Unsa Senf

An die Herren der UEFA

27.10.2018, 11:00 Uhr von:  Nadja
An die Herren der UEFA

Von der naiven Hoffnung getragen und von blauen Flecken übersät, möchte ich mich an die Herren der UEFA richten und sie auf eine kleine Reise einladen.

Liebe Herren der UEFA, Sie kennen mich nicht, daher möchte ich mich kurz vorstellen: ich bin 33 Jahre alt, fahre seit 1995 regelmäßig zum Fußball und besitze seit 2005 eine Dauerkarte für die Südtribüne in Dortmund. Ich habe in meinem Leben bisher etwas über 500 Fußballspiele live im Stadion gesehen. Heißt also, ich bin in den letzten 23 Jahren im Schnitt jede zweite Woche in einem Fußballstadion gewesen, Winter- und Sommerpause durchgehend. Ich habe daher durchaus eine gewisse Erfahrung mit Stadionbesuchen aufgebaut.

Ich weiß, dass Sie die Spiele im Stadion meistens in der VIP-Lounge bei Champagner und Kaviar verfolgen und sich Ihr Stadionbesuch daher mit meinem kaum vergleichen lässt. Deshalb würde ich Sie gerne mitnehmen auf eine kleine Reise. Sie brauchen dafür nicht viel Geld, Freunde mit dickem Portemonnaie oder Gefallen, die noch eingetauscht werden können. Sie brauchen dafür einzig und alleine etwas Fantasie. Falls Sie davon nur ansatzweise ähnlich viel besitzen wie Geld, sollte diese Reise für Sie kein Problem darstellen.

Mein Stadionbesuch unterscheidet sich von Ihrem doch ziemlich deutlich

Wir gehen ein paar Jahre zurück, denn ich möchte mit Ihnen meine Erinnerung teilen von einem der emotionalsten Bundesligaspiele der Zeit nach dem Champions League-Finale 2013. Es ist Februar und daher einigermaßen kalt. Am Stadion geht es vom Eingang Süd gleich die Treppe hoch hinter der Südtribüne. Nicht ohne einen Blick hoch zu den riesigen Wänden zu werfen, die am Südeingang irgendwie mehr als sonst wo zeigen, wie groß dieses wunderschöne, imposante Stadion eigentlich ist. Es überwältigt mich auch diesmal wieder. Unter der Tribüne herrscht bereits das normale Wirrwarr eines Spieltags. Menschen aller Größen und Formen wuseln durcheinander, einige auf dem Weg zur Toilette, andere holen sich ein Bier, viele stehen auch einfach nur da und reden mit Freunden. Als ich vor dem Eingang zu Block 13 stehe und mein Getränk und meine Wurst versuche in einer Hand zu balancieren, um mit der anderen dem Ordner meine Karte zu zeigen, ist es noch ziemlich ruhig. Ich gehe wie immer die paar Stufen hoch, drehe mich nach links, gehe mit großen Schritten die Tribüne hoch, ducke mich unter den Wellenbrechern durch und stelle mich dann zwischen den Zaun und das Mundloch. Um diese Zeit ist es dort noch ziemlich leer, daher setze ich mich trotz der Kälte auf die Betonstufen und esse in Ruhe meine Wurst. Dabei sehe ich zu, wie sich der Block langsam füllt. Ganz unbemerkt wird es um mich herum immer enger.

Beim Derby ist es im Block immer noch etwas voller.

Es ist Derby an diesem Tag – ich nehme an, Sie sind zumindest theoretisch mit der Besonderheit von Derbys vertraut – ich weiß daher bereits, dass der Block voller sein wird als bei einem normalen Bundesligaspiel. Es dauert auch nicht lange, ehe ich wieder aufstehen muss, die ganzen Knie um meinen Kopf herum werden langsam unangenehm. Was ich anfangs noch vergessen habe zu erwähnen: ich bin gerade einmal 1.65 m lang. Weshalb das relevant ist, zeigt sich kurz vor Anpfiff. Es ist schwer, einen Platz zu finden, an dem ich zumindest mehr als die Hälfte vom Spielfeld sehen kann. Zum Glück kenne ich die Leute im Block seit Jahren, wir stehen ja alle immer am gleichen Ort. Ich werde mich wie meistens halb auf meinen Vordermann stützen und mit der Ferse gegen die Stufe drücken, wenn der Ball in Tornähe kommt, denn in dieser Position kann ich mich einige Minuten auf den Zehenspitzen halten. Der Block ist mittlerweile so voll, dass ich mich entscheiden muss, ob ich meine Hände oben halten möchte zum Klatschen oder doch lieber nicht. Zu wechseln wird nachher schwierig werden. Da Derby ist, entscheide ich mich für oben halten.

