Die Transferstrategie des BVB – von Qualitätsspielern und jungen Talenten
Der Fußball ist endgültig zum Irrenhaus geworden. Im Gegensatz zu anderen Topclubs scheint der BVB aber ein Rezept gefunden zu haben, sich gegen abgehobene Spieler durchzusetzen - er hat sich von der Illusion gelöst, sie auf Dauer binden zu können. Die Ergebnisse stimmen, nur die Emotionen bleiben auf der Strecke.
Wir alle wissen längst: Die Machtverhältnisse im Fußball haben sich verschoben. Länder wie Katar kaufen sich in die Glitzerwelt des Fußballs ein, um dort ihre Sicherheits- und Außenpolitik zu besorgen und ihre Anfälligkeit für regionale Konflikte zu reduzieren. Traditionsvereine haben das Nachsehen gegenüber globalen Sportkonzernen, die das Spiel als Werbeträger und Content sehen, den sie günstig produzieren, zu immer höheren Preisen verkaufen und zusätzlich in hauseigenen Kanälen versilbern können.
Mit den Einnahmen gestiegen ist die Zahl der Spieler, denen die Welt der Stars zu klein geworden und nur ein gottgleicher Status angemessen zu sein scheint. Kann ein solches Auftreten bei Zlatan Ibrahimovic noch mit einem Augenzwinkern als Antwort auf den Trubel verstanden werden, der um seine Person veranstaltet wird, stellt man sich spätestens bei so manchen Nachwuchskickern die eine oder andere Frage. Vorbei scheint die Zeit, in der sie erst einmal kleinere Brötchen backten, bevor sie den Sprung auf die ganz große Bühne wagten. Längst herrscht auch bei ihnen der Anspruch, Champions League spielen zu müssen. Bei einem der größten Clubs der Welt. Mit 19.
Zurück bleiben oft Vereine, denen die eigene Machtlosigkeit ins Gesicht geschrieben steht. Entscheiden sich Spieler wie Julian Draxler oder Lionel Messi zum Streik, stehen sie mit dem Rücken zur Wand: Sollen sie hart bleiben und einen Millionenschaden riskieren? Oder selbst den unverschämtesten Forderungen nachkommen, um das Umfeld ruhig zu halten? Der VfL Wolfsburg setzte auf Härte, um einen Wechsel seines Stars zu verhindern – nach einem halben Jahr Unruhe hatte der bockige Draxler seinen Kopf dann doch durchgesetzt, mit 45 Mio. Euro erreichte die Ablöse aber wohl nicht einmal die Hälfte der angeblich festgeschriebenen Summe. Beim FC Barcelona entscheidet man sich verlässlich für die weiche Lösung, wenn Zauberfüßchen Messi einer Laune nachzugehen gedenkt: 2014 gab es einen verlängerten Vertrag mit Rekordgehalt, als der Argentinier seinen Unmut über die Vereinsführung geäußert hatte. Und als er 2015 nach einem Krach mit Trainer Luis Enrique nicht zum Training erschienen war, folgte genauso wenig Kritik wie in der vergangenen Woche, als Messi gemeinsam mit Luis Suárez und Gerard Piqué einen großen Kindergeburtstag bei Neymar feierte – wohlgemerkt am gleichen Tag, an dem ihr Verein gegen Neymar vor Gericht zog.
Während Verträge vielerorts nur noch zur Ermittlung der Ablösesumme dienen und selbst Vereine wie der FC Barcelona sich nicht mehr gegenüber ihren Spielern durchsetzen können, scheint es umso bemerkenswerter, welchen Weg Borussia Dortmund in den vergangenen Jahren eingeschlagen hat. Der BVB hat sich deutlich erkennbar von der Illusion gelöst, seine besten Spieler auf Dauer binden zu können, und damit einen Handlungsspielraum geschaffen, den es im Fußball so nicht oft zu sehen gibt: Wer den BVB als seine Heimat sieht und sich um den Verein verdient gemacht hat, darf mit Entgegenkommen rechnen, selbst wenn die sportlichen Leistungen nicht (mehr) den höchsten Ansprüchen genügen. Wer Borussia hingegen als Durchgangsstation auf dem Weg nach ganz oben betrachtet, darf sich mit dem Gedanken anfreunden, bei nächstbester Gelegenheit verhökert zu werden. Jeder Spieler hat es selbst in der Hand, den BVB als Familienmitglied oder Gast zu erleben.
