Sicherheit im Stadion: Türkei - Eine gescheiterte Beziehung
Ende des Jahres 2012 wurde im deutschen Fußball das Papier "Sicheres Stadionerlebnis" verabschiedet. Während dieser Maßnahmenkatalog nun in seine zweite Saison geht, möchten wir uns einmal anschauen, wie es eigentlich in unseren europäischen Nachbarländern um die Sicherheit beim Fußball bestellt ist. Zu Beginn dieser Serie hatten wir uns mit der Lage in Österreich beschäftigt. Heute schauen wir auf die Situation in der Türkei.
„Hey Oguzhan, wenn das Stadion voll wird, gewinnen wir das Derby!“
„Hast du denn eine PassoLig-Karte, Tolga?“
„Nein, wir sind doch Spieler!“
„Ja, aber unsere Fans müssen eine Karte kaufen, um das Derby zu sehen?!“
„Das ist doch einfach. Wenn unsere Fans im Fanshop einkaufen gehen, gibt’s die Karte dazu.“
„Das hört sich super an!“
Es sollte ein gutgemeinter Versuch werden, doch die – zugegeben etwas schlecht vorbereitete – Werbe-Aktion verkam zum Bumerang und ist heute noch ein Running Gang unter den Besiktas-Fans. Just vor dem Derby zwischen Besiktas und Fenerbahce zwei Spieltage vor dem Ende der Saison 2013/2014 begann in der türkischen Süper Lig die sogenannte eBilet-Ära. eBilet ist der neueste Schrei des türkischen Verbands: Fußball-Fans benötigen neuerdings ein elektronisches Ticket, um Spiele der Profiligen besuchen zu können. Und um ein elektronisches Ticket zu kaufen, benötigt man ein PassoLig-Abonnement: Eine Kundenkarte mit allen Personalien – bis hin zum biometrischen Foto und gleichzeitig kann man die Passolig-Karte auch als Kreditkarte benutzen.
Der Verband – und vielmehr der Staat – wollen damit präventiv gegen die Gewalt in türkischen Stadien vorgehen. Also kam man auf die Idee, den Stadionbesucher transparent zu machen. Dass der Vertreiber der PassoLig-Karten zufällig ein verbandsnaher Geschäftsmann ist, überraschte nicht und machte die Vorfreude auf die neue Regelung nicht größer. Ganz im Gegenteil: Wie die Besiktas-Werbeaktion zeigt, mussten die Vereine alle Register ziehen, um die Fans zu gewinnen und den Kauf der PassoLig-Karte schmackhaft zu machen. Doch die Fans kamen nicht. Sie protestieren das eigenwillige Vorgehen des Verbands, des Staats und der Klubs. Sie wollen nicht gläsern werden und dafür auch noch bezahlen. Die Quittung bekam beispielsweise Besiktas und der Verband im Derby gegen Fenerbahce. Nicht einmal 10.000 Zuschauer sahen das richtungsweisende Spiel – 80.000 wären es gewesen, wenn der Klub ganz gewöhnlich seine Tickets verkauft hätte. eBilet ist die letzte Episode der gescheiterten Beziehung zwischen dem türkischen Fußball und seinen Anhängern.
Keine Gästefans beim Derby
Dass in den Derbys zwischen Fenerbahce, Besiktas und Galatasaray sowie in den Duellen der Istanbuler Klubs gegen Trabzonspor keine Gästefans zugelassen werden, ist seit Jahren Usus, diese Spiele gelten als Risikospiele. Auch Bursaspor hat sich inzwischen dem illustren Kreis angeschlossen. Die Fans der Krokodile dürfen die Auswärtsfahrt zu Besiktas beispielweise nicht antreten. Der Auswärtsblöcke bleiben bei diesen Spielen komplett leer. Dennoch wird das Polizeiaufgebot deutlich erhöht. Die gleiche Regelung gibt es auch in den Duellen zwischen Besiktas und Bursaspor, weil beide Fanlager verfeindet sind und es in der Vergangenheit zu größeren Ausschreitungen kam.
