Unsa Senf

Emotion vs. Gerechtigkeit - der Videoschiedsrichter in der Diskussion

18.09.2017, 16:16 Uhr von:  Vanni Sascha

Nicht erst seit dem gestrigen Spiel gegen Köln ist der Videobeweis in der Diskussion. Auch innerhalb unserer Redaktion gibt es verschiedene Meinungen.

Unsere beiden Redakteure Sascha und Vanni haben ihr Pro/Contra zum Video Assisted Referee in Worte gepackt.

CONTRA Video Assisted Referee

Zwei Videobeweise bescheren und gegen Köln zwei Tore. Einer direkt, einer über den Umweg Elfmeter. In der letzten Saison wären die Ergebnisse dieser Szenen noch Freistoß für Köln und Eckball für uns gewesen. Und fernab aller Diskussionen darüber, welche Auswirkungen der Pfiff von Schiedsrichter Ittrich auf die Gültigkeit des Treffers von Sokratis hatte, muss man feststellen, dass die Einwände aus dem Studio in Köln per se richtig waren. Sokratis hat kein Foul an Keeper Horn begangen und der Kopfball von Phillip wurde regelwidrig mit der Hand geblockt. Aus zwei falschen Entscheidungen wurden zwei richtige. Der Fußball wird objektiver und regelkonformer.

Dagegen lässt sich schwer argumentieren. Neben weiterhin bestehenden Einzelfehlern wie der Szene des Wolfsburger Casteelen gegen den Stuttgarter Gentner wurden bislang in der Mehrzahl Szenen richtiger gestellt. Warum bin ich damit trotzdem nicht zufrieden – obwohl bislang alle drei Entscheidungen des Videoassistenten zu Gunsten meiner Borussia ausgefallen sind? Weil es sich anders anfühlt als ein „echtes Tor“, oder ein „echter Elfer“. Der Fußball mit VAR ist der Fußball, der dem Zeitgeist des Optimierens entspricht. Wir treiben Sport, damit der Körper keine hässlichen Fettpolster aufweist. Wir bringen unseren Kindern schon im Kindergarten erste Brocken Englisch bei, damit sie später perfekt auf das Berufsleben vorbereitet sind. Wir vertreiben die „Trinkerszenen“ aus den frisch gepflasterten Innenstädten, weil diese Menschen nicht zwischen den Bistros und Designerlädchen passen, mit denen wir unsere Städte aufhübschen.

Wir haben keinen Platz mehr für das Unperfekte, das Fehlerbehaftete und auch nicht mehr für negative Gefühle. Und jetzt Perfektionieren wir den Fußball. Dabei gehörte der Fehler und das Chaotische für mich immer grundsätzlich zu diesem Spiel dazu. Ein katastrophaler Fehlpass, eine Platzunebenheit, oder eben eine falsche Schiedsrichterentscheidung konnte dafür Sorgen, dass eine Mannschaft das Spiel gewinnt, das völlig unterlegen war. Das 3:3 im Derby wurde noch süßer durch das Wissen, dass Alex Frei beim 2:3 klar aus dem Abseits kommt und der Elfmeter zum 3:3 ein blanker Witz war. Die grob geschätzt acht parallelen Fehlentscheidungen in Sachen Abseits haben das Viertelfinale gegen Malaga für Viele zu einem unvergesslichen Erlebnis gemacht. Heute würde das Spiel vermutlich 2:1 für uns ausgehen. Wir wären immer noch weitergekommen, aber dieser Moment, in dem das Stadion explodiert und man in einer Traube aus Menschen ein Tor bejubelt würde uns fehlen.

