Ein Treffer für die Ewigkeit?
Borussia Dortmund setzt ein Ausrufezeichen im Meisterschaftskampf. Beim 3:2 (1:2)-Auswärtssieg in Berlin zeigte die Mannschaft Moral und Reife.
Nach schwierigen Wochen meldet sich der BVB eindrucksvoll im Meisterschaftskampf zurück. Im mit 74.475 Zuschauern ausverkauften Berliner Olympiastadion zeigt die Mannschaft von Lucien Favre, dass sie trotz der verlorenen Tabellenführung die Meisterschaft noch nicht abgeschrieben hat.
Dabei fing in Berlin eigentlich alles genau so an, wie in den letzten Wochen: Äußerst unglücklich. Bereits nach vier Minuten brachte Salomon Kalou die Hausherren in Führung. Thomas Delaney gelang zwar der Ausgleich (14.), aber auch nach dem Ausgleichstreffer waren die Berliner besser im Spiel als der BVB. Zwischenzeitlich gewannen die Borussen nur 36% ihrer Zweikämpfe. Zu wenig, wenn du in Berlin gewinnen willst. Kein Wunder also, dass die „Alte Dame“ aus Berlin noch vor der Pause wieder in Führung ging. Erneut war Kalou zur Stelle (35., Handelfmeter).
Ratlosigkeit in der Kurve
Während der Halbzeitpause war im Gästeblock das eine oder andere ratlose Gesicht zu erkennen. Erneut konnte der BVB nicht so überzeugen, wie in den ersten Monaten dieser Spielzeit. Die Abstimmung fehlte, der richtige Moment für das Abspiel wurde verpasst, im Zweikampf hatte man zumeist das Nachsehen. Die Berliner wirkten gedankenschneller, frischer, und – leider – wesentlich motivierter. "In der ersten Halbzeit war Hertha besser als wir", erkannte auch BVB-Trainier Lucien Favre die Leistung des Gegners an.
All das änderte sich jedoch im zweiten Spielabschnitt. Nach nur zwei Zeigerumdrehungen war Dan-Axel Zagadou nach einem Eckball zur Stelle und gestaltete die Partie erneut ausgeglichen – 2:2 (47.). Zuvor versandeten alle Eckstöße des BVB irgendwo im nirgendwo. Als hätten sich die Beteiligten vorher fünf Versuche zum warm schießen gegönnt, um genau diese Ecke irgendwann aus dem Hut zu zaubern.
In der Folge drehte der BVB weiter auf und übernahm die komplette Kontrolle über das Spiel. Wie von der Tarantel gestochen rannten die Schwarz-Gelben über das Spielfeld. Zeigten Kampf, Einsatz, Leidenschaft und den unbedingten Willen, dieses Spiel gewinnen zu wollen. Gerne auch Moral genannt. Davon zeigte die Mannschaft eine unbändige an diesem Abend – zumindest im zweiten Durchgang der Partie. Eine Eigenschaft, die nicht nur ich, sondern viele BVB-Fans in den letzten Wochen nicht zwingend immer auf dem Rasen wahrgenommen haben.
Immer wieder stand sich der BVB beim Führungstreffer selbst im Weg. Häufig scheiterte es daran, dass sich die Spieler zu spät vom Ball trennten und die größten Möglichkeiten dilettantisch zu Ende spielten. Das ärgerte auch BVB-Kapitän Marco Reus nach dem Spiel: „Ich hatte zehnmal die Situation, in der ich frei war und auf den Ball gewartet habe.“
Erst in der Nachspielzeit gelang die Erlösung für den mitgereisten Anhang aus Dortmund. Kurz vor Schluss fand dann doch noch ein Zuspiel zum richtigen Zeitpunkt statt. Senkrechtstarter Jadon Sancho bediente Marco Reus (90.+2.) mustergültig. Der Nationalspieler musste nur noch einschieben und versetzte mit seinem Treffer den gesamten Gästeblock in Ekstase.
Zu diesem Zeitpunkt hatte so manch einer die Meisterschaft wohl schon abgeschrieben. Umso größer fiel der Jubel aus. Siegtreffer in der Nachspielzeit sind ohnehin schon Gänsehautlieferanten. Dieser Treffer aber hat das Potential, für immer unvergesslich zu werden. Sollte der BVB die Meisterschaft tatsächlich gewinnen, dann wird dieses Tor vermutlich auch in zehn Jahren noch als einer der Gründe genannt werden.
