Ich muss hier raus! Ich muss nach Berlin! - Von der Intensivstation zum Pokalfinale
Michael Budde ist seit Kindesbeinen BVB-Fan. Daher musste er natürlich zum bis dahin größten Spiel seines Lebens fahren, zum Pokalfinale 1989 nach Berlin. Zwei Wochen vor dem Spiel erlitt er einen schweren Unfall, der den Auftakt zu einer unglaublichen Geschichte bildete.
Der folgende Text stammt aus dem Buch "Dortmunder Jungs" von Achim Multhaupt und Felix Meininghaus. Unsere Rezension des Buches könnt ihr hier nachlesen.
Ohne meinen Vater wäre meine Fanbiografie in dieser Form gar nicht möglich gewesen. Wir hatten zwar nicht so viele gemeinsame Erlebnisse, aber er hat vieles von dem vorgelebt, was ich dann später auch gemacht hatte. Mein Alter war hier in Dortmund bei der Hansa Brauerei beschäftigt, die später von der DAB geschluckt wurde. Als Brauer und Mälzer, so schimpfte sich das damals. In den 50er- und 60er-Jahren hatten die Arbeiter in den Brauereien einen engen Draht zu den Spielern. Wesentlich enger, als das heute vorstellbar wäre. Die Spieler gehörten dazu und fühlten sich auch als Teil der Gemeinschaft. Viel mehr als die normalen Leute verdienten sie ja nicht. Die fühlten sich nicht privilegiert, weil sie Millionen auf ihrem Konto hatten, sondern weil sie Fußball spielen durften und nicht den ganzen Tag malochen mussten.
Mit dem Sponsoring lief das damals auch noch ein bisschen anders ab. Genau wie die normalen Arbeiter bekamen die Spieler von den Brauereien ein Deputat, also eine bestimmte Menge Bier pro Woche, die sie mit nach Hause nehmen oder direkt vor Ort konsumieren konnten. Die hatten da in der Brauerei einen eigenen Raum, wo sie sich nach dem Training oder nach dem Spiel schön einen genehmigen konnten. Das klingt unglaublich, ist aber wahr. Und das waren ja junge Männer, voll im Saft und teilweise noch unverheiratet, die haben das Angebot intensiv genutzt. Da lernte man sich kennen, das lief völlig unkompliziert ab und ohne jegliche Allüren. Die Spieler tranken also fröhlich ihre Bierchen und freundeten sich mit den Jungs an, die da arbeiteten. Irgendwann wollten sie denen auch mal was Gutes tun, und weil sie – wie gesagt – keine Reichtümer verdienten, kamen sie auf die Idee, Karten zu besorgen.
Und so kam es, dass mein Vater anfing, den BVB zu begleiten. Wenn es um weite Europapokal-Touren ging, sagen wir mal nach Prag oder Mailand, heißt es, die Brauerei habe schon mal einen Bus gesponsert, wenn genügend Jungs mit Karten zusammenkamen. Und dann sind die wohl alle zusammen da hin gedüst, wo ihre Jungs aufliefen. Irgendwann hat sich das bei meinem Vater dann verselbständigt, und er hat versucht, möglichst alle Europapokal-Spiele der Borussia mitzunehmen. Außerdem ist er mit der deutschen Nationalmannschaft auf Tour gegangen und hat die WM- und EM-Endrunden besucht.
Das ist der Wahnsinn, was da alles an Karten zum Vorschein gekommen ist, als wir nach seinem Tod den Nachlass gesichtet haben. Völlig ungeordnet, teilweise finde ich heute noch in Büchern Tickets von mittlerweile in die Fußballgeschichte eingegangenen Partien, die mein Alter als Lesezeichen genommen hat. Teilweise habe ich die Karten sortiert und in Alben eingeheftet, teilweise sind sie noch ungeordnet. WM-Finale 1954 im Berner Wankdorfstadion, Europapokalfinale 1966 in Glasgow oder auch Wembley 1966 – da sind echte Schätze dabei. Guck mal hier: Europapokal 1956 Borussia gegen Manchester United, die Karte kostete 1,90 Mark. Unglaublich! Oder hier, von einer Reise nach Kanada: Dahin hat Borussia Dortmund mal eine Tour gemacht. Das war Mitte der 60er, und neulich finde ich zufällig die Karten. „Ich fall um, was ist das denn?“, dachte ich nur. Jetzt weiß ich, dass es damals tatsächlich Leute gab, die den BVB zu Freundschaftsspielen bis nach Kanada begleitet haben. Das ist völlig irre. Solche Fundstücke wie diese gibt es Hunderte.
