Der Zerfall des Leuchtturms
Die Fans gehen mit der Mannschaft aktuell schwer ins Gericht. Von Versagen und Charakterlosigkeit ist die Rede. Dabei sind die aktuellen Leistungsschwankungen vor allem das Ergebnis eines mehrjährigen sportlichen Verfallsprozesses, der durch den Anschlag noch beschleunigt wurde. Gefragt ist nun vor allem die sportliche Leitung.
Während der BVB trotz Derbyniederlage und einer weiteren Niederlage gegen Mainz auf Platz drei steht, bewegt sich die Stimmung der Fans eher auf Relegationsniveau. Im Fokus der Kritik steht vor allem die Mannschaft, der kollektives Versagen und Charakterlosigkeit vorgeworfen werden. Schon etwas länger steht der Vorwurf im Raum, dass die Spieler gerade in den besonders wichtigen Spielen ihre Leistung nicht abrufen würden, während sie in vermeintlich bedeutungslose Gegner wie gegen Leverkusen auf einmal doch zeigen, was sie alles können. Die Kritik klingt sehr nach der einfachen Erklärung, man müsse nur wollen, um das gewünschte Ergebnis zu erreichen. Tatsächlich gibt es immer wieder Partien, in denen bei den Spielern Lustlosigkeit zu herrschen scheint. Dennoch wird mit der Kritik nur an der Oberfläche gekratzt. Um auf dem Niveau Fußball zu spielen, das der BVB anstrebt und das die Fans von ihm erwarten können, muss weit mehr stimmen als die Einstellung. Und das ist vor allem eine Aufgabe der sportlichen Leitung.
Schaut man sich die allgemeine Entwicklung des Vereins in den vergangenen Jahren an, dann ist die aktuelle sportliche Performance im Grunde wenig verwunderlich. Es war nach den Jahren 2010 bis 2013 ohnehin kaum zu erwarten, dass die sportliche Erfolgsserie im gleichen Maße fortgesetzt werden könnte. Ein Pokalerfolg und verschiedene Vizemeisterschaften sind fraglos eine gute Ausbeute, allerdings fehlte zugleich international nahezu jedes Ausrufezeichen, was bereits auf einen gewissen Qualitätszerfall hindeutet. Als Jürgen Klopp 2015 zurücktrat, sprach er vergleichsweise offen an, dass er mit seiner Entscheidung verhindern wolle, dass sich an anderer Stelle sehr viel verändern müsse. Über diese Bemerkung wurde zumindest öffentlich erstaunlich wenig diskutiert, und der sportliche Erfolg in der ersten Tuchel-Saison ließ sie dann vollends in Vergessenheit geraten. Heute wüsste man gerne mehr darüber, was Klopp damals meinte und was es vielleicht mit unseren Problemen von heute zu tun hat.
Viel ist in der Fehleranalyse über den aus Dortmunder Sicht verheerenden Transfersommer 2016 gesprochen worden, in dem mit Mats Hummels, Ilkay Gündogan und Henrikh Mkhitaryan gleich die drei wichtigsten Stützpfeiler des unter Tuchel zunächst so starken BVB den Verein verließen, während von den Neuzugängen die drei Talente Emre Mor, Mikel Merino und Ousmane Dembélé bereits wieder weg sind – immerhin wirtschaftlich ein gutes Geschäft, während die vier verbliebenen Mario Götze, André Schürrle, Raphaël Guerreiro und Sebastian Rode – häufig auch aufgrund von Verletzungen – ihre Erwartungen allesamt nicht erfüllen konnten, auch wenn bei den beiden Weltmeistern in dieser Saison zumindest gelegentliche Lichtblicke zu beobachten waren. Der schleichende Qualitätsverfall wird in dieser Transferperiode besonders deutlich, ist aber ein dauerhaftes Problem.
