Ausbildungsverein Borussia Dortmund
Ausbildungsverein - dieses Prädikat haftet dem BVB jetzt seit einigen Jahren an. Und immer, wenn dieses Wort in den Mund genommen wird, spricht man es mit einem leicht abschätzigen Unterton aus. Teils, weil es die eigenen Spieler zu (höchstbezahlten) Azubis abqualifiziert, zu einem noch größeren Teil aber, weil diese Bezeichnung den BVB deutlich unterhalb der europäischen Topvereine einordnet. Der BVB ist nicht Traumziel der nachwachsenden Spielergeneration, sondern Zwischenstation und Sprungbrett auf dem Weg nach oben. Dass das unterbewusst am Selbstverständnis eines ehemaligen Champions-League Siegers, der nach unserer Auffassung eh der beste Verein der Welt ist, nagt, ist nachvollziehbar.
Dabei gibt es bei genauerer Hinsicht gar keinen Grund zum Naserümpfen, wenn unsere Borussia als „Ausbildungsverein“, „Talentschuppen“ oder „Sprungbrett“ bezeichnet wird. Im Gegenteil, an der Strobelallee darf man durchaus stolz darauf sein, diese Strategie gewählt und dann höchst erfolgreich umgesetzt zu haben. Mehr noch, ein Blick auf das aktuelle Transfergebaren der letzten zwei, drei Jahre zeigt, wie wichtig es war, dass man beim BVB diesen Trend frühzeitig erkannt und sich bereits deutlich auf einem Markt platziert hat, der jetzt auch von den Topclubs in Angriff genommen wird. In Zeiten, in denen Transfers immer öfter die 100-Millionen-Euro-Grenze überschreiten, können auch die internationalen Schwergewichte ihren Bedarf an Spielern nur noch schwer aus den bereits komplett ausgebildeten Topspielern decken und sind immer öfter bereit, auch ganz junge Spieler, die sich noch in der Entwicklungsphase befinden, zu verpflichten. Immer in der Hoffnung, dass sich der 17-jährige Rohdiamant als der nächste Mbáppe erweist.
Sehr gut sieht man das am Beispiel des FC Bayern München. Noch im Januar 2018 erklärte Rummenigge im Kicker-TV:
"Der BVB hat sich zu einem Ausbildungsverein für europäische Spitzenklubs entwickelt. Aber die Leute wollen Spitzenfußball mit Spitzenspielern sehen."
Seitdem haben die Bayern selber Alphonso Davies (18 Jahre), Jann-Fiete Arp (19 Jahre) und Benjamin Pavard (23 Jahre) verpflichtet. Aktuell stehen sie, so kolportieren es die Medien, direkt vor dem Kauf von Marco Roca. Der Spieler ist 22 Jahre alt, spielt aktuell bei Espanyol Barcelona und war eine tragende Säule der U-21 Europameistermannschaft Spaniens. Unvergessen bleibt auch, wie deren Sportchefchen Chelseas Hudson-Odoi fast öffentlich anbettelte, doch an die Säbener Straße zu wechseln. Die Tatsache, dass der Club von Milliardär Abramovic den Vertrag mit dem Spieler unter allen Umständen verlängern wollte und ihm dafür eine satte Gehaltserhöhung verpasste, unterstreicht noch einmal die Wichtigkeit, die der nächsten Spielergeneration beigemessen wird.
Dass sich der BVB zumindest in diesem Segment durchaus mit den großen Vereinen messen kann, ist eine Folge davon, dass man diesen Trend eher erkannt (und eigentlich mit dem Verkauf von Ousmane Dembélé selber mitbefeuert hat) und sich dort einen Namen gemacht hat. Mehr noch, man ist in der überaus komfortablen Lage, sich einen Ruf erarbeitet zu haben, der auch relativ hochpreisige Verpflichtungen von Spielern im Alter von um die 20 Jahre herum zu einem Geschäft ohne Risiko macht. Für Verein und Spieler. Für die letzten Jahre notiert der BVB wie folgt:
- Christian Pulisic, ablösefrei, Wechsel für 64 Millionen Euro zum Chelsea FC in die Premier League
- Mikel Merino, gekauft für 3,75 Millionen Euro, für 7 Millionen Euro nach Newcastle nach England gewechselt
- Alexander Isak, gekauft für 8,6 Mio., verkauft für 6,5 Mio. nach San Sebastian in die spanische Liga
- Emre Mor, gekauft für 9,75 Mio. Euro, gewechselt für 13 Millionen nach Celta Vigo
- Ousmane Dembélé, für 15 Mio. von Stade Rennes gekommen, für 130 Mio. an den FC Barcelona verkauft
- Abdou Diallo, kam für 28 Mio. aus Mainz, ging für über 30 Millionen zu Paris St. Germain.
(Die Summen sind Transfermarkt.de entnommen.)