Ausgangspunkt dieser Strategie ist die Maxime des „modernen Fußballunternehmens“, mit „all seinem Handeln (…) den sportlichen Erfolg zu maximieren, ohne dabei neue Finanzschulden aufzubauen“. Transfererlöse bilden dabei nicht nur eine „klassische Einnahmesäule“, sondern werden auch als eines der „Upside Potentials“ herausgestellt: „In Konsequenz dessen spielt Borussia Dortmund heute und in Zukunft mit einem sehr jungen Bundesligakader. Dieser Weg, den wir seit mehreren Jahren sehr konsequent gehen und den es weiter zu entwickeln gilt, hebt uns von vielen anderen Wettbewerbern ab.“ Zu Deutsch: Junge Spieler werden nicht verpflichtet, um bis ins Rentenalter gemeinsam Fußball zu spielen, sondern um stattliche Ablösen in die Kassen zu spülen und regelmäßig durch andere Talente ersetzt zu werden.
In einer Investoren-Präsentation vom Juni 2017 wird diese Strategie deutlicher ausgeführt, indem Spieler in zwei Gruppen aufgeteilt werden: „Qualitätsspieler“ sorgen demnach für „die nötige Leistungstiefe“ und sollen mit ihrer Erfahrung die sportliche Wettbewerbsfähigkeit sichern – als Beispiele genannt werden Shinji Kagawa, Marco Reus, Pierre-Emerick Aubameyang, André Schürrle und Mario Götze. „Junge talentierte Spieler“ hingegen sollen im eigenen Nachwuchszentrum ausgebildet oder durch ein „auf Wertentwicklung ausgerichtetes Scouting“ nach Dortmund gelockt werden, wo sie entweder zu Qualitätsspielern reifen oder „substanzielle Ertragspotenziale“ generieren – genannt werden in diesem Kontext Felix Passlack, Christian Pulisic, Emre Mor, Ousmane Dembélé, Julian Weigl, Matthias Ginter und Raphael Guerreiro. Im Klartext: Der BVB unterbreitet Talenten ein verlockendes Angebot. Sie können Fußball auf höchstem Niveau spielen, ihren Marktwert vervielfachen und den BVB nach spätestens drei Jahren zu einem Topclub in Spanien oder England verlassen. Wer sich wie Emre Mor oder Mikel Merino nicht durchsetzen kann, darf im Gegenzug aber nicht auf Geduld hoffen und muss mit einem Club aus der zweiten oder dritten Reihe Vorlieb nehmen. Eine emotionale Bindung des Vereins an die Spieler, gar echte Liebe? Fehlanzeige.
Was bedeutet das nun für die Transferentscheidungen, die die Geschäftsführung zuletzt zu treffen hatte? Nehmen wir zwei Fälle als Beispiel, die uns in diesem Sommer besonders beschäftigt haben – den erfolgreichen Transfer Dembélés und den nicht zustande gekommenen Transfer Aubameyangs.
Dembélé war mit der Perspektive verpflichtet worden, beim BVB den nächsten Karriereschritt zu gehen. Statt direkt aus dem Mittelfeld der französischen Liga zu einem spanischen Topclub zu wechseln, konnte er in Dortmund Champions League Erfahrung sammeln und einen bedeutenden Titel gewinnen. Es war das gleiche Versprechen, mit dem sich der BVB in den vergangenen Jahren zu einem der interessantesten Clubs für junge Talente entwickelt hatte.
