellen und beantworten müssen: Wollen wir charakterlich fragwürdige Spieler vom Schlage eines Mandzukic oder Vidal verpflichten, mit denen man als Fan außerhalb des Rasenvierecks vielleicht nichts zu tun haben möchte, die aber auf dem Rasen dafür bekannt sind, über Leichen zu gehen, wenn es dem sportlichen Erfolg der Mannschaft dienen kann? Man kann diese Frage verneinen, aber dann darf man sich halt auch nicht wundern, wenn man auch zukünftig mit den spielerisch starken und „netten“ Jungs nur auf Platz 2 bis 4 eintrudeln wird.
Hinter dieser Problemanzeige steckt jedoch eine fußballspezifische wie gesellschaftliche Entwicklung, für die der BVB allein wenig kann. Schon in den Nachwuchsleistungszentren wird den Spielern durch Medientraining und Personal Coaching der letzte Rest an Individualität genommen. Man will nur noch der Mannschaft helfen und seine taktische Rolle gut erfüllen. Im Zweifel wird der Ball zum Torwart zurückgespielt, das Risiko nur selten gesucht. Man könnte ja (negativ) auffallen. Gesellschaftlich haben wir ähnliche Tendenzen zu beobachten. In der Schule sind die Regularien und systemischen Voraussetzungen so, dass vor allem Mittelmaß „produziert“ wird. Charismatische und unbequeme Menschen werden in pädagogischen Gesprächen so lange auf die gesellschaftlich erwünschte Spur gebracht, bis sie jeglichen Spaß an ihrer Individualität verloren haben.
In der Politik erleben wir alle Jubeljahre, wie interessante Persönlichkeiten erst verzweifelt gesucht, oft gefunden werden, ehe sie beim ersten (vermeintlichen) Skandal gnadenlos wieder niedergeschrieben werden. Beim Fußball würde einem da sofort Max Kruse einfallen, der knapp über Durchschnitt anzusiedeln ist, aber allein durch seine Andersartigkeit eine Ausstrahlung auf den gegnerischen Fan besitzt, sodass dieser denkt, dass der Hobby-Pokerspieler jederzeit gnadenlos zuschlagen könnte.
Beim BVB sorgt schon mit der Presseabteilung eine ganze Armada von Mitarbeitern dafür, dass sich bloß keiner der schwarzgelben Kicker im Ton vergreift oder etwas formuliert, was über die Standardfloskeln aus BVB-Total hinausgeht. Diese Kontrollsucht führt dann eben dazu, dass in Ausnahmesituationen wie dem Derby der Schalter direkt ins andere Extrem ausschlägt und unkontrollierte Fouls passieren.
(Für alle, die den Contra-Text lesen wollen und zu faul sind, bis an den Anfang zu scrollen, hier nochmal der Link.)