Und, so unverständlich es für manchen klingen mag, mir würden auch all die „Weisste noch als uns der XY verpfiffen hat…“-Geschichten fehlen, weil sie irgendwie dazu gehören. Das Gefühl, benachteiligt zu werden. Dass es auf dem Platz irgendwie ungerecht zugeht. Auch dieses Gefühl bringt dem Spiel eine völlig neue Dynamik. Gibt es etwas Imposanteres als ein Stadion, das voller vermeindlich gerechten Zorn tobt, weil die Entscheidungen der Schiedsrichter völlig dem widersprechen, wie man selbst die Situationen wahrgenommen hat? Und diese Befriedigung im Anschluss, wenn dann doch ein Elfmeter wegen irgendeiner Lappalie gegeben wurde, nur um die erhitzten Gemüter zu beruhigen. „Das Stadion hat heute das Spiel gewonnen“. Gibt es wirklich jemanden, der das bislang nicht stolz als Auszeichnung verstanden hat, sondern als Ausdruck des Bedauerns, weil nicht alles fair und ausgewogen verlief? Dieser gerechte Zorn verpufft jetzt völlig und verfliegt in dem Moment, in dem der Schiedsrichter an sein Ohr greift, zum Stadiondach. Wogegen will man sich noch ereifern, wenn in einem fernen Studio jemand die Situation in Zeitlupe und aus verschiedenen Kameraeinstellungen bewertet?

Ich weiß, es ist eine schwache Position, mit der eigenen Gefühlswelt zu argumentieren, aber das gestrige Spiel hat mir gezeigt, wie sich der fehlerminimierte, optimierte Fußball anfühlt – und er fühlt sich weniger echt an als zuvor. Oder besser gesagt, ein Stück mehr wie das „echte“ Leben, in denen man sich unter der Woche rational Ursachen und Wirkungen analysiert, anstatt wie der liebgewonnene Katalysator, bei dem man am Wochenende auch einfach mal spontane Emotionsausbrüche und eine breite Gefühlspalette zulassen kann.

Natürlich ist auch mir bekannt, dass es in vielen anderen Sportarten solche technisch unterstützten Beweisführungen gibt und sich die Fans damit sehr gut arrangiert haben. Und trotzdem ist dieser fehleranfällige, unfaire, nicht komplett objektive Fußball der populärste Sport der Welt. Das muss doch was zu bedeutend haben, oder?

Sascha

PRO Video Assisted Referee

Seit der Einführung des Video Assisted Referees in dieser Spielzeit wird naturgemäß viel über ihn diskutiert. Über die Art und Weise, wie er Anwendung findet, über die Entscheidungen, die er bislang gefällt hat und seit dem Spiel des BVB gegen den Effzeh nun auch über einen Regelverstoß, der im Zusammenhang mit dem VAR begangen wurde. Dabei scheinen sich die Fußballfans doch recht deutlich in zwei Lager zu unterteilen, in Befürworter und Gegner des Video-Schiedsrichters, auch wenn einige natürlich noch hin und her gerissen sind und keine endgültige Meinung dazu haben.


Dazu zähle ich mich auch selbst. Ich kann noch nicht sagen, dass ich uneingeschränkt hinter dem neuen System zur Entscheidungsfindung stehe und leider war ich am Sonntag nicht im Stadion, sodass ich noch nicht miterleben konnte, wie sich so ein Videobeweis auf der Südtribüne anfühlt. Dennoch ist meine Tendenz aber durchaus positiv. Denn in allen Szenen, in denen in dieser Saison der VAR für Borussia-Spiele eingesetzt wurde, fand man am Ende Gerechtigkeit vor. Ravets Tritt gegen Schmelzer wurde zurecht mit Rot bestraft und der Übeltäter, der sonst mit gelb davongekommen wäre, nun auch gesperrt, der BVB bekam ein regelgerechtes 2:0 zugesprochen und einen fälligen Handelfmeter. In der Champions League gibt es den Videoschiedsrichter noch nicht, in London hätte ich mir ihn durchaus gewünscht, weil dies bedeutet hätte, dass das zwischenzeitliche 2:2 gezählt hatte, ggf. sogar mit einer Änderung des Spielverlaufes.

