Lasst das Märchen endlich Märchen sein
Wenn man BVB-Fans die Frage nach der schönsten Zeit, die man gemeinsam mit dem BVB erlebt hat, stellt, dann wird die Antwort sehr wahrscheinlich „2010 bis 2013“ lauten. Verständlich. Einerseits natürlich, weil diese Zeit noch nah genug ist, um allen gedanklich präsent zu sein. Vor allem aber, weil es so eine unfassbare Story war. Jeder Borusse und jede Borussin kann sie erzählen. Die Fast-Pleite 2005, der holprige Start 2008 unter Jürgen Klopp, bei dem uns wohl nur ein Fehlschuss von Kevin Kuranyi vor einem abrupten Ende der Erfolgsgeschichte bewahrt hat, die für völlig unmöglich gehaltene Meisterschaft 2010/2011, die Krönung mit dem Double in der Folgesaison und dem Einzug ins Champions-League Finale 2013.
Ein wilder, leidenschaftlicher Ritt, wie ihn auch in diesem Umfang nur ganz, ganz wenige Fans überhaupt erleben. Umso mehr ist es schade, dass wir es nicht schaffen, dieses tolle Erlebnis entsprechend zu würdigen, sondern eher in ein tonnenschweres Gewicht, das uns auf unserem Weg in die Zukunft behindert, transformieren. Wahlweise wird es als Referenz verwendet, an der alle zukünftigen Trainer und Mannschaften zwangsweise scheitern müssen, oder als Sehnsuchtszustand für die Zukunft, dem wir erfolglos hinterher laufen. Diese Leistung kann niemand wiederholen. Selbst Jürgen Klopp würde daran scheitern, den Erfolg von Jürgen Klopp mit dem BVB zu wiederholen.
Das liegt zum einen daran, dass Borussia Dortmund die Chance, die sich in den drei Jahren plötzlich eröffnete, brilliant genutzt und sich finanziell in eine neue Dimension katapultiert hat. Jeder Trainer, der bei Borussia Dortmund anfängt, startet nicht mehr bei dem Verein, der erst vor kurzem der Insolvenz von der Schüppe gesprungen ist und besondere Kreativität bei der Kaderplanung an den Tag legen muss. Er startet beim zweiten Finanzschwergewicht der Liga, dem Mittel zur Verfügung stehen, mit denen ein Platz unter den ersten Vieren der Tabelle ein absolutes Muss ist. Wir sind nicht mehr das Aschenputtel, sondern die Prinzessin. Und wenn die Prinzessin den Prinzen heiratet, dann ist das viel gewöhnlicher, als bei dem Aschenputtel. Der komplette „Underdogfaktor“ fällt weg und schon allein deshalb würde es sich nie mehr genau so anfühlen wie damals.
Darüber hinaus neigt der Mensch einfach dazu, die Vergangenheit zu verklären und sich nur an die schönen Dinge zu erinnern. Das ist grundsätzlich ja auch gut. Das Schwelgen in schönen Erinnerungen macht Mut für die Zukunft und verhindert, dass die Vergangenheit zu einer permanenten Belastung wird. Genau das gilt auch für die Ära Jürgen Klopp. In der Erinnerung sind wir durch die Liga und später durch Europa gepflügt, haben in jedem Spiel alles gegeben und sind nach jedem Abpfiff komplett begeistert aus dem Stadion gegangen. So war es aber nicht. Selbst 2010/2011 nicht. Auch dort hatten wir völlig normale Bundesligaspiele wie das Heimspiel gegen Werder Bremen oder einen Auswärtskick in Kaiserslautern, in denen wir wie eine ganz normale Mannschaft gespielt haben. Es waren keine schlechten Spiele, aber auch keine Sternstunden der Fußballgeschichte. Kicks, wie wir sie auch schon vorher und später in großer Zahl gesehen haben. Auch werden die beiden Spielzeiten nach 2013 in der Rückschau gerne ausgeblendet. Dort wurde schon deutlicher gemurrt, weil die Spieler häufig ebenso erfolglos wie ausgiebig um den gegnerischen Strafraum herum gespielt haben. Selbst die Pressekonferenzen, die davor als beste Unterhaltung verstanden wurden, hat man nicht mehr mit absoluter Begeisterung verfolgt und sich stattdessen mehr „Normalität“ gewünscht. Indem man diese Punkte ausblendet, wird dieses Kapitel allerdings überlebensgroß und übermächtig.
Die gemeinsame Geschichte von Jürgen Klopp und Borussia Dortmund endete 2015. Und es war genau richtig, dass sie dort ihr Ende fand. Man sollte sich immer bewusst machen, dass es nicht unbedingt ein Happy End war, sondern ein fast ordinäres und banales. Trainer kündigt, rutscht ebenso gerade auf den letzten Europapokalplatz und verliert das Pokalfinale. Eigentlich ein Schlusspunkt, der sogar zu spät kam, um für eine Heldensaga wirklich passend zu sein.
Wir sollten diese drei tollen Jahre als Schatz, der uns geschenkt wurde, verstehen, uns daran erinnern – aber ansonsten als in sich abgeschlossenes Kapitel der Vereinsgeschichte akzeptieren. Kein Trainer der Welt kann bestehen, wenn diese Geschichte das ist, woran seine eigene gemessen wird und die permanente Jagd nach dem „Heilsbringer“, der sie wiederholen kann, ist eine von vorneherein zum Scheitern verurteilte.
Aber vielleicht ist das Problem von Borussia Dortmund im Jahre 2019 auch gar nicht mehr, dass diese Erkenntnis fehlt. Vielmehr wird sie mit dem jetzt bereits vierten Nachfolger von Jürgen Klopp sogar endgültig schmerzlich bewusst geworden sein und es werden nur die falschen Schlüsse daraus gezogen. Man zerfließt in Selbstmitleid und bejammert, dass die Vergangenheit einfach Vergangenheit ist. Selbst unsere Geschäftsführung scheint davor nicht gefeit zu sein und immer noch heimlich davon zu träumen, den Geist von 2010 wieder zum Leben erwecken zu können. Die Folge davon kann aber einfach nur Enttäuschung und Resignation sein, weil es ein unmögliches Unterfangen ist.
Die Geschichte war märchenhaft und genau so sollte man sie auch behandeln. Die Handlung eines Märchens ist immer phantastisch, unglaubwürdig und fern jeder Realität. Aber sie hat einen wahren Kern. Eine Botschaft, die sie vermitteln will. Es wird Zeit, dass wir die Handlung endlich auch als abgehandelt betrachten und uns auf diesen Kern konzentrieren. Der Kern ist: Jede Saison ist anders, ist neu. Vieles ist möglich, in positiver, aber auch negativer Sicht. Wir betrachten Spielzeiten nur noch als eine ewige Wiederkehr fußballerischer Naturgesetze wie „Bayern wird eh Meister“ und „Champions-League-Quali schafften wir sowieso“. Dabei brauchen wir wieder den Glauben an Überraschungen und an nicht für möglich gehaltene Wendungen.
Und im Inneren des Kerns versteckt sich noch eine ganz einfache Wahrheit: Fußball kann Spaß machen. Diesen Spaß sollten wir dringend wiederfinden.