Neue Regeln? Lasst uns die Debatte führen!
Das International Football Association Board schlägt neue Fußballregeln vor. Ein Angriff auf das Wesen des Fußballs oder diskussionswürdige Vorschläge? Wir schauen uns die Maßnahmen genauer an.
Reduzierung der Spielzeit von 90 auf 60 Minuten? Elfmeter für vom Torwart aufgenommene Rückpässe? Tor- und Punktabzug bei Schiedsrichterkritik? Der Aufschrei in den sozialen Medien gestern war groß, als die Onlineplattform spox eine Liste mit diskutierten Regeländerungen der FIFA veröffentlichte (Spox). Von Revolution war die Rede und wie so häufig schien der Fußball endgültig zu Grabe getragen werden. Der Bericht geht zurück auf ein Strategiepapier des International Football Association Board (IFAB), das mittlerweile online einsehbar ist (IFAB-Paper). Der genaue Blick in das Papier lohnt sich ebenso wie die offene Bereitschaft, sich auf die Diskussion einzulassen.
Das Strategiepapier, das Regeländerungen für die nächsten fünf Jahre diskutiert, verfolgt drei Ziele:
- Verbesserung des Benehmens der Spieler und die Förderung respektvollen Verhaltens
- Erhöhung der (Netto-)Spielzeit
- Stärkung des Fair-Plays und erhöhte Attraktivität des Spiels
Zu jedem dieser strategischen Ziele stellt das IFAB mehrere Maßnahmen zur Diskussion, die sie wiederum in drei Gruppen unterteilt:
- Maßnahmen, die keine Regeländerung bedürfen und sofort umgesetzt werden können
- Maßnahmen, die zunächst getestet werden sollen
- Maßnahmen, die lediglich zur Diskussion gestellt werden
Die meisten Vorschläge sind nur kleine Eingriffe ins Regelsystem
Die Maßnahmen, die nach dieser letzten Unterteilung in die erste Kategorie fallen, bergen kein großes Konfliktpotential. Hier wird beispielsweise eine stärkere Einbindung des Kapitäns in die Spielführung oder eine präzisere Kalkulation der Nachspielzeit vorgeschlagen. Die vorgeschlagene striktere Einhaltung der Regel, nach der der Torwart den Ball lediglich sechs Sekunden in der Hand halten darf, wäre unzweifelhaft ein wertvoller Schritt zur Bekämpfung von Zeitspiel.
Die angedachten Eingriffe, die zunächst im Testverfahren erprobt werden sollen, sind ebenfalls in vielen Fällen eher milder Natur. Bereits in der Erprobung ist eine neue Regelung für das Elfmeterschießen. Nach statistischen Erhebungen ist bislang das Team deutlich im Vorteil, das den ersten Elfmeter schießen darf. Offenkundig ist der Druck für den nachziehenden Schützen signifikant höher. Um diesen Effekt auszugleichen, soll zukünftig die Reihenfolge der Schützen in jedem Durchgang wechseln, so dass die Reihenfolge statt ABABABABAB dann ABBAABBAAB wäre. Das mag nicht mehr so übersichtlich sein wie bisher, aber am Wesen des Elfmeterschießens rüttelt eine solche Reform nicht. Wenn auf diesem Wege eine bessere Chancengleichheit erreicht werden kann, wäre dies nur zu begrüßen.
Ein kritischer Punkt versteckt sich in den Maßnahmen zum Schutz des Schiedsrichters. Dass dieser härter durchgreifen soll, wenn Spieler auf ihn oder die Assistenten zustürmen und Entscheidungen kritisieren, ist sicherlich konsensfähig. Fragwürdig erscheint aber die Möglichkeit von Geldstrafen und Punktabzügen für Mannschaften, die sich des „mobbings“ schuldig machen, im Deutschen spricht man hier von Rudelbildung. Ließe sich über eine Geldstrafe sicher noch diskutieren, würde der Punktabzug schon beim Anschein von Willkürlichkeit den sportlichen Wettbewerb gefährden. Hier sollte die Möglichkeit des Schiedsrichters, mit gelben und roten Karten Fehlverhalten zu sanktionieren, vollkommen ausreichen. Eine leider nicht vorgeschlagene Ergänzung wäre an dieser Stelle eine Bestrafung von Funktionären, die nach dem Spiel in unangemessener Weise Schiedsrichter angreifen und so Spielern wie Fans signalisieren, dass die Unparteiischen nicht unantastbar sind. Man denke nur an Karl-Heinz Rummenigges unsägliches Gezeter nach dem Viertelfinalaus der Bayern gegen Real Madrid. Natürlich traf Viktor Kassai an diesem rabenschwarzen Tag zahlreiche Fehlentscheidungen. Allerdings hatte Rummenigge keinerlei Beweise für seine These, Bayern sei „beschissen worden“, zumal die Münchener es ohne die Fehlentscheidungen des Ungarn gar nicht erst in die Verlängerung geschafft hätten. In solchen Fällen wäre es vielleicht eine Überlegung wert, auch Offizielle mit Geldstrafen oder besser noch mit einigen Wochen Stadionverbot zu sanktionieren. Vielleicht mag das IFAB das noch in seinen Katalog mit aufnehmen.