Apropos 1966: In dem Jahr bin ich geboren – ein guter Jahrgang sowohl für die Nationalmannschaft als auch für den BVB. Als ich die Borussia das erste Mal sah, spielte sie noch in der zweiten Liga, damals war das Westfalenstadion gerade im Bau. Wir gingen in das Stadion Rote Erde, das muss 1972 gewesen sein, aber das habe ich nur noch vage in Erinnerung. Das waren die kargen Zweitligazeiten, und mein Alter nahm mich von Zeit zu Zeit mal mit. Aber das habe ich nur noch recht schwach in Erinnerung. 1974 wurde das Interesse für Fußball dann stärker, als hier bei der WM in Deutschland die Post abging, die Leute überall im Land unterwegs waren und ständig die Fernsehübertragungen liefen.
1976 sind mein Vater und ich gemeinsam beim legendären Bundesliga-Aufstiegsspiel gegen Nürnberg im Stadion gewesen, das weiß ich noch genau, weil der Jubel und alles, was da abging, so eindringlich war. In den Jahren danach, als wir endlich wieder erstklassig waren und im Westfalenstadion spielten, bin ich dann ohne ihn losgezogen. Zusammen mit einer Clique vom Hafen aus, wo ich groß geworden bin, zum Stadion und dann auf die Tribüne. Ich war ja noch klein, elf oder zwölf Jahre alt, aber das lief total unkompliziert.
1980 bin ich dann zum ersten Mal mit meinem Vater richtig auf Tour gewesen. Das war bei der Europameisterschaft in Italien, als wir den Titel gewonnen haben. Zwei Jahre später bei der WM in Spanien waren wir wieder zusammen los. In dieser Zeit habe ich Spaß am Fahren gefunden. Für mich war klar, ich mache das auch. Es macht einfach Spaß, zusammen mit gleichgesinnten Jungs auf Tour zu gehen und einen draufzumachen. Das war genau mein Ding, auch wenn ich sagen muss, dass da gerade in den 80ern auch Typen dabei waren, die nicht so lustig waren.
1984 war dann das erste Jahr, in dem Borussia wieder international dabei war. Gegen Glasgow Rangers im UEFA-Pokal. Natürlich bist du da hingefahren, das war doch Ehrensache. Weil wir Bock drauf hatten, aber auch, weil es uns eine Herzensangelegenheit war. Wir hatten doch von unseren Alten immer wieder gehört, wie geil die alten Zeiten gewesen waren, damals, als der BVB noch Meister wurde und in Europa gegen die ganz Großen antrat. „Ihr habt doch gar keine Ahnung, was da abgegangen ist“, hieß es immer.
Die goldenen 50er- und 60er-Jahre, da waren wir noch zu jung. Alles, was wir erlebt hatten, war zweite Liga und Intertoto Cup, das ewige Gelaber der Alten konnte einem schon ganz schön auf den Sack gehen. Unser größter Erfolg war ein 11:1 gegen Bielefeld – übrigens 1:1 zur Halbzeit. Von Spielen gegen Manchester oder Madrid haben wir nicht einmal geträumt.
Die Rückkehr auf die große Bühne war etwas Besonderes. Wir haben die Hardcore-Tour mit Bus und Fähre da hoch gemacht und fühlten uns als Teil der großen Fußballwelt. Ein paar Reisen habe ich auch noch mit meinem Vater gemacht, aber der fuhr längst nicht mehr alles, weil er in die Jahre gekommen war. Ich wollte dagegen alles mitnehmen. Was er in den 50ern, 60ern und 70ern abgerissen hatte, das machte ich jetzt. Ich habe das nie als Tradition empfunden, die ich weiterführen muss. Ich bin weit davon entfernt, diese Geschichte zu überhöhen. Ich sehe das ganz geerdet, ich bin niemandem etwas schuldig. Bei mir stand immer der Spaßfaktor ganz oben. Ich wollte was erleben.
