Vom Abstellgleis in die Startelf
Zu Beginn der Saison stand Mario Götze im Abseits. Von Favre teils nicht mal für den Kader berücksichtigt, stellte sich auf Pressekonferenzen die Frage: „Warum spielt Götze nicht?“ Götze, das Jahrhunderttalent, Götze, der Nationalspieler, der Deutschland 2014 zum Titel schoss. Warum spielt Götze nicht? „Darum“, wollte man ihnen nach dem katastrophalen Auftritt in der Champions League beim FC Brügge zurufen. Wohlgemerkt war die gesamte Mannschaftsleistung an diesem Abend keine glänzende, aber so einem erfahrenen und talentierten Spieler wie Götze muss man mehr abverlangen können. Man muss erwarten können, dass er als Leistungsträger neben Reus vorweg geht, dass er trotz seiner gerademal 26 Jahren die jungen Spieler durch seine Erfahrung stützt. Davon war zunächst nichts zu sehen, stattdessen kann das Spiel beim FC Brügge als vorläufiger, persönlicher Tiefpunkt gelten.
In den darauffolgenden Wochen feierte die Mannschaft einen Erfolg nach dem anderen, erkämpfte sich die Tabellenführung. Götze war außen vor. Reus hingegen ging als Führungsspieler voran und schützte auch seinen Mitspieler Götze, wie es einem Kapitän würdig ist – einer Rolle, die man Reus zuvor nicht unbedingt zugetraut hatte. Während Medien und sogenannte TV-Experten sich auf das Thema des gefallenen Helden stürzten als wäre es gefundenes Fressen, wies Reus Lothar Matthäus im Live-Interview zurecht:
Lothar, ganz ehrlich, wir sollten aufhören, täglich über Mario zu reden. Das tut uns nicht gut, das tut ihm nicht gut. Das bringt nichts.
Rückblick. Bereits mit 17 Jahren debütierte Mario Götze für die Borussia beim Heimspiel gegen Mainz 05. Es folgte eine Erfolgsgeschichte, die mit zwei deutschen Meisterschaften, einem Pokalsieg und dem Einzug ins Champions League-Finale gekrönt wurde. Champions League-Finale 2013 – da stand Götze schon verletzungsbedingt nicht mehr für den BVB auf dem Platz. Zuvor erschütterte ausgerechnet zum Zeitpunkt größter Glücksgefühle nach dem Wunder von Málaga eine Nachricht die Dortmunder Fußballwelt, die so wohl keiner erwartet hatte: Das Dortmunder Eigengewächs, seit 2001 im Verein, wechselt zur Saison 2013/14 zum größten Konkurrenten FC Bayern München.
Die Brutalität, mit der diese Nachricht in die Gefühlswelt und Träume der Borussen einschlug, zeigte ihre Wirkung auch in den fortwährenden Jahren. Götze wurde gnadenlos ausgepfiffen, beleidigt und musste sich bei Auswärtsspielen in seinem ehemaligen Wohnzimmer im Spielertunnel warmlaufen, um sich selbst vor den Anfeindungen der Südtribüne zu schützen. Somit darf es auch wenig verwunderlich sein, dass die Ankündigung einer Rückholaktion nicht bei allen Borussen auf Gegenliebe stieß. Von Anfang an war klar, dass Götze einiges leisten müsse, um sich wieder in die Gunst der Fans zu spielen.
März 2019. Mario Götze ist Stammspieler. Wonach es im September 2018 nicht mal ansatzweise aussah, hat sich Götze hart erarbeitet. Seine Schnelligkeit ist ihm über die Jahre komplett abhanden gekommen, seine Rolle auf dem Platz hat sich verschoben. Als „falscher Neuner“ gibt Lucien Favre ihm teilweise den Vorzug gegenüber Paco Alcácer, im Spiel gegen Tottenham gab er einen Achter, der irgendwo auf halben Wege zwischen Axel Witsel und Marco Reus die Bälle verteilte. Ab dem siebten Spieltag stand Götze krankheitsbedingt nur noch bei einer einzigen Bundesligapartie nicht für Schwatzgelb auf dem Platz. Seine Werte sind dabei, für seine Position, ziemlich ordentlich. Im Schnitt gewinnt er 38 % seiner Zweikämpfe und bringt 81 % seiner Pässe zum Mitspieler. Alcácer, als eigentlich geplanter und gelernter Neuner, hat hier schlechtere Zahlen anzubieten.
Götze hat seine Rolle in der Mannschaft gefunden und er scheint ihr weiterzuhelfen. Er gibt dem Offensivspiel mehr Struktur und ist mit seiner Technik auch unter Bedrängnis eine wichtige Anspielstation für seine Mitspieler. Eine Beurteilung von außen fällt allerdings oft schwer, weil diese Wichtigkeit für das Mannschaftsspiel häufig von individuellen Mankos überlagert wird. Zum einen ist da das bereits angesprochene Geschwindigkeitsdefizit. Götze war nie eine fußballerische Reinkarnation von Usain Bolt, aber im Laufe der Jahre hat er ein Sprinttempo für sich kultiviert, bei dem selbst Mats Hummels noch problemlos mithalten könnte. Zum anderen lässt seine Effektivität in der gefährlichen Zone stark zu wünschen übrig. Vier Tore und fünf Vorlagen in der Bundesliga sind einfach für die Position, die er meistens bekleidet, sehr überschaubare Werte. Oft trifft er zentral im Strafraum zielsicher die falsche Entscheidung und wählt lieber einen schwierigen Pass mehr, als selber direkt den Torabschluss zu suchen. Wählt er diese Option, dann kommt dabei auch nur selten etwas herum, das Torhüter vor unüberwindbare Probleme stellt. So schwankt dann auch, je nach Sichtweise unter den Fans, die Bewertung seiner Leistung in der Saison 2018/2019.
Generell muss man Götze aber zugestehen, dass er sich aus einer schwierigen Situation herausgearbeitet hat. Seine Rückkehr zum BVB war durchaus ein mutiger Schritt und aus den Zweifeln an seiner sportlichen Qualifikation zu Saisonbeginn sind Überlegungen geworden, wie es mit ihm angesichts seines 2020 auslaufenden Vertrags weitergehen soll. Der BVB dürfte gerne verlängern wollen, allerdings nicht zu den bei seiner Rückkehr vereinbarten Konditionen. Auch wenn er seinen Platz in der Mannschaft gefunden hat, er dürfte bei weitem nicht die Hoffnungen erfüllen, die die Verantwortlichen bei seiner Rückholung mit ihm verbunden und die sich mit Sicherheit auch monetär am Monatsende auf seinem Konto bezahlt gemacht haben. Sollte der Spieler hier zu Abstrichen bereit sein, dürfte eine Vertragsverlängerung jedoch eine interessante Variante für den Verein sein. Er mag in Zukunft vielleicht eher Platz 13 oder 14 in der Kaderhierarchie belegen, aber letztendlich braucht man auch dort eine überdurchschnittliche Qualität, wenn man sich zu den Spitzenmannschaften zählen möchte. Und diese überdurchschnittliche Qualität im Vergleich zu anderen Bundesligaspielern besitzt Götze zweifelsohne immer noch.