2015 - ein verschenkter Transfersommer
Im Rückblick betrachtet war allerdings wohl bereits 2015 ein verschenkter Sommer. Die Wahl von Thomas Tuchel als neuem Cheftrainer war naheliegend und wurde trotz der Hinweise auf den schwierigen Charakter des Trainertalents weitgehend begrüßt. Doch auch wenn seine erste Saison tatsächlich ansprechenden Fußball brachte und punktemäßig eine herausragende Leistung darstellte, hat Tuchel bereits in diesem Sommer sein späteres Scheitern eingeleitet. Er machte sich in der Führungsetage des Vereins zunächst vielleicht allzu beliebt, als er verkündete, keine Transferforderungen zu stellen und erst einmal alle Spieler kennenlernen zu wollen. Allerdings zeigte sich in den folgenden zwei Jahren recht deutlich, dass Tuchel in vielen Fällen zwischen den Spielern unterschied, die unter Klopp Erfolge feierten, oder die erst relativ neu im Verein waren. Offenkundig wollte Tuchel eine neue Mannschaft mit eigener Handschrift aufbauen, vermutlich weil er der Ansicht war, dass sich eben doch mehr ändern musste als nur der Trainer. Ein sauberer Schnitt bei seinem Amtsantritt wäre wohl die bessere Wahl gewesen, mit der gewählten Strategie hingegen hat er so viel Porzellan zerschlagen, dass der Schaden am Ende größer war als der Nutzen.
Aber Thomas Tuchel ist beim BVB Geschichte und so stellt sich mit Blick auf die Zukunft mehr die Frage, was die sportliche Leitung inklusive Hans-Joachim Watzke zu dem Scheitern des Trainers und des von ihm begonnenen Umbruchs beigetragen hat. Vieles lässt sich mangels Einblick nur mutmaßen, es ist jedoch gut erkennbar, dass die Hierarchien und die Kommunikation im Verein nicht mehr stimmten. Besonders deutlich wurde dies im Falle von Sven Mislintat, dessen Leistung als Chefscout allgemein gewürdigt wurde, dessen Konflikt mit Tuchel von der Geschäftsführung so schlecht moderiert wurde, dass es ihn, versüßt durch ein Vielfaches des bisherigen Gehalts, nach England lockte. Mit der faktischen Ausschaltung des Chefscouts für eineinhalb Jahre war allerdings an eine ausgewogene Kaderplanung schon nicht mehr zu denken. Dass die Verpflichtung der WM-Helden Schürrle (auf Wunsch Tuchels) und Götzes (auf Wunsch Watzkes) ein unausgegorener Kompromiss war, der zu keiner Zeit geeignet war, den Abgang der drei erwähnten Stützpfeiler aufzufangen und den ebenfalls verpflichteten Talenten Halt zu geben, war schon damals absehbar. Im Grunde hat eine bereits vom Trainer nicht mehr überzeugte Geschäftsführung damit ein Umfeld, das für Leistungen auf Top-Niveau nicht mehr geeignet war, nicht nur toleriert, sondern aktiv befördert.
Dass sich dann in den letzten Monaten der Amtszeit Tuchels die Geschäftsführung offenkundig mit einigen Spielern gegen den Trainer verbündete und dies auch recht unverhohlen kommunizierte, kann sich auf die Hierarchie der Mannschaft und ihr Binnenleben ebenfalls nicht positiv ausgewirkt haben. Besonders prominent war dies bei Nuri Sahin und Marcel Schmelzer zu beobachten. Beide Spieler sind verdiente Borussen, die sich in der Historie des Vereins einen unauslöschlichen Platz erspielt haben. Sie agierten in diesem Konflikt auch nicht nur als Vertreter eigener Interessen, sondern brachten auch den Unmut eines wesentlichen Teils der Mannschaft zum Ausdruck. Allerdings sind es auch zwei Spieler, die in ihren jeweiligen Rollen trainerübergreifend umstritten sind. Bei Nuri Sahin hat dies wohl vor allem sportliche Gründe: Er kommt unter Peter Stöger wie schon unter Tuchel beinahe gar nicht mehr zum Einsatz. Bei Schmelzer hingegen konzentriert sich die Kritik vor allem auf seine Rolle als Kapitän, während er - zumindest bis vor kurzem - sportlich meist Stammspieler war. Für eine gespaltene Mannschaft, in der es neben vielen Kritikern durchaus auch Anhänger von Tuchel gab und gibt, war es vermutlich pures Gift, dass die Nähe dieser und anderer Spieler zur Geschäftsführung so offensichtlich wurde. Die öffentliche Kommunikation in dieser Frage kann also nur als desolat bezeichnet werden.
