Fußballfan und Wähler - was ich aus Pistorius' Äußerungen über die SPD lerne
Kurz
zu meiner Person: Ich bin das, was früher mal ein „Stammwähler“
der SPD war. Opa war Bergmann, meine beiden Onkels waren Bergleute,
der Papa bei der Deutschen Bahn angestellt. Ich bin in dem
Bewusstsein aufgewachsen, dass das Kreuz bei den „Sozis“
hingehört und nirgendwo anders. Und wie viele Wahlergebnisse in NRW
belegen, war ich damit definitiv nicht alleine. In den letzten Jahren
ist dieses Urvertrauen allerdings massiv erodiert. Nicht das
Vertrauen in die Sozialdemokratie, sondern in die Partei, die sie
vertritt. Schon unser –gottseisgedankt- mittlerweile
Ex-NRW-Innenminister Jäger mit seiner demonstrativ zur Schau
gestellten Inkompetenz hat es mir von Wahl zu Wahl schwerer gemacht,
hier in ihrem Stammland, dieser Partei noch meine Stimme zu geben.
Für die nächste Bundestagswahl wird die SPD jetzt endgültig ohne mich planen müssen. Nicht, weil ich etwas gegen einen Kanzler Martin Schulz hätte. Ich finde dessen europafreundliche Einstellung sogar unterstützenswert. Und natürlich will ich „soziale Gerechtigkeit“. Auch wenn ich darunter vermutlich etwas anderes verstehe als eine Partei, die in vielen Städten sozialschwache „Trinker“ aus der Öffentlichkeit verbannt, während man in der Straßengastronomie im Sommer natürlich weiterhin seinen teuren Cocktail auf öffentlichen Plätzen schlürfen darf.
Nein, sie wird für mich unwählbar, weil Pistorius' Worte mir viel über den moralischen Verfall „meiner“ Partei gezeigt hat. Natürlich, die Bilder aus Braunschweig mit dem auf einen Ordner geworfenen Böller und der Versuch in München, einen Spielabbruch herbei zu führen, indem Sitzschalen und Plastikrohre aufs Spielfeld geschmissen wurden, waren ganz großer Mist. Da brauchen wir nicht drum herum zu reden. Gerade den Reihen, von denen diese Aktionen ausgingen, muss ganz klar gewesen sein, dass sie damit der Law & Order-Fraktion eine Steilvorlage liefern. Und natürlich werden diese Vorfälle Konsequenzen haben. Wer die Bilder live oder im TV gesehen hat, wird vermutlich sofort die Hände über den Kopf geschlagen haben, weil es ein absoluter Bärendienst war, der dort erwiesen wurde.
Aber obwohl ich einiges erwartet habe, haben mich die Worte gerade aus dieser Richtung schon erschüttert. Es gebe nur eine Antwort, nämlich lebenslange Stadionverbote. Die sollen mit Schnellgerichten verhängbar sein. Und man müsse auch über stehplatzfreie Stadien und personalisierte Tickets nachdenken. Aber was bedeuten diese Forderungen im Kern? Nicht einmal ein Innenminister – und ich gebe offen zu, dass ich sowohl auf Länder- als auch auf Bundesebene nicht viel von dieser Gattung halte – wird so naiv sein und denken, dass Platzstürme, Pyrotechnik und sonstige Vorfälle ausbleiben, wenn die Menschen sitzen statt stehen. Das Olympiastadion ist ein reines Sitzplatzstadion und wie wir als Dortmunder wissen, leuchtet bei jedem Pokalfinale ein Teil der Kurve im Bengalolicht. Endgültig grotesk wird die Forderung, wenn mit dem Relegationsspiel bei 1860 argumentiert wird. Dort flogen S-I-T-Z-P-L-A-T-Z-schalen auf das Spielfeld. Und diese Sitze wurden nicht eiligst von den Haupttribünen als Wurfnachschub herbei geschafft. Selbst in Kombination mit personalisierten Tickets bleibt das eine stumpfe Maßnahme, weil Leute, die sich vor dem Zündeln aufwändig vermummen, nicht so blöd sein werden, dann dabei brav auf dem Platz zu bleiben, der auf ihrer individuell zugewiesenen Eintrittskarte ausgewiesen ist.
