Entschuldigung, Lucien Favre
Borussia Dortmund verpflichtet Lucien Favre für die Saison 2018/2019. Ich gebe zu, dass ich nicht gerade Purzelbäume geschlagen habe, als diese Verpflichtung bekannt gegeben wurde. Natürlich, da waren Erinnerungen an die merkwürdigen Abgänge bei seinen Stationen in Berlin und Gladbach, die ein sehr vordergründiges Bild eines Zauderers und Zweiflers bei den Leuten in Fußballdeutschland hinterlassen haben, die nicht so nah dran waren wie im Rheinland oder der Hauptstadt. Viel skeptischer war ich allerdings, weil Lucien Favre für mich in der Erinnerung immer fußballerisch als ein Prototyp für den Vertreter des Konterfußballs stand. Hinten mit Spielern wie Dante sicher stehen und vorne mit Reus und Hermann alleine aufs Tor zulaufen.
Auch eine statistische Analyse speziell von Favres Arbeit aus dem Buch „Die Fußballmatrix“ von Christoph Biermann schien mein Bild erst zu bestätigen. In der Regel überlassen Mannschaften von Favre dem Gegner den Ball recht bereitwillig in den ungefährlichen Zonen und gehen erst dann entschlossen zu Werke, wenn wirkliche Torgefahr droht. Bei eigenem Ballbesitz dann fast umgekehrt. Man sucht den Abschluss erst dann, wenn man in eine Position gelangt ist, aus der man mit statistisch hoher Wahrscheinlichkeit zum Torerfolg kommt. Und wo könnte die Wahrscheinlichkeit höher sein, als wenn man allein oder zu zweit mit ganz viel Platz auf das gegenüberliegende Tor zu rennt? Das alles führte mich zu der Erwartung, in dieser Saison eine Häufung mehr oder weniger souveräner, aber auch irgendwie langweiliger Siege mit Ergebnissen wie 1:0 oder 2:1 zu erleben und zu der Frage, ob dieser Fußball wirklich mit dem Westfalenstadion und seinem Publikum, das mittlerweile einfach einen gepflegten Ball erwartet, so komplett kompatibel sein würde.
Dementsprechend skeptisch, ja nahezu misstrauisch habe ich den Start in die Saison beäugt. Sicherlich auch unter dem Eindruck der letzten Saison, in der sich Borussias sportlicher Glanz nur all zu schnell als potemkinsches Dorf entpuppte. Und obwohl die Ergebnisse mit 4:1 gegen Leipzig und einem 3:1 gegen Frankfurt zumindest in den Heimspielen meine Erwartungen übertrafen, fühlte ich mich in meinen Befürchtungen eher bestätigt. Die Siege waren mehrr das Ergebnis einer äußerst effizienten Chancenverwertung, die spielerische Darbietung über weite Strecken jedoch nicht deutlich über dem Niveau des Fußballs unter Peter Stöger. Die im Vorfeld häufig erwähnte akribische Arbeit im Passspiel, bei der Favre seinen Spielern sogar die optimale Fußstellung einimpfe, erschloss sich mir beim Blick auf das Spielgeschehen kein Stück und vor allem in den Auswärtsspielen in Hannover und in Brügge machte man sich mehrere Angriffe schon im Ansatz selber durch eine bekannt schlampige und wenig zielgerichtete Ballweitergabe selber zunichte. Zu diesem Zeitpunkt wäre meine Antwort auf die Frage, ob es eine gute Idee war, Lucien Favre aus Nizza loszueisen eher ein „Nunja, wir hatten ja auch kaum Alternativen“ gewesen.
Zwei Monate später hat unsere Borussia wettbewerbsübergreifend schon 39 Tore erzielt, steht sowohl in der Bundesliga, als auch in unserer Champions-League Gruppe jeweils auf dem ersten Platz und hat mit Atletico Madrid ein Schwergewicht des europäischen Fußballs mit 4:0 amtlich aus dem Stadion gefegt. Der Fußball ist mittlerweile über weite Strecken beeindruckend gut, hat aber immer noch seine liebenswert unperfekten Momente, die ihn weniger entrückt und überirdisch erscheinen lassen, wie den der Bayern zu ihren absoluten Hochzeiten unter Guardiola. Das Spiel unserer Borussia hat einerseits Momente, in denen man mit der Zunge schnalzt, aber auch noch einige, wenige, in denen man sich denkt, dass es zu Gunsten des Gegners kippen könnte. Ganz besonders auffällig ist dabei, wie leicht und sicher der Ball mittlerweile zum größten Teil durch die eigenen Reihen wandert. Wo in der letzten Saison ein Sokratis die Bälle noch hoch und weit in Richtung Oberrang geklärt hat, spielen sich Diallo, Akanji und Zagadou in wechselnden Besetzungen ruhig und abgeklärt die Bälle zu und auch unter Bedrängnis sauber von hinten heraus. Gegen die Hertha konnte man offensiv auf den Außenbahnen ein Dreieckspiel sehen, dass mich in seiner Selbstverständlichkeit an den Auftritt von Real Madrid in der Gruppenphase der letzten Saison erinnerte. Dass es zum Schluss nicht zu drei Punkten reichte, lag im Endeffekt an einer schwachen Ausnutzung von Größtchancen und zum Ende hin an mangelnder Erfahrung. Nicht dramatisch, vielleicht sogar zwangsläufig bei so einer jungen Mannschaft. Am Ende stand ein bisschen Enttäuschung über den späten Ausgleich, aber ungleich mehr Freude über einen Fußball, dem man einfach gerne zuschaut. Dass „Favre-Fußball“ so viel Spaß macht, hätte ich nicht gedacht.
Unter dem Strich hatte ich in den letzten vier Wochen im Stadion mehr Spaß als in der gesamten letzten Saison zusammengenommen. Last-Minute-Sieg, Kantersieg, Spiel gedreht, Sieg gegen ein großes Team – da waren eigentlich alle Facetten bei, die der Fußball einem bieten kann. Natürlich wird es auch mal eine Durststrecke im Laufe der Saison geben, das ist unvermeidlich. Aber so langsam ist es Zeit, all die Verweise auf den Bosz-Start in der Versenkung verschwinden zu lassen. Favre hat es in bravourös kurzer Zeit geschafft, der Mannschaft eine sportliche Substanz zu geben, die auf einem viel höheren Niveau als in der letzten Saison.
Danke dafür… und bitte mehr davon.