Wer Tore schießen will, sollte auch aufs Tor schießen
Nach dem 4:0 Kantersieg im Hinspiel wurde die Auswärtspartie bei Atletico Madrid zum Lackmustest: Würde der BVB ein zweites Mal gegen eine Toppmannschaft bestehen können, ohne auseinanderzubrechen? Trotz einer verdienten Niederlage lautete die Antwort: Ja.
Vierter Spieltag in der Champions League 2018/19, die erste Chance den Einzug ins Achtelfinale klar zu machen: So gut es sich anhörte und so unerwartet diese Möglichkeit zu Saisonbeginn war, so unwahrscheinlich war es auch. Nachdem Borussia der besten Abwehr der Welt zwei Wochen zuvor vier Dinger eingeschenkt und damit die historisch höchste Niederlage im Europapokal zugefügt hatte (erst zweimal zuvor verlor Atletico 4:0, aber nie höher), war auch dem euphorischsten Beobachter klar, dass dieses Spiel ein besonderes sein würde. Atletico würde auf Wiedergutmachung drängen, mit höchster Disziplin agieren und den Schwarzgelben keinen Zentimeter kampflos überlassen. Nach dem zur Reifeprüfung erkorenen Hinspiel wurde die Partie zum Lackmustest: Würde der BVB unter Lucien Favre ein zweites Mal gegen eine Toppmannschaft bestehen können, ohne im erwarteten Dauerstress auseinanderzubrechen?
Die Antwort lautete: Ja. Atletico spielte genauso, wie es zu erwarten war. Mit zwei Viererketten stets tief in der eigenen Hälfte stehend, bei Dortmunder Angriffsbemühungen mit zwei weiteren Feldspielern in und um den eigenen Strafraum verteidigend, gab es für die Borussen nichts zu holen. Weil die sich obendrein nicht zu Schüssen aus der zweiten Reihe durchringen konnten, blieb es bei der schwächsten internationalen Torschussbilanz seit 2003: Nur ein Schuss von Raphael Guerreiro fand den Weg in Richtung Tor, verpuffte aber wirkungslos. Trotz der auch in der Höhe verdienten 2:0 Niederlage war das Spiel der Schwarzgelben aber noch lange kein Schlechtes und machte das Ergebnis Mut: Ein Dauerkandidat auf Europapokaltitel konnte in zwei Spielen 4:2 niedergerungen werden. Und auch ein Zerbrechen in alle Einzelteile konnte in einem Zermürbungskampf auf hohem Niveau nicht beobachtet werden.
Rund 3.000 BVB-Fans hatten den traditionellen Europapokalausflug nach Madrid angetreten. Relativ günstige Flüge, günstige Unterkünfte mitten im Stadtzentrum, kein Konfliktpotential mit gegnerischen Fangruppen, ein gut aufgelegter BVB und obendrein ein neues Stadion waren ausreichend Anlass, auch diesmal nicht daheim zu bleiben. Bereits am Montagabend ging es rund um die einschlägigen Schinkenmuseen, Tapas Bars und Bier-Etablissements ordentlich zur Sache. Pünktlich um Mitternacht in der Kneipe der Wahl angekommen, standen sich zahlreiche Borussen vor den Türen die Füße platt und verzehrten das auf der Straße zum gewohnten 1-Euro-Kampfpreis erhältliche Dosen-Mahou. In der Kneipe geriet die Getränkeversorgung etwas schwieriger, erwiesen sich der Manager und seine beiden Bierfeen als sensationell schlechte Verkäufer. Bis zu 30 Minuten Wartezeit vergingen bis zur Bestellung, weitere 10 Minuten bis zum Genuss des goldenen Fangetränks – da stellte sich schnell die Frage, ob Straßenverkäufer oder Kneipenwirt besser auf den durstigen Mob vorbereitet waren.
Dass sich der mitgereiste Anhang dennoch dicht an dicht in den Biertempel quetschte, lag einzig und allein an einer der besten Partys, die wir in den vergangenen Jahren auf Auswärtsfahrten erleben durften. Kaum hatten die Live-Musiker nach einem äußerst ungewöhnlichen und undankbaren Abend ihr Podest verlassen, hatte der hauseigene DJ den Verlust jeglichen Fingerspitzengefühls bei der Musikauswahl vermissen lassen. Binnen kürzester Zeit erhielt er Anschauungsunterricht durch Dortmunder DJs, die die Kontrolle übernahmen, einen BVB-Klassiker nach dem anderen aus dem Hut zauberten und die versammelte Meute zum Kochen brachten. Dass eine Dortmunder Fanlegende zum Höhepunkt das Mikro übernehmen durfte, gekonnt den Schreck vom Niederrhein aufleben und so manches Hemd und Höschen (bier)feucht werden ließ – weltklasse.
