"Für mich war das kaum auszuhalten" - Die Flucht Jörg Bergers aus der DDR
Der folgende Text unseres Autors PatBorm erschien zuerst auf dem blog gefluechtet.de, den die beiden Historiker Birte Förster und Moritz Hoffmann ins Leben gerufen haben. Dort werden in zahlreichen Biographien Fluchterfahrungen beschrieben sowie Gründe für Flucht und der Umgang mit Flüchtlingen in den Aufnahmeländern thematisiert.
An seine erste Flucht konnte sich Jörg Berger (1944-2010) nicht erinnern: Seine Mutter Gertrud Berger arbeitete am Ende des Zweiten Weltkrieges im Danziger Rathaus und lebte im nahegelegenen Gdingen (damals Gotenhafen), wo auch der Kreuzfahrtdampfer „Wilhelm Gustloff“ lag, der angesichts der anrückenden russischen Truppen Flüchtlinge evakuieren sollte. Von Freunden ließ sich Gertrud Berger überzeugen, dass die Reise auf dem überfüllten Schiff bei hohen Minustemperaturen zu anstrengend sein würde, weshalb sie sich für eine Flucht mit dem Zug entschied. Angesichts der Versenkung der „Wilhelm Gustloff“ erwies sich diese Entscheidung als glücklich, doch auch die Flucht über Land war nicht ohne Schwierigkeiten. Die Fahrt bis nach Leipzig dauerte mehrere Tage und wurde von zahlreichen Fliegerangriffen begleitet. Dennoch gelangten Mutter und Sohn wohlbehalten in die sächsische Großstadt, in der Jörg Berger eine im Wesentlichen glückliche Kindheit im jungen SED-Staat verlebte.
Berger war schon als kleiner Junge fußballbegeistert und nutzte jede Gelegenheit zum Spielen. Dabei zeigte er sich so talentiert, dass eine Profikarriere in Aussicht stand, aufgrund seiner Verletzungsanfälligkeit entschied er sich jedoch, sein Studium an der Deutschen Hochschule für Körperkultur in Leipzig nicht zu riskieren und beendete seine Karriere, noch bevor sie tatsächlich begonnen hatte. Bereits in diesen Jahren begann er, eine kritische Haltung zur DDR zu entwickeln.
Eine besondere Rolle spielten dabei seine Auslandsreisen in den Westen, die er als Jugendauswahlspieler antreten durfte, und die angesichts des dort offenkundig besseren Lebensstandards die antikapitalistische Propaganda der mitreisenden Funktionäre entlarvten. Zum Bruch mit dem Regime führte dies allerdings noch nicht. Zwar stellte sich Berger die kritische Frage, was für einen Staat er vertrete, zugleich war er aber stolz, eines Tages A-Nationalspieler der DDR werden zu können. Er beruhigte sich damals damit, „dass Sport und Politik schließlich zwei verschiedene Paar Schuhe seien“. Er sollte bald eines besseren belehrt werden.
Ausreise verboten
Berger schlug nach Abschluss seines Studiums die Laufbahn eines Fußballtrainers ein und trat zur Förderung seiner beruflichen Karriere der SED bei. Dennoch kam es bald zum Bruch mit dem System. Berger war 1976 Jugendnationaltrainer und bereitete seine Mannschaft auf ein Spiel gegen die Bundesrepublik vor, das in Hagen stattfinden sollte. Als Berger zwei Tage vor dem Spiel eröffnet wurde, dass er nicht in den Westen reisen dürfte, nahm er zunächst an, ihm würde die mangelhafte ideologische Erziehung zweier seiner früherer Spieler vorgeworfen, die sich in den Westen abgesetzt hatten. Erst einige Tage später stellte er fest, dass die Scheidung von seiner Frau der Grund war – nach Ansicht des Regimes fehlte ihm nun eine starke emotionale Bindung in die DDR und er galt daher als potentieller Fluchtkandidat. Dieser Eingriff in seine Privatsphäre erschütterte Berger. Hinzu kam, dass die Staatssicherheit gerade in diesem Moment einen Anwerbeversuch machte, also bewusst die Ausnahmesituation auszunutzen suchte. Als Gegenleistung für seine Mitarbeit sollte ihm zugestanden werden, so wie bisher weiterarbeiten zu können. Berger lehnte ab.