Die Stimmung ist schon vor Anpfiff gut, mit dem Anpfiff wird sie aber noch viel besser. Ich singe, hüpfe, springe, schimpfe, fluche. Ich singe Lieder, die Sie wahrscheinlich schockieren würden. Es sind aber nur Lieder für mich. Provokation, nicht mehr. Teil von einem Derby. Das Spiel ist der Wahnsinn. Der BVB spielt die Blauen von Anfang an aus wie eine Schülermannschaft. Chance um Chance um Chance und alle vergeben sie. Ich raufe mir die Haare, schimpfe, schreie. Das kann doch nicht wahr sein! Dann kommt die 78. Minute. Es ist ungefähr die 30. Torchance. Und endlich, endlich, endlich ist der Ball im Tor. Ich platze vor Freude, springe meterhoch in die Luft, von hinten werde ich angeschubst, falle daher auf meinen Vordermann. Der hat sich zu mir umgedreht, hebt mich einen Meter in die Luft, schwingt mich 180 Grad um seine Achse, dabei gibt es einen weiteren Schubser, zusammen fallen wir nach vorne, reißen dabei mehrere Leute mit. Weiter oben hat einer sein Bier nicht halten können, der offensichtlich noch fast volle halbe Liter entleert sich über uns. Wir schreien einander an. Nicht aus Ärgernis über das Chaos, sondern aus purer Freude. “JAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAA!!!!!!!!!!!!!” Es dauert eine Weile, bis wir uns wieder einigermaßen aufgerafft haben, in dem Moment fällt das zweite Tor.
Diesmal werde ich von hinten so angesprungen, dass ich gleich nach vorne falle und mich ein paar Stufen weiter unten wiederfinde, hochgehoben von einem anderen Fan, der mich gleich danach in seiner Umarmung droht zu zerquetschen. Das Bier hat mich diesmal nicht getroffen, es scheint aber noch mehr zu sein, als nach dem ersten Tor, weil sich neben mir eine Pfütze gebildet hat.

Der Vorsänger fordert uns auf, hin zu sitzen. Das tun wir natürlich, sofern das irgendwie möglich ist. Ich sitze auf den Knien meines Hintermannes und daher wahrscheinlich kaum 10 cm tiefer als wenn ich stehen würde. Das Lied wird angestimmt, es ist so laut, dass man es eigentlich schon fast nicht mehr hört, weil einem die Ohren bimmeln, doch ich schreie mit. Selbstverständlich. Dann springen wir alle zusammen auf, schwenken unsere Schals, hüpfen im Kreis, obwohl eigentlich nicht mal genug Platz da ist, um die Arme zu bewegen. Tore können auf der Süd das Raum-Zeit-Kontinuum verändern. Es ist wie der magische Bus von Harry Potter, der zwischen zwei Londoner Doppeldeckern durch passt. Mitten in unsere Feierei fällt auch das 3:0. Wiederum lande ich mehrere Stufen weiter unten, diesmal aber nicht als unterste, sondern als oberste auf der Traube. Neben uns fließt das Bier nun in Strömen die Tribüne runter. Nachdem alles wieder einigermaßen sortiert ist, beginnt die Tribüne zu hüpfen. Jeder Einzelne. Einen Moment bin ich aus dem Takt, stehe daher auf der Tribüne, während der Rest in der Luft ist. Ich spüre, wie der Beton unter mir schwingt, wie ich von der Landung der Fans durch den Beton hoch katapultiert werde. Es ist das schönste Gefühl der Welt!

Und wissen Sie was? Keinem ist irgendetwas passiert dabei. Keine Kratzer, keine Wunden. Nur vielleicht eine kleine Beule am Kopf von einem unaufmerksamen Ellenbogen. Ich habe noch nie irgendwelche Verletzungen bei Bundesliga-Spielen gehabt oder gesehen. Die Fans fangen einander auf, durch die volle Tribüne ist es nicht möglich, ungebremst auf den Beton zu fallen. Dank der Wellenbrecher gibt es auch keine gefährlichen Massenbewegungen über mehrere Meter hinweg. Das einzige, was man tun muss, ist wieder aufstehen.

