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#KeineSchwäche – Babak Rafati: "Im Fußball wird Druck generell unterschätzt"

04.12.2019, 13:21 Uhr von:  Michael
#KeineSchwäche – Babak Rafati: "Im Fußball wird Druck generell unterschätzt"
Babak Rafati während des Bundesligaspiels gegen den FC Augsburg 2011

Babak Rafati pfiff 186 Spiele in der ersten und zweiten Bundesliga und war mehrere Jahre lang FIFA-Schiedsrichter. Nachdem er einen Suizidversuch im November 2011 überlebte, machte er seine Depressionserkrankung öffentlich. Als Schiedsrichter war er nie wieder aktiv, stattdessen arbeitet er heute als Referent und Mentalcoach in Sport und Wirtschaft und hat eine Biografie veröffentlicht („Ich pfeife auf den Tod! Wie mich der Fußball fast das Leben kostete“).

Für unsere Reihe #KeineSchwäche über Depressionen und Druck im Profisport anlässlich des zehnten Todestages von Robert Enke haben wir mit ihm gesprochen, unter Anderem über seine Erkrankung, den Umgang mit ihr, Druck auf Schiedsrichter und warum er findet, dass der DFB diesem Thema nicht gerecht werde, Probleme bei der Umsetzung des Videobeweises und Gewalt gegen Referees.

WICHTIG: Depressionen können jeden treffen. Sie sind keine Einbildung, sondern eine Krankheit, die mittlerweile gut behandelt werden kann. Wenn ihr akut Hilfe braucht, wendet euch an die Telefonseelsorge unter 0800 111 0 111 und 0800 111 0 222 (kostenlos).

Babak Rafati und Kuba im April 2010

Herr Rafati, als Sie sich entschieden, Schiedsrichter zu werden, ahnten Sie nicht, welche Auswirkungen diese Tätigkeit auf Ihr gesamtes Leben haben wird. Würden Sie aus heutiger Sicht den Entschluss wieder treffen? Oder wären Ihnen viele schlimme Erfahrungen erspart geblieben?

Ich war 25 Jahre Schiedsrichter und ich würde es immer wieder tun. Die ersten 23 Jahre waren eine tolle Zeit und haben mein Leben positiv geprägt. Die letzten zwei Jahre waren brutal, aber nicht wegen des Jobs an sich. Vielmehr wegen des Umgangs mit mir seitens meiner Führungskräfte beim DFB.

Wie sind Sie zu Ihrer aktiven Zeit mit der Tätigkeit als Schiedsrichter im Alltag umgegangen? Haben Sie gerne darüber gesprochen und mit Freunden, Arbeitskollegen diskutiert oder war es Ihnen lieber, im Alltag nicht auch noch damit beschäftigt zu sein?

Ich habe gerne darüber gesprochen. Das ist ein Privileg, Teil der Bundesliga zu sein. Das muss einem wirklich bewusst sein. Natürlich änderte sich das schlagartig während meiner Krise in den letzten zwei Jahren.

Druck ist ein Stressverstärker, was uns mental total fertig macht.

Keiner macht gerne Fehler und als Schiedsrichter ärgert man sich natürlich besonders. Wie ging es Ihnen, insbesondere in der Zeit vor Ihrer Erkrankung, in den Tagen nach einer Fehlentscheidung? Hat es Sie gestört, wenn Sie darauf angesprochen wurden oder gehörte es für Sie dazu?

Es hat mich geärgert und ich habe viel darüber nachgedacht. Das sind Denkmuster, die jeder am Arbeitsplatz kennt. Gerade als Mann holt man seinen Selbstwert über den Job, deshalb tun Fehler dem Ego unwahrscheinlich weh. Aber heute lebe ich eine andere Fehlerkultur. Wir sind Menschen und Fehler sind menschlich. Wenn wir uns reinsteigern, entsteht Druck, und Druck ist ein Stressverstärker, was uns mental total fertigmacht. Es gibt Strategien, wie man mit Fehlern umgehen kann. Das hilft mir heute ungemein.

