Wieso tust du dir das an?
Ein Blick von außen, eine unschuldige Frage und man beginnt die ganze Welt zu hinterfragen. Wenn man wegen Fußball sogar weint, warum tut man sich das dann an? Ja, weshalb eigentlich?
Neulich war ich mal wieder auf einer Feier von Leuten außerhalb meiner Fußball-Blase. Irgendwann kommt meiner Erfahrung nach meistens trotzdem das Thema Fußball auf. Als Frau wird man da – zumindest bei uns auf dem Land – erst mal schief angesehen, wenn man beginnt mitzureden, doch sobald das Gegenüber begreift, dass da ein gewisses Wissen vorhanden ist, werde ich im Allgemeinen schnell als Teil der Gesprächsrunde akzeptiert. Irgendwann erwähne ich (oder jemand, der mich kennt) beiläufig meinen Verein und dann kommt zwangsläufig eine Bemerkung wie "Ah, sehr gut. Ich bin auch Dortmund-Fan. Gegen Barcelona war ich sogar im Stadion. Ich stand in der Gelben Wand!", der Stolz ist nicht zu überhören. Wie meistens reagiere ich darauf so zurückhaltend wie möglich, weil ich niemanden bloßstellen will. "Oh, das ist schön. Ich war auch bei dem Spiel." Das Interesse ist geweckt, mit einer gewissen Skepsis die Tribüne erfragt. "Südtribüne, hinter dem Tor. Block 13.", erwidere ich wahrheitsgemäß. Spätestens jetzt merkt mein Gesprächspartner, dass das Gespräch nicht dem normalen Schema folgt und er ist nun wirklich neugierig. "Wie bist du denn an diese Karten gekommen?", ich muss die Katze aus dem Sack lassen und erkläre ihm, dass ich im Besitz einer Dauerkarte bin. "Eine Dauerkarte? Die sind ja fast unmöglich zu bekommen!" "Nicht 2005. Damals war das ziemlich einfach." Jetzt ist die Wahrheit raus. Der Umfang meiner Besessenheit bekannt. Spätestens zu diesem Zeitpunkt merken auch die Umstehenden, die dem Gespräch bisher eher beiläufig gelauscht haben, dass da gerade ein echter Hooligan vor ihnen steht und betrachten mich dementsprechend. Meist ist eine der nächsten Fragen dann auch die nach der "Gewalt im Stadion" (herzlichen Dank, liebe Medien, dass ihr das Thema mittlerweile wirklich in jedes Wohnzimmer getragen habt) und ich erkläre, dass es keine bürgerkriegsähnlichen Zustände gibt und ich auch sonst wenig Gewalt mitbekomme, geschweige denn ausübe. Ein Blick auf meine 165cm reicht auch aus, um mir sofort zu glauben. Offensichtlich ist der Herr auf der Suche nach einer Fußball-Anekdote in seinem Fundus fündig geworden: "Ich kannte mal einen, der hat wegen Fußballspielen sogar geweint." Ok, vielleicht bin ich zu ehrlich, aber ich habe mich sowieso schon viel weiter rein geritten, als meinem introvertierten Ego lieb ist, dann kann ich auch gleich alles auspacken. "Das hab ich auch schon. Öfter sogar." Etwas peinlich berührt zuckt der Fragesteller zusammen, dann kommt die Frage aller Fragen. Die Frage, auf die ich bereits gewartet habe, weil ich sie mir so oft selbst gestellt habe. "Warum tust du dir das an?"
Ja, eigentlich eine sehr gute Frage. Warum irren wir in unserem Urlaub eine Stunde lang durch Dresden auf der Suche nach einer Kneipe, die das Bundesliga-Spiel in Frankfurt überträgt, stellen dann fest, dass es wirklich keine gibt und geben nach einer Busfahrt in die falsche Richtung auf (ich bin ein Stadtkind, ich bin mit 6 Jahren Tram gefahren, das passiert mir nie!). Nur, um dann zufällig auf der Suche nach einem Restaurant fürs Abendessen doch noch eine zu finden und zu zweit angespannt auf den Bildschirm zu starren? Zumindest führen wir, doch das hält nicht lange. Und den glücklichen erneuten Führungstreffer gleichen wir durch ein Eigentor in den letzten Minuten sogar selbst aus. Spätestens jetzt ist auch das letzte bisschen Urlaubsstimmung verflogen und wir können nur hoffen, dass sich das über Nacht legt oder zumindest nicht den ganzen restlichen Urlaub anhält. Warum tun wir uns das an? Wie oft haben wir uns gewünscht, ganz normal zu sein? Wie gerne hätten wir an diesem Abend gemütlich beim Abendessen gesessen, statt sauer und angepisst einander anzuschnauzen? Warum tue ich mir das an?
Die Antwort ist ebenso klar wie einfach: Weil es andere Tage gibt. Ich habe keine Kinder und bin nicht verheiratet, also verzeiht mir bitte, wenn ich sage, dass ich den schönsten Tag in meinem Leben im Stadion verbracht habe. Ich habe zwei Meisterschaften und zwei Pokalsiege live im Stadion erlebt und der Moment, als Nobby das 1:0 für Köln in die Lautsprecher geschrien hat, beschert mir bis heute Schmetterlinge im Bauch und Gänsehaut am ganzen Körper. Ich zucke sogar jedes Mal kurz, wenn in der Konferenz im Fernsehen oder Radio das 1:0 für Köln verkündet wird, und grinse dann für die nächsten Minuten gedankenverloren vor mich hin. Warum tue ich mir das an?
Weil Santana den Ball in der letzten Sekunde über die Linie gedrückt hat.
Weil Kehl in der 107. Minute ein Traumtor schoss.
Weil Lewandowski Real vier Buden einschenkte.
Weil wir mit einem Derbysieg Tabellenführer wurden und nicht wussten, ob wir "Derbysieger!" oder "Spitzenreiter!" singen sollten.
Weil Petric in der letzten Minute die Verlängerung erzwang.
Weil Weidenfeller den Elfmeter von Robben hielt.
Weil Federico in der 67. Minute das 6:0 schoss.
Weil Kagawa bereits in den Anfangsminuten mit dem Ersten von fünf Toren das Double einleitete.
Weil Subotic den Ball in der 96. Minute in den Nachthimmel von Madrid schlug.
Weil Smolarek die zweite Vorlage von Metzelder in die Maschen haute.
Weil Aubameyang in der 78. Minute endlich das erlösende Tor im einseitigsten Derby aller Zeiten erzielte und zu Batman wurde.
Weil Nuri den Freistoß gegen Bayern mit Ansage in den Winkel drosch.
Genauso wie Da Silva gegen Hoppenheim.
Weil Gündogan den Elfmeter verwandelte.
Weil jeder von Euch genau wusste, von welchen Szenen ich sprach, obwohl ich keine Jahreszahlen nannte und noch nicht mal immer einen Gegner.
Und vor allem, weil in jeder dieser Situationen das Stadion explodierte, Leute übereinander fielen, Bier über den Köpfen verschüttet wurde, eine Lautstärke herrschte, die Düsenjäger zum Schweigen bringen würde, und der Beton bebte. Dieser eine Moment, diese unbändige Freude von 80.000 Menschen (oder einem vollen Gästeblock), ist jede Minute wert, die man im Regen im Stadion steht, langweiligen Fußball sieht, frustriert vor sich hin flucht oder sauer ist. Ja, sogar die Momente, in denen ich wegen Fußball geweint habe. Tausendfach.