In seinen Erinnerungen beschrieb Berger die Erkenntnis, die er aus dieser Erfahrung zog: „Mein Schicksal lag in den Händen anderer, der Staatssicherheit, der Partei oder des Fußball-Verbandes. Für mich war das kaum auszuhalten.“ Als er drei Jahre später seine Mannschaft nach Subotica im damaligen Jugoslawien begleiten durfte, nutzte er die Gelegenheit und schlich sich nachts aus dem Mannschaftshotel, um den Nachtzug nach Belgrad zu nehmen, wo er sich in die deutsche Botschaft flüchtete. Diese verhalf ihm zu einem gefälschten bundesrepublikanischen Pass, der die erfolgreiche Weiterfahrt nach München ermöglichte, obwohl die Staatssicherheit bereits alles unternahm, um den Flüchtigen ausfindig zu machen.
"Was fangen wir mit Ihnen an?"
Wenige Tage später erreichte Berger Frankfurt. Dort suchte er den Kontakt zum Deutschen Fußballbund, um seine berufliche Zukunft zu klären. Die zurückhaltende Begrüßung durch DFB-Präsident Hermann Neuberger – „Doch konkret: Was haben Sie vor? Was fangen wir mit Ihnen an?“ – ernüchterte ihn: „Man gratulierte mir nicht zu meiner Flucht, hieß mich nicht willkommen, fragte nicht weiter nach, sondern betrachtete meine Anwesenheit sogar mit Skepsis, die ich nicht einordnen konnte.“ Zunächst kam er im Aufnahmelager in Giessen unter, das er einen „Alptraum“ nannte: „Seit dem Moment, wo mich ein Mitarbeiter des DFB vor dem Aufnahmelager absetzte, fühlte ich einen entsetzlichen Druck auf der Brust. All die vielen Menschen machten mir Angst, und ich war froh, dass ich in keinem Gemeinschaftsraum übernachten musste, sondern ein Einzelzimmer zugewiesen bekam – vielleicht aufgrund der Brisanz meiner Flucht.“
Eine andere emotionale Belastung lag in seinem schlechten Gewissen gegenüber seinen zurückgelassenen Verwandten, an erster Stelle seinem Sohn Ron Berger, der schon vor der Flucht bei seiner Mutter lebte. Wie Berger zu Recht ahnte, hatte dieser mit teils erheblichen Einschränkungen zu leben, da sein Vater als Staatsverräter galt. Erst im Juni 1989 war ein Treffen der beiden möglich, das die Distanz zwischen beiden allerdings nur unterstrich. Im Rückblick gestand Ron seine damaligen Gedanken über das Treffen: „Ich hatte nicht einen Vater, sondern einen Hauptgewinn bei einem Kreuzworträtsel gewonnen: drei Tage mit einem Bundesligatrainer in Prag.“ Natürlich schmerzte dieses Geständnis seinen Vater.
Jörg Berger hatte bis zum Zusammenbruch der DDR nur sehr zurückhaltend über seine dortigen Erfahrungen berichtet. Er wollte damit nicht nur sich selbst, sondern auch seine in der DDR zurückgelassenen Familienmitglieder schützen, indem er nicht zusätzlich den Groll des Regimes auf sich zog. Erst in den 1990er Jahren öffnete er sich in Fernseh- und Zeitungsinterviews. In seiner 2009, ein Jahr vor seinem Tod erschienen Autobiographie steht seine Fluchterfahrung ganz im Vordergrund. Neben dem Fußball war sie zum bestimmenden Lebensthema des erfolgreichen Fußballtrainers geworden.