In Ihrer Biografie beschreiben Sie, wie schwierig es für Sie war, die Diagnose Depression zu akzeptieren. Was waren Ihrer Meinung die Ursachen für diese lange Weigerung und hätte ein besseres Wissen über Depressionen Ihnen die Akzeptanz erleichtern können?

Ja, ein Wissen über dieses Thema hätte mir definitiv geholfen und vieles verhindert. Die Ursache fängt daher viel früher an. Es geht zunächst einmal los mit Fehlern, Umgang untereinander, Respektlosigkeit, Social Media, kein Stammplatz, Selbstzweifel, Antriebslosigkeit, Schlaflosigkeit, Gedankenkino und so weiter. Wir glauben, dass uns der Job oder der Chef krank macht. Das habe ich damals auch gedacht.

Joachim Löw hat neulich gesagt, dass es nicht mehr um schneller, weiter oder höher geht. In diesem Geschäft sind alle ähnlich gleich gut. Die Zukunft wird im Kopf entschieden. Wir müssen uns im mentalen Bereich und somit die Selbstführung stärken. Dann verstehen wir die Zusammenhänge. Warum mein Trainer oder Chef so ist und dass er das gar nicht böse meint. Die Motive, die Ursachen und vor allen Dingen uns selbst müssen wir verstehen. Dann entsteht eine Persönlichkeitsentwicklung und wir können nichts mehr auf dieser Welt verlieren.

Im Fußball wird dieses Thema generell unterschätzt. In der freien Wirtschaft hat man das Problem schon längst erkannt.

Depression entsteht überwiegend deshalb, weil wir vieles einfach nicht verstehen. Dieses Unwissen reißt uns dann herunter und wir verfallen in Ohnmacht. So war das bei mir auch. Übrigens, viele Verletzungen im Spitzensport entstehen stressbedingt und werden vom Kopf gesteuert. Die mentale und körperliche Verfassung ist somit in gleicher Weise von Bedeutung.

Werden Schiedsrichter auf ihrem Weg in die Bundesliga psychologisch auf die unvermeidbar entstehenden Drucksituationen vorbereitet?

Nein, dort ist das überhaupt kein Thema. Im Fußball wird dieses Thema generell unterschätzt. In der freien Wirtschaft hat man das Problem schon längst erkannt. Dort gibt es das betriebliche Gesundheitsmanagement und dabei geht es genau darum, Strategien gegen Druck und Stress anzuwenden. Nach dem Motto: Gesunde Unternehmen brauchen gesunde Mitarbeiter.

Rafati als Referent

Es gab bei Ihnen sehr früh Warnsignale, dass Sie psychische Probleme hatten. Sie selbst, aber auch andere stellten in der Zeit vor Ihrem Suizidversuch fest, dass Sie sich verändert haben. Hat der DFB mittlerweile eine Art Frühwarnsystem für solche Fälle oder eine Anlaufstelle für Schiedsrichter mit psychischen Problemen?

Es gibt Psychologen, genauso wie bei den Vereinen auch. Sie haben natürlich auch ihre Berechtigung und leisten gute Arbeit. Wie mir aber von Schiedsrichtern und Spielern berichtet wird, steht im Vordergrund, ein paar Prozent mehr herauszukitzeln. Es bleibt kein Raum dafür, über Schwächen, Ängste und Gefühle zu sprechen.

Mich hat mal ein Profifußballer über meine Homepage kontaktiert und wollte von mir gecoacht werden. Er sagte: „Sie kennen das doch. Mein Trainer stellt mich nicht auf. Meine Mitspieler haben Konkurrenzkampf und belächeln mich. Mein Spielerberater macht Druck. Die Presse haut drauf. Ich habe keine Lust, mit meiner Frau etwas zu unternehmen. Was soll ich tun?“ Ich habe ihn aus eigener Erfahrung verstanden und ihm somit helfen können. Mittlerweile hat er einen Stammplatz und einen Zweijahresvertrag unterschrieben.

