"Train of Hope": Die zwei Gesichter der Stadt Dortmund
Die Nachricht verbreitete sich am späten Samstagabend in Windeseile: In der Nacht sollen mehr als 1.000 Flüchtlinge aus Budapest am Dortmunder Hauptbahnhof eintreffen. Menschen, die aus Kriegsgebieten wie Syrien fliehen mussten und in der ungarischen Hauptstadt landeten. Ihr weiterer Weg führte sie mit der Bahn nach München, von wo aus sie auf die verschiedenen Bundesländer verteilt wurden. Schnell brach eine Welle der Solidarität und Hilfsbereitschaft los: In einem professionellen Chaos sammelten fleißige Helferinnen und Helfer die zahlreichen Spenden der Dortmunder Zivilbevölkerung: Decken, Spielzeug, Kleidung und jede Menge Lebensmittel, die später an die Flüchtlinge verteilt wurden.
Mehr als 300 Flüchtlings-Unterstützer, darunter viele BVB-Fans
Erfreulich: Unter den Anwesenden waren auch zahlreiche BVB-Fans, die nicht nur selbst spendeten, sondern auch beim Transport der Spenden ins Dietrich-Keuning-Haus anpackten, wo die Flüchtlinge nach ihrer Unterkunft vorerst zentral untergebracht wurden. Unterstützt wurden sie von der Feuerwehr und verschiedenen Hilfsorganisationen. Mehr als 300 Flüchtlings-Unterstützer sammelten sich im Laufe der Nacht am Nordausgang des Hauptbahnhofs.
Als am nächsten Morgen der erste Zug mit rund 100 Flüchtlingen, überwiegend Familien mit kleinen Kindern, in Dortmund einrollte, begrüßten die Anwesenden sie mit Applaus, „Refugees Welcome!“-Sprechchören und vorbereiteten Proviant-Tüten. Im Laufe des Sonntags kamen in Dortmund noch weitere Züge mit insgesamt mehr als 2.000 Flüchtlingen an. Die Menschen wurden ins Dietrich-Keuning-Haus geleitet, wo sie sich dank der vielen Spenden stärken konnten. Von dort ging es später mit Bussen in Unterkünfte anderer NRW-Städte.
Dortmund hat die Chance genutzt
Hinter Dortmund liegt ein ereignisreiches Wochenende. Es waren bewegende Szenen, als die Flüchtlinge zwar erschöpft, aber sichtlich glücklich über die freundliche Begrüßung in einer fremden Stadt eine weitere Etappe ihrer langen Reise abschließen konnten. Dortmund hat seine Chance genutzt: In Zeiten, in denen in Deutschland wieder vermehrt Flüchtlingsunterkünfte angegriffen werden und der Hass gegen Fremde mancherorts auf offener Straße zelebriert wird, sind die Reaktionen der Bürgerinnen und Bürger ein wertvolles, unserer Stadt würdiges Zeichen! Das Gleiche gilt für München, Frankfurt, Saalfeld oder Hamburg.
Nach Informationen der Ruhr Nachrichten wird Dortmund auch in den nächsten Tagen zentrale Drehscheibe für die Flüchtlinge in NRW sein. Auch sie werden auf unsere Hilfe angewiesen sein. Wer helfen möchte, kann beim Projekt Ankommen e.V. und in der öffentlichen Facebook-Gruppe trainofhopedo erfahren, wo und in welcher Form konkret Spenden und Unterstützung benötigt werden. Weitere Informationen:
- öffentliche Facebook-Gruppe Refugees Welcome Ruhr,
- Facebook-Seite Flüchtlingshilfe Dortmund,
- aktuelle Infos: @trainofhope_do bei Twitter, alternativ: #trainofhopedo.
Nazis mit Gegenkundgebung
Die positiven Eindrücke überwiegen zweifelsfrei, dennoch bleibt neben einem nächtlichen Brandanschlag auf eine Flüchtlingsunterkunft in Kemminghausen ein weiterer Wermutstropfen: Wenig überraschend hatten sich auch Anhänger der Partei Die Rechte auf den Weg in die Innenstadt gemacht, um mit einer Kundgebung gegen die Schutzsuchenden zu hetzen. Kaum mehr als 20 Neonazis marschierten zunächst unter Polizeischutz vor dem Hauptbahnhof auf, um dort versammelte Flüchltings-Helfer zu bepöbeln. Schon zu diesem Zeitpunkt sah die Polizei ihre Hauptaufgabe darin, die Nazis zu sichern und ihnen einen möglichst störungsfreien Auftritt zu ermöglichen. Der Bahnhofsvorplatz wurde für normale Reisende gesperrt und sämtliche Beobachter des Geschehens wurden unter Verweis auf eine angebliche Gefährdung ihrer Sicherheit zurückgedrängt. Freundliche Nachfragen, worin denn die Gefährdungslage bestehe, konnten offenkundig nicht sinnvoll beantwortet werden. Stattdessen wurde darauf verwiesen, dass einer Polizeianordnung Folge geleistet werden müsse, weil diese ansonsten mit Gewalt durchgesetzt würde. Was die Polizei unter einer solchen Drohung versteht, mussten die Flüchtlings-Helfer im weiteren Verlauf der Nacht noch schmerzhaft erfahren.