Der Anschlag beschleunigte die Verfallsprozesse
All die Konflikte zwischen Geschäftsführung, sportlicher Leitung und dem Trainerteam wurden durch den Anschlag vor dem Spiel gegen Monaco erheblich verschärft. Man wird von keinem der Verantwortlichen erwarten können, dass sie in einer solchen Ausnahmesituation alles richtig machen. Über den Ablauf der Ereignisse unmittelbar nach dem Anschlag sind mittlerweile mehr Versionen im Umlauf als man zählen kann. Letztlich gehört auch dies der Vergangenheit an. Was jedoch noch immer anhält, ist die psychologische Wirkung auf die Spieler. Matthias Ginter hat dies in besonderer Weise zum Ausdruck gebracht, und die meisten Spieler leiden noch immer unter den Folgen des Verbrechens. Es ist allerdings faszinierend zu beobachten, wie wenig dies sowohl von Experten als auch von Fans abseits allgemeiner Sympathiebekundungen in die konkrete Leistungsbewertung mit einfließt. Individuelle Höchstleistungen sind allerdings auf Dauer nur möglich, wenn Körper und Geist auf höchstem Niveau agieren. Letzteres dürfte momentan nur bei wenigen Spielern der Fall sein. Leistungsschwankungen sind da völlig normal. Noch wichtiger dürfte der gruppendynamische Effekt sein, da psychische Belastungen eher zu einem Rückzug auf sich selbst oder zu engen Bezugspersonen wie die Familie führen als zu einem Zusammenrücken mit Kollegen. Dies gilt vor allem dann, wenn die gemeinsame Auseinandersetzung mit dem Erlebten in einem Umfeld kaum möglich ist, in dem persönliche Schwäche noch immer kaum akzeptiert wird. Aus einer Mannschaft wird in diesem Prozess leicht eine Ansammlung von Einzelspielern.
Die zuletzt von Roman Weidenfeller benannten Disziplinlosigkeiten in der Kabine haben hier wohl eine ihrer Ursachen. Hinzu kommt eine durch Eingriffe der Geschäftsführung fehlkonzipierte Hierarchie, die nicht durch sportliche Leistung untermauert werden kann. Und offenkundig gab es auch charakterlich einige Fehlgriffe, die über das Wechseltheater von Dembélé und Aubameyang hinausgehen. Die Gerüchteküche ist diesbezüglich reich wie selten, was für sich genommen ein weiterer Ausdruck von mangelnder Geschlossenheit ist, da andernfalls solche Dinge intern geregelt werden würden.
Die Problemliste ist also schon lang, bevor man überhaupt mit dem Verlauf der gegenwärtigen Saison begonnen hat. Dass auf Tuchel mit den beiden Peter gleich auch zwei ganz verschiedene Ansätze von Fußball auf die Trainerbank gesetzt wurden, ist ein Stück weit dem engen Trainermarkt geschuldet, aber fraglos auch ein Zeichen von Orientierungslosigkeit. Vermutlich erhoffte sich die sportliche Leitung bei der Verpflichtung von Bosz, wieder auf die strategische Linie von Erfolgstrainer Klopp einschwenken zu können, doch der bereits vorhandene Ballast und die sportliche Herausforderung waren für den sympathischen Holländer zu groß. Die Verpflichtung von Peter Stöger kann wohl nur als der Versuch gewertet werden, Schlimmeres zu verhindern. Dies ist unter dem beinahe vollständigen Verlust jeder spielerischen Idee im Wesentlichen auch gelungen. Dennoch steht der BVB ein weiteres Mal vor einem Neuanfang, dieses Mal jedoch auf einem geringeren Niveau als noch vor einem Jahr.