Die Einführung von Profischiedsrichtern bringt in Sachen Druck- und Stressreduzierung gar nichts.

In ihrer Biographie zeichnen Sie ein verheerendes Bild der Strukturen beim DFB. Auch Manuel Gräfe hatte vor einiger Zeit ähnliche Anschuldigungen erhoben, was schließlich in der Absetzung von Herbert Fandel und Hellmut Krug mündete. Haben Sie das Gefühl, dass sich mittlerweile die Situation verbessert hat?

Ich habe in meinem Buch die Parallelen vom Spitzensport zum Berufsalltag aufzeigen wollen, damit die Leser gewarnt sind, was passieren kann, wenn man nicht auf sich Acht gibt. Ich habe nunmehr mit dem Kapitel DFB abgeschlossen. Ich weiß, dass intern noch vieles schief läuft. Auch ein Grund, warum zum Beispiel der Videobeweis katastrophal umgesetzt wird. Weil es immer noch viele strukturelle und personelle Probleme gibt.

2015 betonten Sie in einem Interview, dass Sie bewusst keine Kritik mehr am DFB üben wollen. Stattdessen boten Sie an, gemeinsam über die Vorgänge und Probleme zu reden und Verbesserungen zu entwickeln. Hat der DFB sich mittlerweile bei Ihnen gemeldet?

Nein, bisher nicht. Aber wir haben ja seit ein paar Tagen einen neuen Präsidenten, der wie man hört einen Sinn für Werte hat. Sollte meine Expertise beim DFB gefragt sein, stehe ich jederzeit zur Verfügung. Wir müssen die atmosphärische Störung zwischen den Schiedsrichtern auf der einen und den Vereinen, Spielern und Medien auf der anderen Seite verbessern. Eine andere Fehlerkultur, ein angemessenes Stressmanagement, ein Miteinander statt Gegeneinander. Es geht um den deutschen Fußball und die Schiedsrichter sind ein Teil davon.

Könnten Sie sich vorstellen, in das Fußballgeschäft zurückzukehren?

Der Referee im Heimspiel gegen den FC Augsburg 2011

Ich bin bereits als Kolumnist beim Sportbuzzer tätig. Dabei geht es mir darum, den Fans eine andere Perspektive aufzuzeigen. Nichts schön zu reden, sondern fachlich und sachlich zu analysieren. Ich kann heute den Ärger der Fans verstehen, wenn Sie über uns Schiedsrichter schimpfen. Da sind wir zum größten Teil selbst schuld. Bei mittlerweile so vielen strittigen Schiedsrichterentscheidungen könnte man jede Woche eine Extra-Sendung dafür machen. Aber nicht vom DFB gesteuert, sondern mit unabhängigen Statements.

Sie sind auch zu Ihrer Arbeit in die Sparkasse gegangen, wenn Sie krank waren, da Sie aufgrund der Schiedsrichtertätigkeit schon häufig fehlten. Halten Sie die Einführung des Profischiedsrichters für eine Möglichkeit, Stress und Druck zu reduzieren?

Das bringt in Sachen Druck- und Stressreduzierung gar nichts. Ich arbeite heute als Referent in Unternehmen und als Mentalcoach für Manager und Fußballer zeitlich mehr als früher. Mit meiner Frau weiten wir sogar unsere Tätigkeit ins Ausland aus. Es gibt somit richtig viel zu tun. Mehr arbeiten, mehr Stunden. Das macht einen nicht krank.

Stress und Druck wird es immer geben. Entscheidend ist, richtig damit umzugehen, was wir daraus machen. Ich nenne es Gedankenmanagement. Nicht die Umstände – Halbprofi oder Profi – sind die Lösung, sondern dass wir unseren Blickwinkel verändern.

Der Videobeweis an sich ist wunderbar, aber die Umsetzung katastrophal.