Szenenwechsel

Nach dem Tor herrscht auf der Tribüne das pure Chaos

Die zweite Reise geht noch etwas weiter zurück. Zurück zum emotionalsten Spiel, das ich jemals live im Stadion verfolgen durfte. Im Gegensatz zum Ersten findet es unter der Woche statt, etwas mehr als einen Monat später im Jahr. Zwei Jahre zuvor. Ein Dienstag. Der zweite Unterschied ist der, dass ich mich nicht auf den kalten Beton setzen muss, denn es gibt Stühle. Vor Anpfiff ist das für mich daher gar nicht so unvorteilhaft. Es hat auch mehr Platz, weil viel weniger Leute Karten haben für den Block. Aber ich bemerke von diesem Platz wenig, denn die Stühle nehmen den Raum ein, der sonst mit Leuten gefüllt wäre. Spätestens mit dem Anpfiff zeigt sich dann aber die eigentliche Schwierigkeit der Stühle. Auf der Südtribüne ist es keine Frage, dass man auch während Europapokal-Spielen steht, doch es braucht noch nicht einmal diese alteingesessenen Stehplatztribünen als Beispiel, denn spätestens, wenn der Ball in Richtung Tor geht, neigen sich alle nach vorne, um mehr zu sehen. Aus diesem Vorwärtsneigen steht man in der Emotion automatisch auf und wenn das Tor tatsächlich fällt, dann gibt es in keinem Fußballstadion der Welt Menschen, die sitzen bleiben. Außer bei Ihnen auf den VIP-Tribünen natürlich. Ich erwähne das, um Ihnen klar zu machen, dass das von mir gleich beschriebene Problem nur teilweise mit der Besonderheit der Süd zusammenhängt und so ähnlich in vielen Stadien passieren könnte (und passiert ist). Das erste Problem bei diesem Spiel ist jedoch schon eher eines der Südtribüne. Die berühmten und so gerne im Fernsehen gezeigten Hüpfeinlagenfunktionieren zwischen den Stuhlreihen nämlich nur halb so gut. Immer wieder stoße ich beim Hüpfen mit dem Bein gegen die Lehne vom Stuhl vor mir. An diesem Tag wird es aber schnell weniger mit dem Hüpfen, denn der Gegner schießt in der 25. Minute das 0:1. Nach dem 0:0 im Hinspiel ist das ein kleiner Rückschlag. Natürlich geben wir uns nicht geschlagen. Sofort werden wieder Lieder angestimmt, doch die Stimmung ist angespannt. Kurz vor der Pause fällt zum Glück der Ausgleich und der BVB braucht nur noch ein Tor zum Weiterkommen. Die ganze zweite Halbzeit feuere ich zusammen mit dem Rest der Fans die Mannschaft an. So gut es geht springen wir zwischen den Stuhlreihen durch. Versuchen bei emotionalen Reaktionen nicht über die Stühle zu fallen. Mehrmals muss ich mich auf meinem Vordermann aufstützen, weil ich über den Stuhl vor mir stolpere, er hat wegen des kleinen Schubsers Schwierigkeiten seine Balance zu halten, da er ebenfalls einen Stuhl vor sich hat, an den er stößt. Es bilden sich langsam Trauben um mich herum, gefühlt habe ich weniger Platz als zuvor. Es ist als ob die Anspannung den Raum füllen würde. Und dann der Schlag in die Magengrube: aus einer Abseitsposition nach einem Konter erzielt der Gegner zehn Minuten vor dem Ende das 1:2. Wir brauchen jetzt noch zwei Tore. Ich lasse mich auf den Stuhl plumpsen. Einen Moment. Doch dann erwacht etwas in mir: wir geben uns nicht geschlagen. Nicht jetzt schon. Nicht kampflos. Noch einmal nehmen die Fans und die Spieler alles zusammen. Die Lieder sind so intensiv, dass ich unbemerkt mit meinem Oberkörper über der Stuhlreihe vor mir angekommen bin, als ich die Energie aus mir raus schreie. Meine Zehen drücken gegen den Stuhl vor mir und mein ganzer Körper wird nur noch von meinen Schienbeinen gehalten, die an der Stuhllehne halt finden. Doch die Energie kommt an. Und wie. In der 91. Minute schießt Reus den Ausgleich. Der Jubel ist kurz, denn dieses Tor ist nur die halbe Miete. Das Herz rast, der Verstand ist auf null. Die Leute stehen auf den Zehenspitzen vor Anspannung, haben die Hände in der Höhe, um den Liedern noch mehr Kraft zu verleihen, ich sehe überhaupt nichts mehr, also stelle ich mich auf den Stuhl. Und dann rollt der letzte Angriff, der Magen zieht sich zusammen, ich halte die Luft an. Zweimal wird der Ball geklärt, aber nicht weit genug, eine Flanke, Gestocher, der Ball landet im Tor. In diesem Moment explodiert das ganze Stadion. Die Lautstärke auf der Süd ist unbeschreiblich. Ich springe hoch und lande wieder auf dem Stuhl. Zumindest für eine Millisekunde, denn kurz danach gibt dieser nach und ich krache mit meinen gut 60 kg mit dem Bein durch das Plastik, das in alle Richtungen splittert. Mein Schienbein ist über 20 cm von oben bis unten aufgekratzt, genau wie meine Hose. Ich falle durch die Wucht mit dem anderen Bein gegen die vordere Sitzreihe und hole mir da ne große Beule. Das alles bemerke ich jedoch gar nicht, weil ich so voller Adrenalin bin. Kaum stehe ich wieder, pfeift der Schiedsrichter ab. Erneut falle ich, diesmal über die Stuhlreihen, jemand hebt mich jedoch hoch, drückt mich. Wir schreien, können aber keine Worte finden, deswegen besteht alles, was wir einander zurufen, aus “JAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAA!!!!!!!!!!!!!!!”-Variationen. Der Schweiß tropft nur so, das Blut pumpt, die Emotionen kochen, das Adrenalin bahnt sich seinen Weg. Von der Euphorie getragen benehme ich mich wie ein kleines Mädchen. Ich hüpfe, springe, schreie, weiß gar nicht wohin mit meinen Gefühlen. Die Mannschaft kommt zum Feiern. Ich will mich setzen, merke aber, dass nicht nur mein Stuhl, sondern auch einige andere kaputt sind, halbwegs zerbrochen sind oder sonst irgendwie scharfe Kanten haben. Woanders ist aber kein Platz, also setze ich mich auf den kaputten Stuhl. Wir feiern die Mannschaft minutenlang. Immer wieder schauen wir uns an, können es nicht glauben, was wir gerade erlebt haben. Ganz langsam leert sich der Block. Was übrig bleibt, sind viel zerbrochenes Plastik und die Erinnerung an das geilste Spiel aller Zeiten.

