Bühne frei - das Chaos kommt
Es war die 15. Vorführung des Dortmunder Ensembles im Theater „Westfalenstadion“ in dieser Saison und erneut inszenierte Regisseur Lucien Favre den Klassiker „Dr. Jekyll & Mr. Hyde“. Unsere Theaterkritik zur Vorstellung.
Dieses Stück wurde beileibe nicht das erste Mal in dieser Spielzeit auf der Bühne „Westfalenstadion“ gegeben. Es waren wahre Highlights darunter, beispielsweise unter dem Titel „Ex und Hopp“, als Mr. Hyde in 15 Minuten die Arbeit des Dr. Jekylls zerstörte. Oder im vergangenen Jahr, als die Augsburger Puppenkiste ein Gastspiel gab und die Rollen von Dr. Jekyll und Mr. Hyde in der Schlussphase des Stücks minütlich wechselten.
Und dieses Mal? Regisseur Favre hatte sich erneut dafür entschieden, die gespaltene Persönlichkeit des angesehenen Arztes von 11 Schauspielern gleichzeitig spielen zu lassen. Ein altbewährter Kunstgriff. Und weil jedes gute Theaterstück auch einen Antagonisten braucht, hatte man sich das Mainzer Unterhaus eingeladen, das aber nun schon seit 10 Jahren im Oberhaus tätig ist. Klarer Fall von Etikettenschwindel.
Auch das Publikum war frühzeitig auf Betriebstemperatur. Bereits vor dem Spiel wurde es immer wieder laut und zu Beginn des Theaters gab es ein nett anzusehendes Chaos auf der Südtribüne. Zudem hob ein großes Banner vor Spielbeginn den Theaternamen hervor: WESTFALENSTADION. Seit 1974 und für immer. Es kann nicht oft genug betont werden: So und nicht anders lautet der Name.
Erster Akt
Regisseur Favre hatte offenbar einen neuen Ansatz gewählt. Nach 90 Minuten des bösen Mr. Hyde in der letzten Woche, gab es heute die volle Portion Dr. Jekyll. Die 11 Schauspieler auf der Bühne zeigten sich von ihrer besten Seite und belohnten sich schnell durch Jadon Sancho, der zunächst die hervorragende Vorarbeit von Marius Wolf und Mario Götze verwertete und anschließend eine Hereingabe von Thomas Delaney über die Linie drückte. Weitere Großchancen blieben ungenutzt, aber Dr. Jekyll war die dominierende Kraft auf der Bühne. Nur ein ganz kurzes Mal blitzte Mr. Hyde auf, als Julian Weigl nach einem technischen Fehler den Mainzer Mateta ziehen lassen musste und Onisiwo dessen Hereingabe per Hackentrick an den Pfosten setzte. Ansonsten begaben sich die Gastspieler aus Mainz mit der Statistenrolle zufrieden und ließen der Spielfreude des Dortmunder Ensembles freien Lauf.
Zweiter Akt
Offenbar hatte die Statistenrolle den Mainzern nicht so zugesagt und so nahmen sie im zweiten Akt deutlich mehr am Schauspiel teil. Da aber auch die Dortmunder zunächst weiterhin ihrem Dr. Jekyll-Auftritt nachkamen, entwickelte sich ein munterer Schlagabtausch auf der Bühne.
Dies kippte gegen Mitte des 2. Aktes, als ein Ball am Dortmunder Pfosten landete und Dr. Jekyll sich offenbar plötzlich seiner Verwundbarkeit bewusst wurde. Sehr deutlich spielte Regisseur Favre in dieser Phase des Stücks auf Fassbinders „Angst essen Seele auf“ an. Mr. Hyde ergriff von Minute zu Minute mehr und mehr das Dortmunder Ensemble. Dr. Jekyll war verschwunden und kehrte nur einmal kurz vor Schluss zurück, als nach einem guten Zusammenspiel Marco Reus die große Chance auf den dritten Treffer des Abends hatte.
Es war dieser Moment, als Dr. Jekyll wieder die Oberhand hätte gewinnen können. Dann wäre es ein familienfreundliches Theaterstück gewesen, ein bisschen Gruseln zwischendurch, aber das Gute gewinnt.