„Es war extrem laut und wie ein Heimspiel“
Durch seinen späten Treffer hält der 29-Jährige den BVB im Titelrennen. Zwar ist die Tabellenführung noch immer in Münchner Hand. Durch den späten Erfolg in Berlin bleibt der BVB aber punktgleich mit den Bayern. Gelingt nach der Länderspielunterbrechung ein Sieg gegen den VfL Wolfsburg, dann ist alles für das wohl vorentscheidende Spiel in München (6. April) angerichtet.
Nach dem Last-Minute-Siegtreffer feierte Kapitän Reus freudestrahlend mit der gesamten Mannschaft vor der Fankurve am Marathon-Tor. Sowohl links, als auch rechts des Tores bat die Mannschaft die mitgereisten Fans zur Laola-Welle. Zuvor feierten alle gemeinsam zu „Wer wird Deutscher Meister?“ und Pipi Langstrumpf im Olympiastadion. „Es war extrem laut und wie ein Heimspiel“, adelte Reus die Fans nach dem Spiel.
Zeitgleich schickte der sonst eher bescheidene Kapitän eine indirekte Kampfansage nach München: „"Wenn es so läuft wie heute, wird es schwer sein, uns aufzuhalten“, hält der gebürtige Dortmunder fest. „Wir werden da sein.“ Am Abend äußerte sich BVB-Sportdirektor Michael Zorc im "Aktuellen Sportstudio" ebenfalls ungewohnt offensiv in Richtung Titelrennen: „Wir gehen langsam auf die Zielgeraden der Saison zu und deshalb haben wir definiert, dass wir deutscher Meister werden wollen.“ Deutliche Worte in der Öffentlichkeit.
Weniger euphorisch als Reus und Zorc war Lucien Favre, der nach dem Spiel versuchte, alle Beteiligten auf dem Teppich zu halten. "Meine Antwort bleibt immer gleich“, sagte Favre. „Wir konzentrieren uns auf das nächste Spiel. Wir wollen alle Spiele gewinnen und fertig.“
Um alle Spiele zu gewinnen, wird der BVB mehr personelle Auswahl benötigen. Gegen Berlin musste die Mannschaft erneut wichtige Ausfälle kompensieren. Neben Axel Witsel fielen auch Paco Alcacer (Zerrung) und Mario Götze (Rippenbruch) kurzfristig aus. Beide Angreifer sollen im nächsten Punktspiel gegen den VfL Wolfsburg laut BVB aber wieder dabei sein.
Das wäre wichtig. Gegen die Hertha spielte mit Bruun-Larsen ein Jungspund und gelernter Mittelfeldspieler im Sturmzentrum. Häufig merkte man der Mannschaft an, dass der Stürmer fehlt. Die zweiten Bälle vor dem Tor konnten nicht verwertet werden. Ein kompletterer Kader als gegen die Hertha wäre aber auch wichtig, weil der BVB ein enorm schweres Restprogramm hat. Mit den Auswärtsspielen in München, Bremen und am letzten Spieltag in Mönchengladbach stehen dem BVB heiße Wochen bevor, sollte das Spiel in München nicht verloren werden.
Die gute zweite Halbzeit mit einer starken Schlussphase kann den Dortmunder aber Mut machen. Nachdem Jordan Torunarigha mit Gelb-Rot vom Platz flog (85.) drehte der BVB nochmal mächtig auf. Mit dem Sieg gegen Berlin bewies die Mannschaft, dass sie Drucksituationen standhalten kann – und doch reifer ist, als manch einer in den letzten Wochen geglaubt hat.
Die drei Punkte in Berlin waren drei Zähler der Moral. Und davon kann die junge, zum Teil verunsicherte Mannschaft in den nächsten Spielen noch einiges gebrauchen. Denn der nächste Rückschlag wird vermutlich kommen. Die Frage ist, wie die Mannschaft dann damit umgehen wird. Das Spiel gegen Berlin hat gezeigt: Das Selbstvertrauen ist da, das Mannschaftsgefüge in Takt und der Glaube an die eigenen Fähigkeiten so groß, wie in der Hinrunde.