Zum Derbyboykott der UGE: Polizei zerstört mit Forderungen die Fankultur
Nur noch 12 Tage, dann ist es wieder soweit: Das reizvollste Duell der ganzen Saison steht an, das Revierderby. Zwei Fanlager, die sich in tiefer Abneigung gegenüberstehen, für eine stimmungsvolle Kulisse sorgen und den Rasen des Westfalenstadions beben lassen. Doch, halt, etwas wird anders sein an diesem 8. November, wenn ab 15.30 Uhr der Ball an der Strobelallee rollt. Denn mitten in den Genuss des 3:0-Erfolges des 1. FC Köln beim ungeliebten Reviernachbarn am 4. Oktober verbreitete es sich wie ein Lauffeuer: Mit der Überschrift „Derby Auswärts – So wie einst, ja so soll es wieder sein!“ verkündeten die „Ultras GE“ ihren Boykott. Sie, der Kern des Gästeblocks, werden dem Derby fernbleiben. Mittlerweile werden unter dem Aufruf über 100 weitere Fanclubs und Gruppierungen als Unterstützer aufgelistet. Es kündigt sich also blauweiße Tristesse auf der Nordtribüne an.
Aber was ist passiert? In ihrem Boykott-Aufruf schildern die UGE ihre Beweggründe. So habe die Polizei eine Reduzierung des Gästekartenkontingents um 50 Prozent auf 4.000 Karten gefordert, verbunden mit einer „verpflichtende[n] Anreise per Bus inklusive Voucher-System“. Nach zahlreichen Gesprächen hätten sich demnach sowohl der FC Schalke als auch Borussia Dortmund diesen Forderungen widersetzt, am Ende habe ein Kompromiss von 6.500 Gästekarten ohne eine vorgeschriebene Anreise gestanden. Die UGE bezeichnen dies jedoch als „faule[n] ‚Kompromiss‘“, zumal zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Boykottaufrufs noch nicht ausgeschlossen werden könne, „dass das Kontingent noch auf 4.000 Karten reduziert und die Busanreise verpflichtend wird. Es besteht weiterhin die Möglichkeit, dass die angedachten Maßnahmen der Polizei durch das Innenministerium angeordnet werden. Der ‚Kompromiss‘ wäre somit hinfällig.“ Weiter führen die UGE aus:
„Für uns sind die Reduzierung des Karten Kontingents sowie die vorgeschriebenen Anreisemöglichkeiten nicht hinnehmbar. Durch diese Maßnahme wird das Grundrecht auf Freizügigkeit drastisch eingeschränkt. Es muss möglich sein, selbst entscheiden zu können wie man zu einem Fußballspiel anreist.“
Sie schließen ihren Aufruf mit der Parole: „Wir Schalker wollen unser Derby zurück – Volles Gästekontingent und freie Anreise – 100% Derby!“
Warum ausgerechnet jetzt diese radikalen Forderungen?
Die geschilderten Forderungen der Polizei muten in der Tat sehr seltsam an. Warum stellt die Polizei plötzlich derart radikale Forderungen, nachdem die zurückliegenden Derbys in Dortmund seitens der Polizei als „friedlichstes Derby aller Zeiten“ und „weitgehend störungsfrei und ohne besondere Sicherheitsstörungen“ bezeichnet wurden? Und wie passt dies zu einer folgerichtigen Feststellung des nordrhein-westfälischen Innenministers Ralf Jäger (SPD), dass in NRW in Gänze „die Fans ihre neuen Freiräume verantwortungsvoll genutzt haben“?
Warum sollen die Rechte der Fans also ohne Anlass beschnitten werden? Zur Erforschung der Hintergründe ließ schwatzgelb.de dem Polizeipräsidium Dortmund einen entsprechenden Fragenkatalog zukommen. Nur Stunden später erhielt unsere Redaktion die nachfolgende Antwort:
„Zur Vorbereitung des Revierderbys zwischen Borussia Dortmund und Schalke 04 am 08.11.2015 in Dortmund hat die Polizei bereits mehrere Sicherheitsbesprechungen mit den Beteiligten des Arbeitskreises Derby durchgeführt.
Dabei galt es für die Polizei insbesondere die Ergebnisse der Nachbereitung des letzten Derbys in Dortmund am 28.02.2015 zu berücksichtigen. Die Vorfälle am 28.02.2015, wie so häufig verursacht durch eine gewaltbereite Minderheit, haben die Polizei veranlasst, die Sicherheitsanforderungen weiter zu erhöhen.
So missachteten Schalker Ultragruppierungen zum wiederholten Male die aus Sicherheitsgründen vom AK Derby empfohlenen und umfangreich kommunizierten Anreisewege. Der Ausstieg mehrerer hundert Angehöriger von Schalker Ultragruppierungen an der S-Bahn-Haltestelle in Dortmund-Barop und der sich anschließende rechtswidrige Fanmarsch in Richtung Stadion führte zu erheblichen Verkehrsstörungen und musste von starken Polizeikräften begleitet werden.