Seit einigen Jahren kommt der VAR zum Einsatz und es wird immer noch hochemotional über ihn gestritten. Hätten Sie sich zu Ihrer Zeit eine solche „Rückfallebene“ gewünscht oder erhöht der VAR in Ihren Augen den Druck, da Fehler nun noch intensiver diskutiert werden und der Schiedsrichter schon während des Spiels seine Fehler vorgehalten bekommt?

Ich hätte die gleichen Probleme wie damals. Die Vereine glauben immer, dass der Videobeweis das Problem ist. Der Videobeweis an sich ist wunderbar, aber die Umsetzung katastrophal. Von der Historie her wollten die meisten Schiedsrichter den Videobeweis gar nicht. Aber die Anweisungen der FIFA mussten übernommen werden. Die Schiedsrichter haben über zig Jahre gelernt, der Chef auf dem Platz zu sein. Nun kommt ein Videoschiedsrichter, der auch noch ein Konkurrent ist, und der will korrigieren. Hinzu kommt, dass jeder anders pfeift. Der eine großzügiger und der andere kleinlicher. Diese zwei verschiedenen Spielphilosophien prallen aufeinander. Es kommt zu einer uneinheitlichen Auslegung. Zudem kommen viele interne Probleme hinzu.

Eine Fehlentscheidung kann im schlimmsten Fall einen Verein Millionen oder einem Trainer den Job kosten. Wendet man den Blick zu anderen Sportarten, wird dort mit Schiedsrichterfehlern häufig deutlich nachsichtiger umgegangen. Brauchen wir im Fußball eine andere Fehlerkultur oder ist das angesichts der finanziellen und öffentlichen Dimensionen nicht durchsetzbar?

Das ist Wunschdenken und aus diversen Gründen nicht realisierbar. Jeder Einzelne muss sich selbst den Anforderungen stellen und persönlich an sich arbeiten.

Ein großes Thema ist derzeit die Gewalt gegen Schiedsrichter in den unteren Klassen. Abgesehen davon, dass dies auch ein gesamtgesellschaftliches Thema ist, welche Maßnahmen schlagen Sie vor, um hier entgegenzuwirken?

Ich halte nichts von Streiks oder Sperren. Zu glauben, dass sich Gewalttäter davon beirren lassen, ist nicht zu Ende gedacht. Die können sich dann wo anders austoben. Menschen, die Gewalt ausüben, haben ein Problem und brauchen Hilfe. Eine psychologische Begleitung über Jahre. Noch effektiver wäre es zudem – und jetzt wird es wichtig –, wenn wir alle in der Gesellschaft mehr Mut hätten. Der fehlende Mut ist das größte Problem.

In den meisten Fällen gibt es einen Einzeltäter. Alle anderen gucken dabei zu. Die sind aber gefragt. Heute wird zugeschlagen. Alle gucken zu. Es wird gemobbt. Alle gucken zu. Es passiert so vieles. Alle gucken zu. Jeder sollte sich einmal richtig durchschütteln und selbst hinterfragen, wie er es finden würde, wenn man so etwas mit seinen Angehörigen, Kindern, Frauen, Eltern oder Freunden machen würde. Wir sind es selbst, die es nicht schaffen, so etwas zu stoppen. Ich appelliere an mehr Zivilcourage. Packen wir es an und reden wir nicht immer nur darüber.

In unserer Reihe #KeineSchwäche sind bereits erschienen:

Teil 1: SG Spezial: #KeineSchwäche – 10 Jahre nach Robert Enkes Tod

Teil 2: Ciriaco Sforza: "Ich würde es begrüßen, wenn jeder Verein dieses Thema professionell behandelt."

Teil 3: #KeineSchwäche – "Gemeinsam das Leben festhalten." Die Robert-Enke-Stiftung

Teil 4: #KeineSchwäche: "Das ist der Balanceakt" – Im Gespräch über Depressionen im Profisport mit Sportpsychologe Sebastian Brückner

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