Diese Maßnahmen an sich sind völlig unwirksam, was „Randale“ angeht. Das weiß vermutlich auch Herr Pistorius. Darum geht es aber auch gar nicht. Es sind nur Symbole einer traurigen, für einen Sozialdemokraten sogar schäbigen Denkweise. Es geht nicht ums Sitzen oder Stehen – im Kern steht dahinter der Gedanke, dass man kostengünstige Stehplätze abschaffen muss, um den Frieden im Stadion zu gewährleisten. Selektion am Ticketschalter. Wer sich keinen Sitzplatz leisten kann, muss leider draußen bleiben. Und weiter gedacht: Friedfertigkeit lässt sich am Kontostand ablesen. Je geringer er ist, desto größer die Gefahr, die von dem Menschen ausgeht.
Das, was früher „der kleine Mann“ war, für die die SPD eingestanden ist, ist im Laufe der Jahre auch dort im Geiste zur Bedrohung geworden. Eine Bedrohung, die man am besten komplett aus dem Stadion verbannen muss. Und wer es trotzdem rein schafft, wird im Schnellverfahren wieder ausgeschlossen. Wir sprechen hier nicht von einer erzkonservativen Partei, die nach dem Motto „lieber einer zu viel als einer zu wenig“ ihrer Wählerschaft die totale Sicherheit vorgaukeln möchte, sondern über eine, die ihr Grundsatzprogramm in die Tradition der humanistischen Philosophie („Unsere geschichtlichen Wurzeln“ – Berliner Grundsatzprogramm) stellt und den aktuellen Bundestagswahlkampf mit „sozialer Gerechtigkeit“ überschreibt.
Pistorius, der trotz aller Bekundungen, kein „harter Hund“ zu sein, so manchen Unionspolitiker noch alt aussehen lässt, zeichnet ein ziemlich desaströses Bild vom moralischen Zustand der Partei. Was haben seine Forderungen nach dem Ausschluss einer finanzschwächeren Klientel, nach Schnelligkeit vor Gründlichkeit bei richterlichen Verurteilungen und der Gefährdungsbeurteilung nach Zahlkraft noch mit diesen Inhalten zu tun? Einfach rein gar nichts. Und außer den Jusos steht in dieser Partei auch niemand auf, um diesen Herren an die Kette zu legen und an die eigenen Wurzeln zu erinnern.
Was ist das für eine „soziale Gerechtigkeit“, die am Ende dafür sorgt, dass finanzschwache Fans und Heranwachsende in Gänze aus dem Stadion getrieben werden, um eine wirklich überschaubare Zahl von tatsächlichen Tätern zu treffen? Neben der Leidenschaft für den Sport ist der Gang ins Stadion für viele eine Gelegenheit, Freundschaften und Gemeinschaft im Fanclub zu pflegen. Für sie wäre eine Abschaffung der Stehplätze ein weiterer Schritt in eine gesellschaftliche Isolation, ohne dass sie sich etwas zu Schulden kommen lassen. Und dabei kratzen wir noch nicht einmal die Frage an, was mit den Leuten geschieht, die man so ausschließt. Welches Vertrauen haben sie noch in Menschen, die Politik nicht für, sondern gegen sie macht? Wie verbringen sie ihre Freizeit, wenn der Fußball sie ausschließt? Was nicht nur, aber eben auch, Boris Pistorius fordert, ist nicht nur eine bloße Verlagerung einer wirklich problematischen Gewaltklientel aus dem Stadion nach draußen, er vergrößert gesellschaftliche Verwerfungen noch zusätzlich.
Für Werte einzustehen, ist niemals leicht und niemals bequem. Und natürlich lässt sich die Gewalt nicht allein mit Streicheleinheiten aus der Welt, noch nicht einmal aus der Fußballwelt, schaffen. In der SPD scheint man sich allerdings für den einfachen Weg entschieden und diese Werte stumpfem Populismus geopfert zu haben.
Die
großen Volksparteien fragen sich in den letzten Jahren, woher der
Verlust ihrer Stammwählerschaft, woher Politikverdrossenheit kommen.
Vielleicht ist mittlerweile die Kluft zwischen dem, was man sagt und
dem was man tut, für viele Leute zu groß geworden. Pistorius’
Worte haben in Teilen nichts mit geltenden Gesetzen und in Gänze
nichts mehr mit dem sozialdemokratischen Urgeist gemein. Und was
bleibt einer Partei dann noch an Glaubwürdigkeit?