Anschließend versammelten sich die Neonazis an den Katharinentreppen gegenüber dem Südeingang des Hauptbahnhofs. Ihre Kundgebung hielten sie unhörbar für die Flüchtlings-Unterstützer im Innern und auf dem Vorplatz des Bahnhofsgebäudes ab. Der Versammlungsort wurde von Beamten von Bundes- und Landespolizei weiträumig abgesperrt.
Gegen 2.40 Uhr wurde die Versammlung der Neonazis vorzeitig beendet. Die Nazis stürmten nun, zunächst nur von wenig Polizei begleitet, Richtung Bahnhofsvorplatz und beschimpften die Anwesenden. Schnell wurden die Rechtsextremen aber wieder von starken Polizeikräften umringt, die ihre Aufgabe aber ganz offensichtlich nicht darin sahen, die Nazis einzukesseln, sondern die Gegendemonstranten einzuschüchtern. Die Beamten setzten die Helme auf und nahmen den Polizeihunden die Maulkörbe ab. Inzwischen hatten sich bereits rund 300 Flüchtlings-Unterstützer und Gegendemonstranten in der Eingangshalle und auf dem Vorplatz versammelt, um ein Zeichen gegen die offen zur Schau getragene Fremdenfeindlichkeit zu setzen und die Nazis mit einer friedlichen Sitzblockade am Betreten des Bahnhofs zu hindern. Schließlich wurde hier später, die genaue Ankunft war noch ungewiss, mit dem Eintreffen mehrerer hundert Flüchtlinge gerechnet. Was passieren würde, wenn Menschenhasser auf ihre Hassobjekte treffen, mochte sich niemand ausmalen.
Fragwürdige Taktik der Polizei Dortmund
Zu diesem Zeitpunkt eröffneten sich der Dortmunder Polizei mindestens fünf Möglichkeiten, um die rund zwei Dutzend Rechten nach Dortmund-Dorstfeld, überwiegend Heimat der Parteimitglieder, zu transferieren:
- zu Fuß mit entsprechendem Polizeigeleit: Dass die Beamten angesichts des großen Aggressionspotenzials der Nazis von einem rund dreieinhalb Kilometer langen Fußmarsch absahen, ist völlig verständlich;
- Polizei-Bullis: Einsatzfahrzeuge waren zahlreich vor Ort. Man hätte die Rechten also in Kleingruppen und ohne einen Kontakt mit den Flüchtlings-Unterstützern zu riskieren nach Hause transportieren können;
- Bus: Die Ordnungshüter hätten einen Bus der Stadtwerke anfordern können, womit ein Aufeinandertreffen von Nazis und Gegendemonstranten ebenfalls ausgeschlossen gewesen wäre;
- S-Bahn (1. Alternative): In der Nacht von Samstag und Sonntag fuhr die S 1 bzw. S 2 durchgängig im 30-Minuten-Rhythmus von den Gleisen 6 bzw. 7 (liegen am selben Bahnsteig). Diese lassen sich jedoch nur durch das Bahnhofsgebäude erreichen, das Treffpunkt der Flüchtlings-Unterstützer war;
- S-Bahn (2. Alternative): Die Gleise 2-5 erreicht man als einzige auch ohne vorher das Bahnhofsgebäude zu durchqueren. Hierzu verfügt der Bahnsteig über zwei Außentreppen. Eine liegt unmittelbar neben dem Südeingang, die andere rund 100 Meter entfernt. Zur letzteren hätte man die Nazis über den Wall und den angrenzenden Parkplatz führen können, womit man die Flüchtlingsunterstützer weiträumig umgangen hätte.
Drei dieser Varianten hätten also eine reibungslose Abreise der Nazis garantiert und unser Bericht könnte an dieser Stelle enden, hätte sich die Einsatzleitung für eine von ihnen entschieden. Hat sie aber nicht, zumindest nicht direkt.
Keine Kommunikation durch die aggressiv auftretende Polizei
Der Reihe nach: Tatsächlich entschied sich die Polizei Dortmund, wie es heißt, entgegen der Empfehlung der für das Bahnhofsgelände zuständigen Bundespolizei, für eine Abreise mit der S-Bahn. Den Anwesenden im und um den Hauptbahnhof wurde indes von diesen Plänen nichts mitgeteilt. Dass die Polizei auf den Wahnsinnsplan verfallen könnte, die Abreise der Nazis durch die mit Flüchtlingshelfern vollbesetzte Bahnhofshalle durchzusetzen, hätte sich wohl auch niemand vorstellen können. Unter Einsatz von Pfefferspray und zähnefletschenden Hunden wurde dem traurigen Häuflein der Nazis der Weg in die Bahnhofshalle durch bis dahin weit überwiegend absolut friedliche Gegendemonstranten freigekämpft. Zahlreiche Flüchtlingshelfer wurden bei diesem rigorosen Vorgehen durch Pfefferspray verletzt. Sie mussten in dem durch den Polizeieinsatz verursachten Chaos notdürftig versorgt werden, indem ihnen mit Wasser die Augen ausgespült wurden.
