Das Problem Mittelstürmer
Der BVB hat zur neuen Saison einiges in Neuverpflichtungen investiert und Qualität gekauft. Trotzdem gibt es in den Augen vieler Fans noch eine Baustelle: die Position des Mittelstürmers. Ist der BVB hier mit Paco Alcácer und Mario Götze ausreichend gut besetzt?
34 Mann umfasst der aktuelle BVB-Kader. Eindeutig zu viele Spieler. Das sieht nicht nur Trainer Lucien Favre so, sondern vermutlich auch jeder Fan. Und trotzdem wünschen sich Viele noch einen zusätzlichen Spieler. Genauer gesagt: einen Stürmer. Die einen wünschen sich den Typ Brecher, den man gegen tief stehende Gegner mit Flanken an den Fünfer füttern kann, die anderen halten Mario Götze als Backup für zu schwach, bzw. sehen ihn erst gar nicht als Spieler, der für „die Neun“ ernsthaft in Frage kommt.
Dabei erscheint es auf den ersten Blick skurril, dass der Sturm ein problematischer Mannschaftsteil sein soll. Mit 81 Toren stellte der BVB mit Abstand den zweitbesten Angriff, Paco Alcácer wurde mit 18 Toren der zweitbeste Torjäger. Trotzdem lohnt es sich genauer hinzuschauen, weil es durchaus Unterschiede zwischen Hin- und Rückrunde gibt. In den ersten 17 Ligaspielen erzielte der BVB 44 Tore und damit den Ligabestwert. In der Rückrunde waren es immer noch ordentliche 37 Buden, dennoch gab es mit Bayern, Leipzig und Hoffenheim drei treffsicherere Teams. Vor allem die Bayern mit 52, aber auch Leipzig mit 43 Toren waren hier sogar signifikant besser. Beim spanischen Torjäger fiel die Rückrunde gegenüber der ersten Halbserie sogar, natürlich auch einer Verletzungsanfälligkeit geschuldet, noch drastischer aus. Mit sechs Toren schoss er in der Rückrunde nur noch halb so viele Tore wie in der ersten Halbserie. Das reine Zahlenmaterial der zweiten Hälfte der Saison bietet also schon Ansatzpunkte für Überlegungen, ob der BVB auf der Position des zentralen Angreifers ausreichend gut besetzt ist.
Braucht es einen anderen Stürmertypen?
Dass das Kopfballspiel nicht zu den Paradedisziplinen von Götze und Alcácer als zentrale Stürmer gehört, ist ein nicht wegzudiskutierender Fakt. Paco gewann 25 % seiner Luftduelle und erzielte in der Bundesliga zwei Kopfballtore. Die Werte von Mario Götze sind mit 18 % Zweikampfquote in der Luft und gerade einmal einem Kopfballtor noch schlechter. Zum Vergleich: Zwar haben Hoffenheims Belfodil und der Neu-Hammer Haller mit zwei Kopfballtoren die gleiche Ausbeute wie Paco, sind aber mit 44 % (Belfodil) und sagenhaften 54 % (Haller) gewonnenen Kopfballduellen in dieser Wertung in einer ganz anderen Liga als unsere beiden Spieler. Bayerns Lewandowski hat mit 40 % Kopfballduellen und 4 Kopfballtoren unterm Strich die vielleicht beste Bilanz.
Nun mag man einwenden, dass generell die Art, auf die ein Tor erzielt wird, letztendlich egal und ein erfolgreicher Schuss mit rechts in den Winkel genau so zählt wie eins, das mit dem Kopf erzielt wird und der Unterschied von 4 zu 3 im Vergleich vom absoluten A-Stürmer Lewandowski und den Jobsharern Götze/Alcácer nur marginal ist – aber generell eröffnen Mittelstürmer der Statur und Ausprägung von Belfodil, Haller und Lewandowski der Mannschaft eine Spielweise, die dem BVB unzweifelhaft fehlt.
Und trotzdem ist die Wunschvorstellung eines kopfballstarken Spielers, der gegen mauernde Gegner oder bei einem Rückstand in der 80. Minute eingewechselt wird, auch deutlich komplizierter, als es auf den ersten Blick aussieht. Die wenigsten Teams können tatsächlich zwischen unterschiedlichen Spielweisen switchen. In Frankfurt startete neben Haller mit Luka Jovic oft ein Stürmer, der mit einer Zweikampfquote von 39 % und 3 Kopfballtoren ebenfalls eine starke Bilanz aufweist. Leipzig dagegen stellt mit Yussuf Poulsen zwar auch einen Spieler, der 48 % seiner Zweikämpfe in der Luft siegreich bestreiten konnte, insgesamt kommen alle vier nominellen Mittelstürmer im Kader aber gerade einmal auf drei Bundesligatore, die per Kopfball erzielt wurden. Der Weg, über Flanken in den Strafraum zu spielen, scheint also nicht gerade erstes Mittel der Wahl gewesen zu sein.