Der Spieltag begann entsprechend verkatert gegen 13 Uhr mit einem obligatorischen Kneipenbesuch. Die Stadt war mittlerweile bestens bekannt, Baustellen und wolkenverhangener Himmel machten Sightseeing nicht unbedingt spannender und für alles Weitere reichte die Kondition schlicht nicht mehr / noch nicht aus. Der Nachmittag versprach in seiner Zusammensetzung allerdings so viel Potenzial, dass eine Fortsetzung am Abend fest in den Blick genommen wurde.
Der Fanmarsch zur U-Bahn rief. An der üblichen Sammelstelle Sol war bis auf Schwarzgelb und Polizei kaum noch etwas zu erkennen, ein insgesamt ordentliches Bild. Natürlich war klar, dass der Stadionneubau tief im Osten der Stadt ein Abstieg sein würde, da das sensationelle Stadion Vicente Calderón (Autobahn unter der Tribüne, kompakter Bau mit dichter Atmosphäre, gelegen neben einer absolut sehenswerten Park- und Flusslandschaft) nicht adäquat zu ersetzen war. Entsprechend niedrig waren die Erwartungen und entsprechend gemischt die Gefühle: Einerseits war das Stadion Metropolitano kein kompletter Neubau, sondern bereits 1994 als städtisches Stadion eröffnet und 2017 von 20.500 auf knapp 68.000 Plätze ausgebaut worden. Ein Terroranschlag der ETA auf dem Parkplatz hatte das Stadion bereits 2005 getroffen, sodass auch eine gewisse Historie vorzuweisen war (es gab keine Verletzten o.ä., blieb bei leichtem Sachschaden).
Und dennoch boten die Lage mitten im Nichts am äußersten Rand einer Millionenstadt (von der U-Bahn-Haltestelle blieb aus Gründen der Fantrennung noch ein halbstündiger Fußweg) und das generische Erscheinungsbild aus glattem Sichtbeton, beleuchteten Dachelementen und etwas Glas so gut wie nichts, was man nicht schon dutzendmal an anderer Stelle gesehen hatte. Auch stimmungsmäßig blieb das Metropolitano weit hinter dem Calderón zurück, mussten der Gästeblock (ohne Trommeln, Megaphone, Material) aus dem Oberrang ansingen und die Hausherren von einer Hintertortribüne im Unterrang das Stadion mitreißen. Zwei schwierige Aufgaben, die die Schwarzgelben von neutraler Position in Nähe der Mittellinie über weite Strecken deutlich besser bewältigten. Auch wenn das Stadion zwischenzeitlich einmal laut wurde, blieb der Eindruck haften, dass man vor diesem Spielort wohl keine Angst haben muss.
Das Spiel war insgesamt arm an Höhepunkten, doch bewegte sich auf einem in vielerlei Hinsicht interessanten Niveau. Borussia hatte mit Ömer Toprak und Paco Alcacer die wohl interessantesten Personalien zu bieten, kamen Toprak mit relativ wenig Einsatzzeit aus einer Verletzungspause zurück und mit Paco Alcacer der wohl heißeste Scheiß Spaniens in der Startelf zum Einsatz.
Beide Mannschaften begannen mit einem klaren Konzept und breiter Brust. Borussia mit einem 4:0 im Rücken, Atletico im nahezu sicheren Wissen, dass eine vergleichbare Klatsche ausgeschlossen war. Das Agieren aus einer schier unüberwindbaren Defensive, die selbst Otto Rehhagels griechische Europameister und so manchen italienischen Mauerkünstler locker in den Schatten stellte, gab den Hausherren Kraft für immer neue Angriffe. Die Schwarzgelben hielten munter dagegen, nahmen den Madrilenen ein ums andere Mal den Ball ab und erspielten sich mühelos ein optisches Übergewicht. Nach etwa einer halben Stunde, die als taktisch interessant bezeichnet werden darf und trotz nahezu vollständiger Absenz nennenswerter Szenen verlief, wurden die Spanier aggressiver. Sie pressten früher, griffen die Borussen immer schneller an und kopierten exakt die Spielweise, die den BVB seit einigen Wochen so unwiderstehlich gemacht hatte: Nicht alles klappte, aber die Spieler rannten füreinander, wuselten um die Beine ihres Gegners und schafften es immer wieder, einen Fuß in jedem Ball zu stellen.