Eine Augenzeugin berichtet uns: „Ich war zum Zeitpunkt, als die Rechten in den Bahnhof geführt werden sollten, gerade im Bahnhof auf Höhe der Anzeigetafel und wollte wieder raus, als plötzlich die Polizei reinstürmte. Ich muss sagen, dass ich die Hunde wirklich schlimm fand und richtig Schiss bekommen habe, als ein Polizist mit dem zähnefletschenden Tier auf mich zukam. Ich hatte auch nicht das Gefühl, dass die Polizei diese Hunde voll unter Kontrolle hatte. Die Maulkörbe abzunehmen, war für mich null Komma null verständlich.“
Dass die Polizeibeamten mit ihrem Gewaltausbruch offenbar versuchten, den Nazis den Weg zu Gleis 6/7 zu ebnen, wurde zu keinem Zeitpunkt offen kommuniziert, so dass den Gegendemonstranten nicht klar wurde, ob hier die Abreise der Nazis oder gar deren dauerhafte Anwesenheit im Bahnhof durchgesetzt werden sollte. Die Polizeibeamten trieben rund 100 der Flüchtlings-Unterstützer zurück in die Eingangshalle. Auch hier setzten die Beamten kurzzeitig Pfefferspray ein, kesselten die Gegendemonstranten und ließen von außen niemanden mehr in das Gebäude. Schnell war klar, dass es aufgrund der Enge des Bahnhofs nicht mehr möglich war, die zum Haupteingang vorgerückten Nazis durch das Gebäude zum Gleis zu geleiten. Eine Situation, die die Polizei durch ihr kompromissloses Vorgehen selbst herbeigeführt hatte. So wurden die Rechtsextremen gegen 3.30 Uhr unter höhnischem Applaus der Flüchtlings-Unterstützer wieder aus der Bahnhofshalle und über die Außentreppe direkt neben dem Eingang zu den Gleisen 2-5 geführt, wo sie kurze Zeit später einen Zug bestiegen.
(Quelle: Felix Huesmann)
Eine Frage der Verhältnismäßigkeit
Es bleibt die Frage, warum zum Teufel die Polizei Dortmund nicht gleich diesen Weg zu den Gleisen gewählt hat, und sich stattdessen für einen viel umständlicheren entschied, der außerdem mit einem rabiaten Vorgehen gegen die friedlichen Gegendemonstranten verbunden war? Eine 19-jährige Flüchtlings-Unterstützerin wurde dabei von einem Polizeihund angegriffen und so schwer an Hand und Brust verletzt, dass Sanitäter sie ins Krankenhaus bringen mussten.
Die Einsatzleitung hat hier augenscheinlich nicht die mildeste der oben aufgezählten Alternativen gewählt und solche Abreisemöglichkeiten, die die anwesenden Gegendemonstranten in keiner Weise belastet und eine unkomplizierte Abreise der Rechten garantiert hätten, einfach ausgeblendet. Warum hat die Polizei sich gegen Bulli- oder Busfahrt entschieden? Und warum hat sie, als die Wahl auf die Bahn fiel, die Rechtsextremen nicht gleich über die Außentreppen zum Gleis geführt?
Viele offene Fragen
Und es geht noch weiter: Wieso karrt die Polizei für jedes Bundesligaspiel – und sei es nur gegen die TSG Hoffenheim – Hundertschaft um Hundertschaft heran, hat aber keine Leute verfügbar, wenn es gilt, Flüchtlingen und ihren Helfern die rechten Störenfriede vom Leib zu halten?
In anderen Städten werden Nazi-Kundgebungen nur an weniger brisanten Orten genehmigt, aber in Dortmund hält es die Polizei für eine gute Idee, die zwei Dutzend Nazis gegen den ausdrücklichen Wunsch der Kollegen von der Bundespolizei in genau den Hauptbahnhof zu lotsen und ihnen gewaltsam den Weg freizuräumen, wo gerade hunderte Menschen Flüchtlinge in Empfang nehmen wollen?
Die Behörde bezeichnet Flüchtlings-Unterstützer jeglicher Coloeur, die die Nazis nicht an diesem Ort sehen wollen, anschließend pauschal als Linksextremisten. Was ist das eigentlich für verqueres Weltbild? Welch Ungeist spricht aus ihren Worten und mehr noch ihrem Handeln?
Zum Nachlesen: Liveticker der Ruhr Nachrichten mit vielen Eindrücken des Wochenendes