Natürlich hat mir mein Vater diese Passion vorgelebt, er hat mir das mitgegeben. Ich finde es cool, dass er das so durchgezogen hat, in Zeiten, in denen das Reisen noch wesentlich aufwendiger war als heute, wo du dir einen Billigflieger buchst und los geht es. Mein Vater ist 2001 gestorben, viel zu früh mit 60 Jahren. Was mich mit ihm noch heute verbindet, das sind die Erinnerungen und sein alter Schal, den ich nun trage. So ein richtig schönes altes Ding mit dem alten, satten Gelb und nicht mit diesem Neon-Mist. Dieser Schal war schon überall auf der Welt, wo Borussia Dortmund gespielt hat. Wenn ein gegnerischer Fan versuchen würde, ihn mir abzunehmen, würde ich ihn mit meinem Leben verteidigen.
Mein entscheidendes Erlebnis im Zusammenhang mit Borussia Dortmund ist der Pokalsieg 1989. Nicht unbedingt, weil es der erste Titelgewinn nach dieser wahnsinnig langen Durststrecke mit all den schrecklichen Zweitligajahren war, sondern, weil das Ganze für mich persönlich unter solch dramatischen Umständen abgelaufen ist.
Zunächst einmal war es ein ungeheuerliches Ereignis, überhaupt so weit gekommen zu sein. Drei mal sind wir im Halbfinale rausgeflogen, gegen Düsseldorf, gegen Stuttgart und dann als Krönung die furchtbare Schmach beim 0:5 beim Zweitligisten Fortuna Köln. Diese Niederlage war der blanke Horror!
Aber dann war es soweit. Finale! Mann, was haben wir auf dieses Spiel hingefiebert. Wir hatten längst alles klargemacht, Karten, Sonderzüge und Partys, da passierte mein Unfall. Damals hatte ich einen Job, bei dem ich auf Dächern Blitzschutzanlagen montieren musste. 14 Tage vor dem Pokalfinale gegen Bremen bin ich durch ein ungesichertes Gerüst gebrochen und abgestürzt. Die Diagnose lautete Pneumothorax, mein Zustand war lebensbedrohlich. Es handelte sich um eine Art Lungenabriss, und ich landete in der Unfallklinik in der Nordstadt auf der Intensivstation. Die Ärzte haben versucht, mich zu stabilisieren. Es ging erst einmal darum, dafür zu sorgen, dass nicht auch noch der zweite Lungenflügel in sich zusammenfiel. Das wäre es nämlich dann gewesen. Ende, aus, Exitus. Die Ärzte haben mich im Krankenhaus notoperiert, um mich zu retten. Es war knapp.
Ich habe fast vier Tage betäubt mit Schmerzmitteln auf der Intensivstation gelegen, und das Erste, was ich nach dem Aufwachen gedacht habe, war: „Scheiße, scheiße, scheiße! Du musst hier raus, du musst hier raus, du musst hier raus! Ich muss nach Berlin!“ Ich war mehr tot als lebendig und habe tatsächlich nur an Berlin gedacht. Das musst du dir mal vorstellen: Du freust dich auf das erste Finale deines Lebens, das du mit Borussia erleben kannst. Du fieberst nur noch darauf hin, und dann liegst du plötzlich auf der Intensivstation und kämpfst um dein Leben.
Ich habe noch sieben weitere Tage im Nebel gelegen, weil ich so geschwächt war, und natürlich auch, weil sie mich mit Schmerzmitteln vollgepumpt haben. Als ich von den Schläuchen abgeklemmt und das Morphium abgesetzt wurde, war es Freitag. Das Spiel der Spiele fand am folgenden Tag statt. Sie wollten mich von der Intensivstation auf die normale Station verlegen, wo ich mich erst einmal ein paar Wochen erholen sollte. Ich war ja zwei Wochen nicht aufgestanden und konnte mich kaum auf den Beinen halten.