Die benannten Gruppierungen überrannten anschließend unkontrolliert eine Kontrollstelle an der Westfalenhalle und konnten erst am Stadionvorplatz angehalten und überprüft werden. Hier kam es zu erheblichen Behinderungen anderer Stadionbesucher.
Weiterhin wurde im Nachgang zum Derby bekannt, dass mehrere U-Bahnen der DSW 21 durch Schalker Gewalttäter beschädigt wurden. Nach Auskunft der DSW21-Sicherheitsabteilung hätte dieser Vorfall beinahe nicht nur Auswirkungen für die Anreise der Fußball-Anhänger gehabt, sondern darüber hinaus massive Behinderungen des gesamten Dortmunder ÖPNV nach sich gezogen. Die DSW 21 hat daraufhin angekündigt, zukünftig deutlich weniger Personen in ihren U-Bahnen zum Stadion zu befördern. Diese Maßnahme bedeutet, dass in dem üblichen Zeitfenster vor dem Spiel deutlich weniger Gästefans in Richtung Stadion befördert werden können.
Ebenfalls nicht außer Acht lassen konnte die Dortmunder Polizei, dass es im Vergleich zum vorherigen Derby in Dortmund am 28.02.2015 zu einem erheblichen Anstieg der Straftaten gekommen war. Während des Derbys im Jahr 2014 zählte die Dortmunder Polizei 35 Straftaten, davon neun Gewalttaten. Bei der Begegnung im Februar 2015 mussten 119 Straftaten zur Anzeige gebracht werden, darunter 51 Gewalttaten.
Aufgrund dieser Vorfälle und zur Verhinderung gewalttätiger Ausschreitungen beim anstehenden Derby hat sich die Polizei intensiv dafür eingesetzt, erhöhte Sicherheitsmaßnahmen durchzusetzen. Im Einzelnen:
- Reduzierung des Gästekartenkontingents auf gut 4000 Karten.
- Durchführung einer organisierten Anreise von Fans von Schalke 04, insbesondere mit Bussen und PKW direkt in den Veranstaltungsbereich
- Nutzung eines Vouchersystems und einem personalisierten Ticketing, um hiermit eine koordinierte Anreise zu garantieren
- Ausschluss von Problemfangruppierungen des Gastvereins.
Mit diesen Forderungen, die im Einklang mit den Forderungen des Ministeriums für Inneres und Kommunales in NRW und der Innenministerkonferenz stehen, konnte sich die Dortmunder Polizei bei den Vereinen BVB 09 und Schalke 04 jedoch nur zum Teil durchsetzen.“
Wesentliche Fragen bleiben unbeantwortet
Wie man der Antwort entnehmen kann, blieben wesentliche Aspekte unbeantwortet. Wie kommt die Polizei auf die Reduzierung um ausgerechnet 4.000 Karten? Damit dürfte die polizeiinterne Zahl erfasster „Problemfans“ um ein Vielfaches überschritten werden. Warum sollen also über diese Gruppe hinaus - rein rechnerisch - weitere Fußballfans ausgeschlossen werden? Wie will man überhaupt gewährleisten, dass just die „Problemfans“ ausgeschlossen würden? Warum soll es überhaupt ausgerechnet jetzt diese drakonischen Maßnahmen geben, nachdem die vorherigen Derbys doch auch den Aussagen der Polizei zufolge völlig friedlich verlaufen sind? Will man sich auf dem Rücken der Fußballfans entlasten, weil bei weniger Fans auch weniger Personal eingesetzt werden müsste? Sollen wir Fußballfans für die Reduzierung der exorbitant hohen Einsatzstunden der Polizisten herhalten? Warum?
Würden die Forderungen der Polizei umgesetzt, so würde dies einen empfindlichen Schlag für die (Derby-)Fankultur bedeuten. Ein Boykott der aktiven Fan-Szene liegt hierbei als Konsequenz sehr nahe. Die interessante Frage ist, ob sich die Polizei dessen bei der Aufstellung des Forderungskataloges bewusst war oder ebendies sogar provozieren wollte, um sich eigene Einsatzstunden zu ersparen. Darüber lässt sich an dieser Stelle nur unseriös spekulieren.
Unverhältnismäßige Einmischung durch die Polizei
Fakt ist hingegen eine völlig unverhältnismäßige Einmischung in die Planungen vor dem Derby. Die Polizei will die Freiheit der Fußballfans - von mündigen Staatsbürgern! - einschränken, indem die Anreise zu einem Fußballspiel diktiert wird. Pikant am Rande: Das Amtsgericht Hannover entschied im Frühjahr 2014, dass Inhaber von Auswärtsdauerkarten nicht gezwungen werden können, mit einem durch den Verein organisierten Bus zum Auswärtsspiel in Braunschweig zu fahren. Hierauf hatte Hannover 96 zunächst auf Drängen der Polizei bestanden. Offenbar ignorierte die Polizei Dortmund dieses Urteil nun geflissentlich mit ihrem Katalog an Forderungen.