Den Spielern mangelnde Motivation vorzuwerfen, reicht nicht
An den neuen Trainer werden also größere Anforderungen gestellt sein als nur die Jungs zu motivieren. Bruno Labbadia wäre also wohl die falsche Wahl. Der BVB braucht wieder eine klare Spielphilosophie und muss den Kader entsprechend umbauen. Dass Handlungsbedarf besteht, wird auch von den Verantwortlichen anerkannt, die Verpflichtung von Sebastian Kehl und Matthias Sammer ist in dieser Hinsicht mehr als ein Fingerzeig. Freilich sollte man sich bei beiden Personalien mit allzu großen Erwartungen zurückhalten. Sebastian Kehl war ein großer Spieler und ist zweifellos eine Führungs- und Integrationsfigur, allerdings ist er auch Berufseinsteiger. Wie jeder Neueinsteiger wird er eine gewisse Eingewöhnungszeit benötigen. Matthias Sammer wiederum wird als Berater sicher einige strategische Entscheidungen mitgestalten können, aber ohne Einbindung in das Tagesgeschäft können die Effekte im kurzlebigen Bundesligageschäft schnell verpuffen.
Es bleibt für die sportliche Leitung also viel zu tun, um den zweiten Leuchtturm des deutschen Fußballs, den Watzke einmal als das strategische Ziel des BVB benannt hat, wieder zum leuchten zu bringen. Ein Großteil der aktuellen Probleme ist hausgemacht, auch wenn die Gegebenheiten des Transfer- und Trainermarkts sich aus Dortmunder Sicht in den letzten Jahren besonders negativ auswirkten und der Anschlag mit seinen nicht zu ignorierenden Nachwirkungen bis heute zu den Leistungsschwankungen beiträgt. Angesichts solcher Rahmenbedingungen würde wohl kaum ein Spieler konstante Leistungen abrufen können, das teils blamable Auftreten gerade in wichtigen Spielen erklärt sich wohl aus einer Kombination von Qualität der Gegner und der besonderen Motivation, die diese in solchen Spielen ebenfalls haben. Dass ausgerechnet der langjährige Borusse Marcel Schmelzer im Derby seine wohl schwächste Saisonleistung anbot, hat sicherlich nichts damit zu tun, dass er die Bedeutung der Partie nicht verinnerlicht hat. Bei aller verständlicher Frustration nach einem solchen Spiel, die man natürlich auch zum Ausdruck bringen darf, sollten auch die Fans ihren Beitrag leisten, um die Borussia wieder auf Kurs zu bringen. Dabei hilft eine pauschale Generalabrechnung (von Kopfabschneidegesten gegenüber Spielern, die vor einem Jahr Opfer eines Attentats waren, ganz abgesehen) ebenso wenig wie die immer weiter verbreitete Haltung, Spieler lediglich noch als Söldner zu verstehen, denen der Verein ohnehin am Arsch vorbeigeht. Auch in dieser Mannschaft gibt es genug Spieler, denen der Verein aufrichtig am Herzen liegt und die gerne unsere Farben tragen. Und alle sind nach Dortmund gekommen, um hier Erfolge zu feiern. Hierzu sind wir Fans aufgerufen, kritisch, aber konstruktiv unseren Teil beizutragen, und dabei sollten wir nicht nur die Mannschaft, sondern auch die sportliche Leitung stärker in die Verantwortung nehmen.