Und auch wenn ich in der Vergangenheit zurückgehe, gibt es doch einige Momente, in denen ich gerne Gerechtigkeit bekommen hätte. Beispielsweise durch Anerkennung von Hummels‘ Treffer im DFB-Pokalendspiel in Berlin, als die Torlinientechnologie ebenfalls noch nicht durchgesetzt war. Oder in einen von mehreren Spielen, als Franck Ribéry mal wieder seine beste Seite zeigte, am Ende aber doch unbestraft blieb. Die Liste ist lang – zugegebenermaßen ebenso wie die Liste, bei denen der BVB von falschen Schiedsrichterentscheidungen profitierte. Aber es geht mir auch nicht darum, dass der BVB gerechter bewertet wird, ich wünsche mir eine gerechtere Bewertung für alle. In einem Geschäft, in dem ein Tabellenplatz mitunter auch mal von einzelnen Entscheidungen beeinflusst wird, in denen Trainer nach wenigen erfolglosen Spielen entlassen werden, in dem es um Millionen Euro und mehrere Existenzen geht, ist der Wunsch nach Gerechtigkeit doch allzu nachvollziehbar.

Überhaupt: es geht um Fehlerminimierung, nicht um das komplette Auslöschen von Fehlern. Es scheint einen weit verbreiteten Irrglauben in der Annahme zu geben, dass der Videoschiedsrichter Fehlentscheidungen komplett eliminiert. Dies wurde so aber nie angekündigt oder kommuniziert. Wer sich nun darüber aufregt, dass es immer noch strittige Szenen gibt und im Doppelpass nun eben nicht über Fehlentscheidungen des Schiedsrichters, sondern über die Entscheidungen des VAR diskutiert wird, unterlag im Vorfeld offensichtlich falschen Erwartungen. Ansonsten bin ich insgesamt aber durchaus überzeugt von der Art und Weise, wie dieses System in der Bundesliga umgesetzt wird. Mit Ausnahme von der ebenfalls an diesem Wochenende diskutierten Szene zwischen Wolfsburgs Casteels und Stuttgarts Gentner erinnere ich mich nicht an eine Entscheidung, die man wirklich anzweifeln konnte, sondern gehe mit den Entscheidungen des VAR mit. Und auch die von vielen befürchtete lange Wartezeit sehe ich nicht. In der Regel sind die Entscheidungen sehr schnell innerhalb von ein paar Sekunden getroffen und es kann so weitergehen, wie es im Sinne der Regel ist.

Ich werde noch abwarten müssen, wie meine Stadion-Gefühlswelt vom VAR beeinflusst wird. Deswegen kann ich auch noch nicht mit letzter Überzeugung sagen, hinter dem neuen System zu stehen. Aber ich habe Schwierigkeiten mir vorzustellen, dass ich mich am Sonntag wirklich darüber aufgeregt hätte, dass unser BVB zwei verdiente Tore zugesprochen bekommt, auch wenn ich vielleicht anders gejubelt hätte als sonst. Diese Ausnahmen nehme ich aber in Kauf, wenn das Spiel dadurch gerechter wird. Das System befindet sich auch noch – da werden die Schiedsrichter und DFL-Funktionäre sicherlich zustimmen – in der Entwicklungsphase. Wir alle müssen uns daran gewöhnen, das gilt für die Schiedsrichter, für die Spieler und auch für die Fans. Bis das System mit noch weniger Fehlern funktioniert, wird an einigen kleinen Stellschrauben gedreht werden müssen. Das ist auch gut so. Aber ich glaube nicht, dass wir in zwei oder drei Jahren noch in der Form über den VAR diskutieren werden, wie wir es jetzt tun. Vielleicht werden ja sogar rückblickend viele sagen: „Ich war anfangs ja echt skeptisch, aber mittlerweile muss ich sagen, dass es sich doch gelohnt hat…“

Vanni

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