Die Reduzierung auf 4.000 Karten würde zudem den Vereinen und insbesondere uns Fans die Daumenschrauben anlegen. Käme es bei einem halbleeren Gästeblock - wie auch in den Vorjahren - zu keinen gewaltsamen Vorfällen im nennenswerten Maße, so würde die Polizei dies einzig auf ihr Konzept (und nicht etwa wie Innenminister „Ralle“ Jäger auf das Verantwortungsgefühl der Fans) zurückführen und auch bei kommenden Derbys für halbleere Blöcke plädieren. Käme es jedoch durch eine Minderheit zu gewaltsamen Vorfällen, so wäre der Weg zu einer weiteren Reduzierung oder gar einem Ausschluss von Gästefans vorgezeichnet - der Fluch des 12:12-„Sicherheitspapiers“. Die Geister, die 2012 heraufbeschworen wurden, sind jetzt real. Wäre das Konzept realisiert worden, so wäre ein Teufelskreis eröffnet worden, an dem es nur einen Verlierer geben kann: Die Fußballfans beider Seiten. Das Ende der Fankultur im wohl emotionalsten aller Bundesliga-Duelle wäre vorgezeichnet. Insofern müsste den Vereinen daher eigentlich Respekt gebühren, dass sie sich den Forderungen der Polizei widersetzt haben.
Schleichende Reduzierung des Gästekarten-Kontingents
Doch was letztlich am Ende herauskam, lässt sich auch nur als fauler Kompromiss zulasten der Fans ansehen. 6.261 Karten stehen den Gästen am übernächsten Sonntag im Westfalenstadion zur Verfügung, also 7,5 Prozent der Gesamtkapazität. Die Entwicklung in den vergangenen Jahren - ohne nennenswerte Vorkommnisse seit dem Derby im Oktober 2013 in der Getränkehalle - scheint trotz aller Kompromisse auf genau das oben skizzierte Schreckensszenario hinauszulaufen: Am 25. März 2014 wurden noch lediglich einige Karten im Gäste-Stehblock sowie in den angrenzenden Sitzplatzblöcken beider Fanlager zur Erschaffung eines Puffers nicht verkauft, die Gesamtkapazität sank auf 77.600 Zuschauer. Am 28. Februar 2015 konnten zwar immerhin wieder 79.500 Zuschauer beim Derby dabei sein, doch das Gästekontingent wurde nun von 10 auf 8,5 Prozent abgesenkt. Am 8. November 2015 werden es nun also nur noch 7,5 Prozent sein, die Gesamtkapazität beträgt diesmal 79.850. Es findet also eine schleichende Reduzierung von Gästekarten statt und man fragt sich: Warum? Wofür? Und wer garantiert, dass sich die Polizei beim Derby der Saison 2016/17 nicht durchsetzt und plötzlich wirklich nur noch - maximal? - 50 Prozent der Gästekarten verkauft werden? Hier ist der BVB gefordert, dass er in Zukunft klare Kante gegen die Forderungen der Polizei und der Politik zeigt und auch dem ungeliebten Nachbarn die 10 Prozent wieder zugesteht.
Ein Problem, das auch uns bald treffen kann
Man sollte hier auch nicht den Fehler machen und schadenfroh denken: „Es sind doch nur die Blauen.“ Das griffe zu kurz. Denn schon beim Rückspiel kann es uns Dortmunder treffen. Dann werden wir vielleicht schon in Busse oder Sonderzüge gezwungen, im Zweifel mit repressiver Polizeibegleitung, bei der man jeden Gang zur Toilette mühsam ausdiskutieren muss. Es ist daher im Sinne einer blühenden, friedlichen Fankultur wichtig, dass beide Fanlager in diesem Punkt zusammenstehen und die Stimmen erheben gegen eine unangebrachte Einmischung der Polizei in Fanbelange. Welche Rolle die Polizei, in diesem Falle die Polizei Gelsenkirchen, im Hintergrund spielt, das verdeutlichen die Vorkommnisse nach dem Derby aus dem Oktober 2013, die schwatzgelb.de seinerzeit ausführlich analysierte.
Gleichzeitig muss jedoch auch die Frage erlaubt sein, warum die UGE ausgerechnet jetzt einen Derby-Boykott ausruft. Angesichts der oben dargestellten Entwicklung bei den Derbys wäre eine Reaktion beispielsweise schon beim Derby der Saison 2014/15 zu erwarten gewesen.
Das Derby als Bühne nutzen
Nichtsdestotrotz sollte das Duell am 8. November als Bühne genutzt werden. Als Bühne, um die Polizei und die Politik akustisch und visuell darauf hinzuweisen, dass ihre Einmischung die Fankultur zerstört, für welche die Bundesliga international beachtet wird. Aber auch als Bühne, um einmal mehr zu zeigen, dass ein Derby im Stadion völlig friedlich verläuft. Lasst uns die Totengräber der Fankultur mit stimmungsvollen Gesängen zum tosenden schwarzgelben Derbysieg argumentativ in die Ecke drängen. Und in Zukunft darf sich die Frage nach reduzierten Kartenkontingenten dann erst gar nicht mehr stellen. Hier ist dann der BVB gefordert, im Sturm der Forderungen populistischer Polizeigewerkschafter und Politiker standhaft zu bleiben.
Daniel Mertens, 27.10.2015