Es fällt mir etwas schwer, nach diesen heftigen Emotionen wieder auf Sie und Ihre kühlen Berechnungen zurückzukommen. Doch ich muss mein Anliegen erklären. Sie, liebe Herren der UEFA, werden sicher gute Gründe haben, gegen Stehplätze zu sein und ja, es gab in der Vergangenheit leider auch ein paar schreckliche Ereignisse, die Sie zu diesem Schluss haben kommen lassen.
Nachdem Sie nun aber zwei Spiele aus meiner Perspektive gesehen haben, müssen Sie doch zumindest in dem Punkt zustimmen, dass auf der Südtribüne Sitzplätze gefährlicher sind als Stehplätze, denn die Schrammen und blauen Flecken gibt es tatsächlich bei jedem etwas emotionaleren Europapokalspiel für viele Menschen auf der Süd, Sie dürfen gerne nachfragen, auch wenn zerbrochene Stühle zum Glück eher eine Seltenheit bleiben.
Ich hoffe, Sie haben gesehen, dass das Ignorieren der Sitze nicht aus Bösartigkeit Ihnen gegenüber geschieht, sondern aus den Emotionen heraus. Wie wir auf der Süd gerne sagen: “Sitzen ist fürn Arsch.” Außer natürlich, man möchte das oder kann nicht anders. Dafür gibt es ja glücklicherweise noch drei andere Tribünen.
Sie könnten jetzt also Borussia Dortmund zwingen, durch strenge Sicherheitsmaßnahmen dafür zu sorgen, dass die Emotionen und somit auch die Gefahr, die von den Sitzen ausgeht, von der Südtribüne verschwinden. Damit würden Sie dem Fußball zwar alles nehmen, was ihn für Leute wie mich ausmacht – und Sie würden zudem ein großes Marketinginstrument verlieren – ich befürchte aber leider, dass dies genau das ist, was viele von Ihnen gerne hätten.
(Da sind ein paar weitere Schrammen und blaue Flecken beim nächsten Europapokalspiel schon die deutlich angenehmere Perspektive.)
Oder aber Sie lassen sich auf den Fußball mit all seinen Emotionen ein (Sie wissen doch mittlerweile wie toll sich das vermarkten lässt, das Ding mit den Emotionen und den Fähnchen...) und erlauben “Safe Standing” bei internationalen Spielen, von mir aus, wennshilft, auch mit etwas weniger vollen Blöcken.
Damit wir das nächste dieser extrem geilen Europapokal-Spielen für einmal alle ohne körperliche Erinnerungen erleben können.

Hochachtungsvoll,

Eine von der naiven Hoffnung getragene Verfechterin des traditionellen Fußballs – einen Tag nach dem Atletico-Spiel noch immer heiser vom Singen und übersät mit blauen Flecken von den Stühlen

Unterstütze uns mit steady

Weitere Artikel