Im Falle des BVB sprechen zwei Aspekte gegen die Verpflichtung eines kopfballstarken „Brechertypen“:
- Favre wird noch mehr auf Tempospiel setzen. Sancho, Reus, Hazard und Brandt sind allesamt Spieler, die für schnellen Fußball stehen. Mit Schulz und Hakimi hat man darüber hinaus auch auf den Positionen der Außenverteidiger Spieler ins Auge gefasst, die schnell sind und technisch guten Fußball spielen. Es wird schon einiges an Arbeit kosten, dieses Qualitätspotential voll auszuschöpfen. Ein Spiel, das mit Flanken von den Außen arbeitet, würde gravierende Änderungen bedeuten. Schon allein auf den Außenbahnen müssten die Laufwege anders sein, um die Außenverteidiger in Flankenposition zu bringen. In diesem Zusammenhang wird das Spiel auch statischer, das Tempo als Waffe verliert an Stärke. Es ist anzuzweifeln, ob man beide Spielarten adäquat im Spielbetrieb der englischen Wochen einüben kann, oder ob man am Ende nicht eher alles irgendwie, aber nichts wirklich richtig auf den Platz bringen kann.
- Der Mannschaft fehlt es insgesamt an Stärke im Kopfballspiel. Mit 546 gewonnenen Luftzweikämpfen in der Saison 2018/2019 rangiert der BVB in dieser Wertung auf Platz 17. Ein kopfballstarker Stürmer wäre für den Gegner also sehr schnell als nahezu einzige Gefahrenquelle ausgemacht und dürfte sich zentral am Fünfer einer ganz besonders liebevollen Überwachung der Innenverteidiger sicher sein, während der Rest seiner offensiven Mitspieler bei dieser Variante aus dem Spiel genommen wäre. Am Ende steht sehr wahrscheinlich ein Dauerflanken, das nicht gerade erfolgsversprechender ist als permanente Versuche, den Riegel zu überspielen.
Letztendlich führen viele Wege nach Rom, aber wenn man einen einschlägt, dann sollte man es auch konsequent tun. Die technische Qualität im Kader ist hoch genug, um auch tiefstehende Gegner spielerisch zu überwinden. Vor allem die Außenbahnen bieten eine gute Möglichkeit, an die Grundlinie vorzustoßen, um von dort entweder einen einlaufenden Stürmer oder im Rücken der Abwehr lauernde Offensivspieler zu bedienen. Die Tatsache, dass allein Jadon Sancho und Marco Reus zusammen auf 29 Tore und 28 Vorlagen kommen, zeigt eindrucksvoll, dass die offensive Idee als Ganzes funktioniert. Auch ohne bulligen Zielstürmer im Zentrum.
Braucht es neue Stürmer?
Wenn über neue Stürmer gesprochen wird, dann ist Paco Alcácer aufgrund seiner 18 Saisontore bei vielen „gesetzt“. Bedarf wird bei einem Backup gesehen, da die sieben Saisontore, die bei Götze zu Buche stehen, nun wirklich nicht Angst und Schrecken verbreiten. Dabei ist das Gesamtpaket der beiden Spieler im Vergleich zum deutschen Branchenprimus gar nicht so schlecht. Der eigentliche Backup für Lewandowski, Sandro Wagner, hat bis zu seinem Wechsel in der Winterpause keine Rolle gespielt. 0 Tore, 0 Vorlagen und 138 Einsatzminuten machen ihn zu einer Größe, die man völlig vernachlässigen kann. Der Job des Mittelstürmers wurde von Robert Lewandowski nahezu allein erledigt. Dort kommt er für den nationalen Wettbewerb auf 22 Tore und 10 Vorlagen. Götze und Alcácer, die sich hier diese Aufgabe geteilt haben, bieten dort zusammen 25 Tore und 7 Vorlagen auf. Die Gleichung Alcácer + Götze = Lewandowski ist also rein vom Output her so falsch nicht.