Das 1:0 fiel in der 33. Minute dann ebenso überraschend wie folgerichtig: Die ewigen Versuche der Borussen, den Ball irgendwie ins Tor zu tragen, waren verpufft. Ein Ballverlust im Mittelfeld über zwei Stationen nach vorne mit Pass hinter die Abwehr brachte hingegen Saul Niguez in beste Schussposition – Roman Bürki blieb chancenlos. In der Folge verlor unsere Mannschaft den Zugriff und geriet phasenweise ins Schwimmen. Mit Axel Witsel und Thomas Delaney, zwei zu Saisonbeginn mindestens hinterfragten Transfers und nun unbestrittenen Führungsspielern, waren die beiden Schaltstellen zwischen Defensive und Offensive nahezu vollständig aus dem Spiel genommen. Alcacer und Marco Reus hingen in der Luft, bekamen kaum Zuspiele und konnten in der massiven spanischen Abwehr kaum etwas bewegen. Während die Hausherren immer wieder über schnelle Konter Akzente setzten und für Gefahr in der Dortmunder Hintermannschaft sorgten. Hier konnte Borussia dann durchaus von Glück sprechen, in den zehn Minuten vor der Pause keine Packung kassiert zu haben – es war die gefährlichste Phase Atleticos, die in der vergangenen Saison wohl noch Ausgangspunkt zu einem wahren Schlachtfest gewesen wären.
Der Halbzeitpfiff erlöste und Borussia kam mit neuer Ordnung ins Spiel zurück. Atletico agierte wie zu Spielbeginn deutlich defensiver und wartete auf Konter, überließ dem BVB den Ball und damit erneut eine optische Überlegenheit. In dieser Phase begingen die Schwarzgelben dann auch ihre größten Nachlässigkeiten: Wie schon in der ersten Halbzeit wollten sie sich durch einen viel zu engen Strafraum dribbeln, blieben bis auf eine Zufallschance Guerreiros (65.) harmlos. Hier hätten Spieler wie Reus, Alcacer, Witsel oder Christian Pulisic zu Schüssen aus der zweiten und dritten Reihe ansetzen müssen, um Atletico aus dem Strafraum zu locken und Lücken zu schaffen. Eben diese Versuche blieben jedoch aus – Borussia investierte weiterhin viel in spielerische Lösungen, während Atletico konterte und über Antoine Griezmann auf 2:0 stellte (80.).
Borussia konnte mit dieser Niederlage wunderbar leben. Einerseits war klar, dass die erste Pleite der Saison irgendwann nicht mehr zu vermeiden sein würde und blieb das 2:0 ein Resultat, für das man sich bestimmt nicht schämen muss. Andererseits blieb es beim Sieg im direkten Vergleich und konnte die Mannschaft zum genau richtigen Zeitpunkt der Saison Anschauungsunterricht genießen, wie wirklich große Mannschaften Spiele aufziehen. Der Gegner war besser, abgebrühter, intelligenter, stellte die Schwarzgelben vor extreme Herausforderungen – doch unsere Spieler blieben als Mannschaft zusammen, ließen sich mit Ausnahme zehn grausiger Minuten nicht den Schneid abkaufen und zeigten Charakter. Eine perfekte Vorbereitung auf die wichtigen Weichenstellungen in der Liga (FC Bayern), DFB Pokal und Champions League der kommenden Wochen – gehen wir es an!
Statistik
Atletico: Oblak - Juanfran, Gimenez, Hernandez, Luis - Thomas, Rodrigo - Niguez, Correa - Griezmann, Kalinic
Wechsel: Montero für Gimenez (46.), Martins für Kalinic (62.), Vitolo für Correa (80.)
BVB: Bürki - Piszczek, Toprak, Akanji, Hakimi - Delaney, Witsel – Pulisic, Reus, Sancho - Alcacer
Wechsel: Guerreiro für Pulisic (59.), Götze für Alcacer (75.), Bruun Larsen für Sancho (79.)
Tore: 1:0 Niguez (33.), 2:0 Griezmann (80.)
Gelbe Karten: Correa – Sancho, Akanji, Reus