Insgesamt sind all die vorgeschlagenen Regeländerungen bis dahin keine große Sache und werden am Wesen des Fußballs nichts ändern. Das Konfliktpotential steckt nahezu ausschließlich in den Maßnahmen, die lediglich zur Diskussion gestellt werden. Die folgenden Punkte sind also von der Umsetzung noch weit entfernt, was Raum für eine sachliche Debatte über die einzelnen Vorschläge bieten sollte – wenn man sich denn auf sie einlässt und nicht von vornherein jegliche Änderung dogmatisch ablehnt.
Aus Brutto wird Netto
Der tiefste zur Debatte gestellte Einschnitt stellt der Sprung von einer 90-Minuten-Brutto-Spielzeit auf eine Nettospielzeit dar. Zwei Modelle werden hier vorgeschlagen: Die eine Möglichkeit wäre eine Nettospielzeit für die gesamten 90 Minuten auf beispielsweise 60 Minuten. Die Uhr würde stets dann angehalten werden, wenn das Spiel unterbrochen ist, also bei Einwürfen, Freistößen, Toren etc. Das zweite Modell wäre eine Nettospielzeit nur für die letzten fünf oder zehn Minuten. Ziel der Maßnahme ist die Verhinderung von Zeitspiel.
Bei genauerem Hinsehen ist der Einschnitt weit weniger tief, als es auf den ersten Blick erscheint. Im Grunde ändert sich nur die Art der Zeitmessung, das Spiel an sich bleibt unberührt. Es ist nicht ersichtlich, warum es mehr oder weniger Unterbrechungen geben sollte. Sorgen, dass die Maßnahme nur den Zweck haben solle, Werbeunterbrechungen für das Fernsehen zu ermöglichen, sind daher unbegründet. Im Gegenzug wird das Spiel fairer, nicht nur durch die Unterbindung unsportlichen Zeitspiels, sondern weil die Nettospielzeit aller Mannschaften im Wettbewerb gleich wäre. Auch wenn der Aufschrei der Traditionalisten sicher nicht ausbleiben wird – einen Versuch wert wäre diese Regelung allemal.
Spannend ist auch der Vorschlag, dass Spieler bei Freistößen zukünftig die Möglichkeit erhalten sollen, den Ball selbst weiterzuspielen, ohne dass ihn vor dem zweiten Ballkontakt ein zweiter Spieler berühren muss. Die IFAB trollt die Traditionalisten an dieser Stelle mit dem Hinweis, dass diese Regel bereits in der ursprünglichen Fassung des Spiels von 1863 gestanden habe. Mit der Maßnahme soll es Spielern ermöglicht werden, im Falle eines Fouls den Ball nur kurz anzuhalten, um dann den Sprint oder das Dribbling fortzusetzen. Diese zusätzliche Möglichkeit stärkt nicht nur die angreifende Mannschaft, was tendenziell immer die Attraktivität des Spiels fördert, es ist auch nur gerecht, wenn der gefoulte Spieler nicht durch eine restriktive Freistoßregelung zusätzlich bestraft wird. Da diese Regelung sicherlich die Dynamik des Spiels ändern könnte, scheinen Tests vor einer Einführung sinnvoll. Aber einen nachhaltigen Grund, diese Veränderung präventiv abzulehnen, ist nicht ersichtlich.
Die Debatte lohnt sich
Darüber hinaus finden sich in dem Papier noch viele weitere Ideen: So könnte das Reinlaufen in den Strafraum während eines Elfmeters vermieden werden, wenn ein Nachschuss verboten würde (quasi wie im Elfmeterschießen). Trifft der Spieler nicht, bekäme das verteidigende Team einfach einen Abstoß zugesprochen. Eine andere Idee betrifft den Halbzeit- oder Schlusspfiff. Dieser solle nur dann erfolgen, wenn der Ball nicht mehr im Spiel sei, um so dem angreifenden Team die Möglichkeit zu geben, noch ein Tor zu erzielen. Hier wäre allerdings ein Missbrauch denkbar, wenn das angreifende Team in Führung liegt und das Spiel mit einer Spielunterbrechung beenden könnte, ohne dass der Gegner die Möglichkeit hätte, den Ball zu erobern und selbst ein Tor zu schießen. Nicht jede Idee erscheint also schon ausgereift. Aber das muss sie auch nicht, in einer konstruktiven Debatte können die Regelungen noch justiert werden. In den Vorschlägen steckt viel Potential, einige eher nervige Randerscheinungen des Fußballs zu reduzieren, ohne in das Wesen des Fußballs einzugreifen. Die FIFA wird oft und meist zu Recht als verknöcherter Haufen alter, korrupter Männer beschrieb. Aber dieses Papier ist mutig und frisch, eine ernsthafte Diskussion über dessen Inhalt kann dem Fußball nur gut tun.