Ein Blick auf andere europäische Vereine zeigt, dass die Zahlen immer im Kontext der gesamten Offensive gesehen werden muss. Arsenal London beispielsweise spielt häufig mit zwei echten Spitzen. In der Folge hat man dann auch mit Lacazette und Aubameyang gleich zwei Spieler, die in der Liga zweistellig getroffen haben. Bei Juventus Turin dagegen hat Mandzukic als Stamm-Mittelstürmer gerade einmal neun Ligatreffer vorzuweisen. Sein Backup, der auch in Dortmund gerüchteweise gehandelte Moise Kean, gerade einmal sechs. Es ist nicht wirklich überraschend, dass sich Turins Spielweise sehr stark auf Superstar Cristiano Ronaldo konzentriert und der Linksaußen dort mit 21 Toren mit Abstand der treffsicherste Spieler ist. Bei Branchenprimus Manchester City ist die Lage sogar ähnlich zu unserer. Auch dort gibt es mit Sergio Agüero und Gabriel Jesus nur zwei nominelle Mittelstürmer, von denen Agüero mit 21 Toren und 7 Vorlagen deutlich erfolgreicher war als Paco Alcácer, Jesus' 7 Tore und 3 Vorlagen aber noch von Götze übertrumpft werden. Kleine Einschränkung: Götze hat mit 1.675 Minuten Einsatzzeit in der Bundesliga über 50 % länger auf dem Platz gestanden als Jesus in der Premier League.
Letztendlich zeigt der internationale Vergleich keinen dringenden Handlungsbedarf auf. Sowohl die Anzahl der Mittelstürmer als auch die Ausbeute der beiden sind nominell durchaus um Rahmen. Und bei einer Quote von 63 von 81 Ligatoren, die durch die Offensivspieler erzielt wurden, kann man von einer gut funktionierenden Einheit sprechen.
Trotzdem lässt sich Handlungsbedarf nicht komplett von der Hand weisen. Die 18 Tore sind angesichts der nicht gerade großen Anzahl von Einsatzminuten bei „A-Stürmer“ Alcácer zwar ein guter Wert, trotzdem kann man durchaus skeptisch sein, ob der Spanier wirklich die bestmögliche Lösung für diese Planstelle darstellt. Da wären einerseits die physischen Probleme, die in der letzten Saison häufiger dazu führten, dass Alcácer nicht über einen längeren Zeitraum voll belastbar war. Zwar lässt das Training in der Sommerpause bislang hoffen, dass sein Körper mittlerweile wieder Spitzenbelastungen aushält, aber endgültig wird man das erst im laufenden Echtbetrieb feststellen.
Andererseits ist auch die Verteilung seiner Torerfolge auffällig. Den 12 Toren aus der Hinserie schließen sich nur noch sechs in der Rückrunde an. Im Schnitt schoss er alle 67 Minuten, in denen er auf dem Platz stand, ein Tor. Wenn man allerdings sieht, dass er in den ersten drei Einsätzen allein sogar statistisch alle 14 Minuten den Ball im Tor unterbrachte, dann wird deutlich, dass der Durchschnitt durch Extremwerte stark beeinflusst wurde. In der gesamten Rückrunde lag der Ball dann auch nur noch alle 117 Minuten im Netz. Immer noch ein guter Wert, aber kein überragender. Pacos Start beim BVB war einfach eine absolute Ausnahme. Diese Art von seltener Serie, die Stürmer manchmal haben und in denen sie blind alles treffen. Der „normale“ Paco wird auch im fitten Dauerbetrieb solche Quoten nicht einmal annähernd halten können.
Dazu hört man immer wieder, dass Alcácer zu wenig am Spiel teilnimmt. In der Tat wirkt er häufig nicht eingebunden, wenn der Ball außerhalb des Fünfers liegt und die 0 steht nicht umsonst bei ihm unter der Anzahl der Torvorlagen. Der Wert ist einfach sehr, sehr schwach und ein direktes Ergebnis des mangelhaften Mitspielens.
Auch für Götze wird es zum „A-Stürmer“ nicht reichen. Für eine echte Neun fehlt ihm einfach der Instinkt für die richtigen Laufwege vors Tor und eine gewisse Kaltschnäuzigkeit. Wie wichtig jedoch wenigstens ein treffsicherer Mittelstürmer ist, haben wir in den letzten Jahren immer wieder gemerkt. Lucas Barrios, Robert Lewandowski, Pierre-Emerick Aubameyang – ohne diese drei Namen wäre der Erfolg der letzten Dekade kaum möglich gewesen. Trotzdem bringt er eine spielerische Fähigkeit in den Angriff, die Alcácer abgeht und situativ durchaus zu einer sinnvollen Variante macht. Unterm Strich gibt es schlechtere, allerdings auch kostengünstigere Kandidaten für den Platz des Ersatzmannes im zentralen Angriff.
Letztendlich wird man erst im laufenden Betrieb sehen, wie gut wir hier wirklich aufgestellt sind, wenn beide Planstellen unverändert besetzt bleiben. Und im Wesentlichen wird das Ergebnis davon beeinflusst, auf welchem körperlichen und spielerischen Level Alcácer sich jetzt präsentiert. Hier kann man durchaus noch Handlungsbedarf sehen. Bei Götze könnte sich dieser von selbst ergeben, wenn die Gespräche zur Vertragsverlängerung ergebnislos bleiben. Wenn nicht, kann man mit dieser Lösung schon ganz gut leben.