Als Neymar in Paris anheuerte, konnte die schwarzgelbe Verhandlungsposition kaum besser sein: Der FC Barcelona hatte nicht nur satte 200 Mio. Euro in der Portokasse, sondern stand auch unter dem enormen Druck, möglichst rasch einen Nachfolger zu präsentieren. Dieser Druck stieg weiter, als sich die Mannschaft im Supercup gegen Real Madrid bis auf die Knochen blamiert hatte. Gleichzeitig war die Verhandlungsposition des BVB aber auch von einer unheimlichen Schwäche geprägt: Eine harte Haltung gegenüber Dembélé hätte (wie im Fall Draxler) zu dauerhafter Unruhe führen und die sportlichen Ziele gefährden können. Und schlimmer noch: Talente in ganz Europa wären ins Grübeln gekommen, ob ein Wechsel zu einem Verein, der die Karriereträume eines anderen Talents so harsch zunichtemachte, für sie nicht der falsche Schritt sein könnte.
Es blieb am Ende nur eine Lösung: Obwohl man Dembélé am Rheinlanddamm gerne länger gehalten hätte, musste ein Transfer erfolgen – die einzige Frage war, wie viele der Neymar-Millionen der BVB auf seinem Konto würde verbuchen können. Dabei war die Botschaft an talentierte Nachwuchskicker ebenso entscheidend wie die Ablösesumme, die sich am Ende eher bei 147 als bei 105 Mio. Euro einpendeln dürfte: Borussia Dortmund ist genau der richtige Verein, um sich bei den ganz großen Clubs dieser Welt ins Gespräch zu bringen – nur erpressen lassen möchte man sich von einem Rotzlöffel nicht.
Anders stellte sich die Situation bei Aubameyang dar, der eine zentrale Rolle im Dortmunder Spiel einnehmen sollte. Als verdientem Spieler wurde ihm Entgegenkommen signalisiert, den BVB ohne Probleme verlassen zu dürfen – vorausgesetzt, ein Verein hätte rechtzeitig eine marktgerechte Ablöse geboten und damit die Suche nach einem Nachfolger ermöglicht. Da dieser Fall nicht eintrat, blieb Aubameyang dem BVB erhalten und zahlte das ihm entgegengebrachte Vertrauen mit Leistung zurück – sechs Tore in den ersten drei Pflichtspielen sprechen eine deutliche Sprache. Im Gegenzug wird Aubameyang im nächsten Sommer ein weiteres Entgegenkommen erwarten, was die Zusage zu einem potentiellen Vereinswechsel betrifft – die Schmerzgrenze bei der Ablösesumme dürfte deutlich sinken.
Auch wenn einige Härtefälle der vergangenen Jahre sicher nicht in dieses Schema des Gebens und Nehmens passten – hier wäre etwa Kuba zu nennen, der sich von Thomas Tuchel eiskalt abserviert fühlte –, scheint der BVB das richtige Rezept gefunden zu haben, sowohl verdienten Spielern und etablierten Stammkräften, als auch abgehobenen Ich-AGs gerecht zu werden. Indem Borussia Dortmund den Spieß umdreht und das bisweilen unerträgliche Maß an Gleichgültigkeit und Distanzierung gegen sie einsetzt, können zumindest die schlimmsten Fehlentwicklungen im Verhältnis zwischen Club und Spielern abgefedert werden.
So sind es am Ende eher die erfahrenen Kräfte wie Andrey Yarmolenko oder Ömer Toprak, von denen sich der BVB ein festes Gerüst und einen langfristigen Qualitätszuwachs verspricht. Sie sind es, die das Gesicht des BVB über Jahre prägen und jungen Talenten als Vorbild dienen werden, weshalb von ihnen schon bald eine starke Identifikation erwartet werden wird. Dass sie mit Vereinstreue und Kontinuität keine allzu großen Probleme haben dürften, sollte nach elf Jahren in Freiburg und Leverkusen bzw. zehn Jahren in Kiew immerhin angenommen werden können.