Doch Regisseur Favre trieb das Drama auf die Spitze. Er ließ für den Rest des Stückes Mr. Hyde derart entfesseln, dass allen Zuschauern der Schweiß auf der Stirn stand. Jegliches schöne Spiel aus dem ersten Akt wurde durch reines Chaos ersetzt. Logische Konsequenz war der Mainzer Anschluss durch Quaison. Um die Spannung aufrecht zu erhalten ersetzten die Zweitbesetzungen Zagadou und Toprak die positionsfremden Erstbesetzungen Götze und Wolf, so dass am Ende 5 Innenverteidiger auf dem Platz standen. Geordnete Aktionen? Kombinationen? Zusammenspiel? Ab der 70. Minute war all dies nicht mehr zu sehen. Stattdessen Chaos, Angst, Panik: Mr. Hyde at its best. Chapeau an Regisseur Favre, für diese fast schmerzhaft überzeugende Darbietung.
Die Rettung durch den strahlenden Helden
Und während der Zuschauer, genau wie die Mannschaft auf der Bühne, atemlos wie das Kaninchen vor der Schlange auf das bittere Ende wartete, erlaubte sich Regisseur Favre das älteste Theatermotiv der Welt: die Rettung durch den Helden.
Roman Bürki verkörperte die Lichtgestalt, so wie er es schon einige Male diese Saison tat. Mit wortgewaltigen Monologen an seine Mitspieler, gestenreich und schier aberwitzigen Akrobatikeinlagen stemmte er sich dem Chaos entgegen und verhalf den Guten zum Sieg. Höhepunkt der Darbietung in der 88. Minute, als er, teils bereits auf der Bühne liegend, den Mainzer Anthony Ujah drei Mal daran hinderte, ins Allerheiligste vorzudringen.
Nachdem Deniz Aytekin den finalen Vorhang fallen ließ, war somit auch weniger Applaus und mehr kollektives Durchatmen auf den Tribünen zu vernehmen. Es wird noch einige Tage vergehen, bis die Zuschauer den Wert der Inszenierung erkennen und sich gegenseitig mit leuchtenden Augen erzählen: „Weißt du noch damals gegen Mainz? War das ein Chaos.“
Die Einzelkritik der Schauspieler:
Bürki: Jeder Roman braucht ein Happy End, jedes Theater seinen Helden.
Wolf (bis 78.): Wuchs im ersten Akt über sich hinaus und verkörperte seinen Part mit ungekannter Überzeugung. Aus dramaturgischen Gründen ausgetauscht.
Akanji: Abgeklärte Darbietung in Akt 1. Inmitten des Chaos in Akt 2 auf die rechte Bühnenseite versetzt.
Weigl: Gab als einziger in Akt 1 einen Fingerzeig darauf, was noch kommen könnte. Zeigte bereits die Zerbrechlichkeit des Dr. Jekylls.
Diallo: Wie so häufig in dieser Saison auf der linken Bühnenseite eingesetzt. Im ersten Akt mit wenig auffälligen Szenen, im zweiten Akt unter Dauerdruck mit großen Schwächen.
Delaney: Souveräne Vorstellung des Dr. Jekyll im ersten Akt, genauso souveräne Darstellung des Mr. Hydes im zweiten Akt.
Witsel: Siehe Delaney. Besonders beeindruckend, wie beide im zweiten Akt keinerlei Zugriff mehr auf die zentrale Bühne bekamen.
Bruun Larsen (bis 72.): Engagierte, aber höchst unglückliche Vorstellung.
Reus: Gab die graue Eminenz im Hintergrund. Hielt sich sehr zurück. Verpasste in der 83. Minute die Wiederbelebung des Dr. Jekylls.
Sancho: Starker Part des Dr. Jekylls, blass in der Phase des Mr. Hyde.
Götze (bis 89.): Sehr auffällig im ersten Akt, hielt sich im zweiten Akt am Rande des Chaos auf, ohne entscheidend eingreifen zu können.
Philipp (ab 72.): Sollte in der Offensive den Dr. Jekyll suchen und fand in der Defensive den Mr. Hyde gegen den starken Donati.
Zagadou (ab78.): Sollte die Lufthoheit über der Bühne gewinnen und ein Leuchtturm im Chaos werden. Klappte eher nicht so.
Toprak (ab 89.): Komplettierte die Innenverteidiger-Riege auf dem Platz.
Ein Held kommt selten allein
Roman Bürki alleine stemmte sich gegen das drohende Unheil. Alleine? Nein, noch einer wollte es mit aller Macht abwenden:
Dortmund im Herzen, den BVB auf der Brust. Auch neben dem Platz. Danke Marcel!