Es war überhaupt nicht daran zu denken, sich anzuziehen, in einen Zug zu setzen und nach Berlin ins Stadion zu fahren. Aber genau das habe ich gemacht: Ich bin hochgegangen in das Büro der Schwestern und Pfleger und habe gesagt: „Okay, Jungs und Mädels, das war’s. Ich muss jetzt weg. Nach Berlin.“ Die haben mich angeschaut wie einen Alien, so etwas hatten die noch nie erlebt. Die haben auf mich eingeredet: „Junge, lass es bleiben, es kann gut sein, dass Du umkippst und tot bist.“ Aber das war mir völlig egal. Ich war happy, dass ich mich halbwegs auf den Beinen halten konnte und die Zeit reichte, um noch rechtzeitig nach Berlin zu kommen. Wäre es zu spät gewesen, wäre ich im Krankenhaus durchgedreht.
Ich hab mich auf eigene Verantwortung entlassen und dafür unterschrieben. Als ich gegangen bin, haben die wahrscheinlich hinter mit hergeschaut, sich an die Stirn getippt und gesagt: „Der Junge tickt nicht sauber.“ So ganz unrecht hatten sie ja nicht. Zu Hause habe ich ein paar Sachen zusammengepackt. Auch meine Mutter dachte, sie hat eine Erscheinung. Die glaubte, da steht ein Geist. Aufgehalten hat sie mich nicht, das wäre gar nicht möglich gewesen.
Ich sah aus wie der wandelnde Tod, aber das war mir völlig egal. Ich hab mir mein Trikot übergestreift, meine Klamotten und meine Karte genommen, bin zum Zug gegangen und zum Pokalfinale zu fahren. Ich wusste: „Bei meinem Zustand, mit all den Medikamenten, da verzichte ich mal besser auf jeglichen Alkohol.“ Während der Zugfahrt habe ich mich auch daran gehalten. Aber wenn du in den Stadionbereich kommst, die Sonne scheint und die Vorfreude so groß ist, dann kann es schon mal passieren, dass du am dritten oder vierten Bierstand schwach wirst. Ich kauf’ mir also ein Bier, und wen treffe ich zuerst? Meinen damaligen Chef! Der ist kreidebleich geworden und dachte, er hat Halluzinationen. Er wähnte mich noch auf der Intensivstation und dachte, ich sei gerade am Abnippeln. „Hallo“, hab’ ich nur gesagt, „wir sehen uns.“ Dann bin ich schnell weitergegangen. Was sollte ich auch machen? Es war sowieso klar, dass ich nach dieser Vorstellung rausfliege.
So ist es dann auch gekommen, nach seiner Rückkehr nach Dortmund hat mich mein Chef gefeuert. Ich bin ins Stadion rein und hab während des Spiels zwei oder drei Bier getrunken. Nach dem Sieg sind wir natürlich alle komplett durchgedreht, und auf dem Weg raus auf die Straße bin ich dann kollabiert. Ich bin im Krankenwagen wieder wach geworden, der Notarzt sagte mir, ich habe einen Medikamentenschock erlitten. Offenbar war wohl alles ein bisschen viel. Ich habe nur geschrieen: „Wir sind Pokalsieger“, und dann haben sie mir was gespritzt, das mich halbwegs stabilisiert. Zwei meiner Kumpels haben mich dann zum Zug begleitet, und wir sind nach Hause gefahren.
Es war eine Ochsentour, danach habe ich mich ins Bett gelegt und war komplett fertig.
Der Erfolg von 1989, das ist so, wie es damals gelaufen ist, auch meine Geschichte. Und sie wird es immer bleiben. Zudem war dieser Sieg gegen Werder für uns ungeheuer wichtig und richtungweisend. Weil wir den Alten endlich mal was entgegenhalten konnten, die uns immer wieder erzählten, wie toll es früher gewesen war. Jetzt hatten wir auch einen Titel. Unseren Titel. Und es war das Signal, dass es wieder losging. Nach oben. All die Meisterschaften der jüngsten Vergangenheit, der Triumph 1997 in der Champions League und später beim Weltpokal in Tokio, das hat beim Pokalsieg gegen Bremen seinen Anfang genommen. Ich war dabei, und kann mit Fug und Recht behaupten: Ich habe alles gegeben!
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