Die Bilanz ist beeindruckend. Obwohl sich sportlich beim BVB nur drei der sechs Spieler wirklich durchgesetzt haben, nämlich Pulisic, Dembélé und mit Abstrichen Diallo, ist nur bei Isak der Transfersaldo negativ. Insgesamt hat man aus einer Investition von rund 65 Millionen Euro einen Erlös von um die 250 Millionen Euro generiert. Dazu spielen aktuell mit Jadon Sancho und Manuel Akanji noch zwei Kicker in unserer Mannschaft, die ihre Transferausgaben von zusammen 30 Millionen bei einem Verkauf definitiv und deutlich vervielfachen werden. Sollte Sancho sich auf dem extrem hohen Niveau stabilisieren, dürften hier sogar Einnahmen in den Regionen des Verkaufs von Dembélé möglich sein.
Borussia Dortmund hat sich einen Namen gemacht als Verein, der ein sehr gutes Auge für qualitativ hochwertige Talente besitzt und davon profitieren auch die Spieler. Selbst wenn sie sich hier nicht durchsetzen, wird ihnen immer noch genug Klasse attestiert, um für andere Vereine höchst interessant zu sein. Diallo, Dembélé und Pulisic haben es direkt in die Spitze des europäischen Fußballs geschafft, aber selbst Merino, Mor und Isak sind über den BVB in die spanische und englische Liga gekommen. Wenn sich der Kicker nicht gerade wie Emre Mor selber aufs Abstellgleis schießt, ist der BVB mittlerweile einfach eine relativ sichere Fahrkarte in den Profifußball. Ein Wert an sich, den auch die Berater schätzen dürften. Interessanterweise sind es denn aktuell auch die beiden arrivierten Spieler Shinji Kagawa und André Schürrle, die Probleme haben, einen neuen Verein zu finden, während selbst ein Maximilian Philipp dem Vernehmen nach schon längst mit dem VfL Wolfsburg einig ist und auf gepackten Koffern sitzt.
Für uns Fans ist das sicherlich eine zweischneidige Kiste. Die Verpflichtungen von ganz jungen Spielern aus dem Ausland verjüngt den „Flaschenhals“ für die Kicker aus dem eigenen Nachwuchs noch einmal erheblich. Die Konkurrenz wird größer, für echte „Dortmunder Jungs“ wird es immer schwerer, in den Profikader vorzustoßen. Dabei haben gerade diese Spieler wohl den höchsten Identifikationsfaktor. Beispielshaft seien hier Nuri Sahin, Marco Reus oder Kevin Großkreutz genannt. Wobei man ehrlicherweise auch hier sehen muss, dass sich die Konkurrenzsituation bereits bis in die U-Mannschaften fortführt. Wo am Anfang noch im Umkreis von Dortmund nach Talenten gesucht wird, erstreckt sich die Suche nach Spielern schon für die U19-Mannschaft auf die ganze Welt. Die Grenze zwischen „Dortmunder Jung“ und „Zukaufspieler“ ist kaum klar zu definieren.
Grundsätzlich ist es aber ungleich schwerer, sich Spielern zugehörig zu fühlen, die mit einem festen Karriereplan in Dortmund ankommen, über diesen Weg schnellstmöglich in Madrid, Manchester oder in Paris zu landen. Dafür kommt man allerdings auch in den Genuss einer spielerischen Klasse, die man ohne dieses Modell hier nicht erleben würde. Der Abflug von Dembélé war sicherlich nervenaufreibend und ärgerlich, aber niemand wird der Darstellung widersprechen, dass seine Sololäufe faszinierend und einzigartig waren. „Ous“ an guten Tagen war spielerisch einfach eine Augenweide. Ebenso wie Sanchos Tempodribblings einem oft genug ein gedankliches „Wow“ entlocken. Zwar fehlt aufgrund der Jugend noch die Konstanz in den Leistungen, aber sie gehören zu den Spielern, die allein das Eintrittsgeld wert sind.
Zu den wenigen negativen Aspekten, die diese Strategie mit sich bringt, ist auch eine deutlich erhöhte Fluktuation innerhalb der Mannschaft. Die jungen Spieler, die sich keinen Stammplatz erspielen können, werden möglichst schnell wechseln, bevor sie den Stempel „Gescheitert“ verpasst bekommen, die Dembélés und Sanchos dagegen sind sofort für die ganz großen Clubs interessant. Auch wenn es mit Sicherheit Ziel des BVB war, von Dembélés Klasse länger als eine Saison zu profitieren, dürfte sich niemand große Illusionen machen, solche Leute wesentlich länger als zwei Spielzeiten zu halten. Der Druck, der Mannschaft sowohl in der Breite, als auch in der Spitze neue Spieler zuzuführen, wird also steigen. Da erledigen sich dann auch viele Träumereien von einer Mannschaft, die sich über drei, vier Jahre hinweg einspielt und dann ein ganz großes Team ist, fast von selbst.
Dennoch, die Vorteile liegen klar auf der Hand und es wird Zeit, das Wort „Ausbildungsverein“ mit mehr Selbstbewusstsein und Stolz für sich zu reklamieren. Dieser Weg ist für einen Verein aus der zweiten Reihe des europäischen Fußballs angesichts explodierender Ablösesummen wohl der einzig gangbare, wenn man an dieser hohen spielerischen Qualität partizipieren will. Und man ist diesen Weg konsequent und erfolgreich beschritten. Dafür darf man sich dann auch mal selber auf die Schulter klopfen.