Ein weiteres Übel sind die steten Zuschauerausschlüsse in der Liga: So sperrt der Verband regelmäßig Zuschauer aus, sobald ein Verbandsaufseher „unanständiges Verhalten“ der Fans notiert. Im Wiederholungsfall spricht der Verband automatisch eine Zuschauersperre aus. Im weiteren Wiederholungsfall verdoppelt sich jedes Mal die Strafe. Zuschauersperren bedeuten inzwischen, dass keine Männer das Stadion betreten dürfen. Zugang haben dann nur Frauen und Kinder bis 12 Jahre. Was anfangs noch einen gewissen Charme hatte, weil beispielsweise Fenerbahce so 50.000 Frauen und Kinder ins Stadion lockte, wird inzwischen zur Last, denn der Verband spricht die Strafen fast schon willkürlich aus. Fenerbahce muss aufgrund einiger Strafen die ersten drei Saisonspiele der kommenden Saison vor Frauen und Kindern austragen.
Die Süper Lig ist womöglich die auswärtsfeindlichste Liga der Welt. Das größte Problem ist die kurzfristige Terminierung: Es kommt vor, dass erst Montags der nächste Spieltag terminiert wird. Langfristige Terminierung passieren selten. Die großen Klubs haben den Vorteil, dass sie quer über das Land Millionen Fans haben und beispielsweise den Support aus Istanbul gar nicht benötigen. Ist Galatasaray in Gaziantep, organisieren sich dann halt die Fans vor Ort und machen den Auswärtsblock voll. Bei kleineren Vereinen ist es nicht so einfach – daher hält sich der Support dann oft in Grenzen. Reisen dann doch die Istanbuler in die Ferne, unterstützen die Klubs ihre Fans dann oft mit gesponserten Bussen.
Sicherlich haben einige Fangruppen ihren Anteil am Vorgehen der Funktionäre – und womöglich auch an Maßnahmen wie eBilet und den Zuschauersperren. Lange Zeit hatte der türkische Fußball ein Gewaltproblem – gerade Derbys verkamen zum Kräftemessen rivalisierender Fangruppen. Was auf dem Platz passiert, war vielen egal – Hauptsache, man hat die Oberhand auf der Tribüne. Das Gewaltpotenzial ist da, auch wenn der Hooliganismus in der Türkei bei weitem nicht so durchstrukturiert ist wie in England, Holland oder in Deutschland. Dort sind es eher Momentsituationen, in denen es vor allem um die Stadien zu Problemen kommt. Gegen Unbeteiligte ist die Gewalt eher selten – allerdings ist hier Vandalismus ein Problem. Aktuelles Beispiel: Während Fenerbahces Meistersfeier zerstörten Unbekannte einen abgeschlossenen Galatasaray-Fanshop und steckten die Artikel in Brand. Grundlos. Wie in Deutschland ist Pyrotechnik in der Türkei verboten, ist aber in jedem Stadion gängig und die Verhinderung wird eher halbherzig gehandhabt. Die Medien „verabscheuen“ Bilder mit Pyro auch nicht – ganz im Gegenteil. Die Bilder werden gerne als Heißmacher genutzt. Auch von den Klubs, die ihre Clips in den eigenen Sendern gerne mit Pyrobildern versüßen. Für das Abrennen von Pyro gibt es – wenn überhaupt – maximal Geldstrafen. Allerdings muss man konstatieren, dass sich die Lage in den letzten Jahren auch drastisch verbessert hat. Der Bau vieler moderner Arenen hat die Luft vieler gewaltbereiter Fans dünner werden lassen. Zudem hat sich die Gründung gut organisierter Ultra-Gruppen positiv ausgewirkt, dass die Fangruppen viel aktiver in den Dialog treten. Die Klubs nehmen die Ultragruppierungen als direkte Ansprechpartner wahr und beziehen sie oft in ihre Vorgehensweisen und Projekte ein.
Vorstandsmitglied kümmert sich um Fanbelange
Ein gutes Beispiel stellt Galatasaray dar, wo es seit Jahren mindestens ein Vorstandsmitglied gibt, das sich um Fanbelange kümmert und direkten Kontakt zur Gruppierung „ultrAslan“ hält. ultrAslans Leiter haben einen direkten Draht zur Klub-Führung und damit auch ein offenes Ohr. Zwar sorgt das auch immer wieder für Kritik, allerdings ziehen beide Seiten auch großen Nutzen daraus. Galatasaray beklagt deutlich weniger Probleme, die Fans haben deutlich mehr Einfluss. Auch die Medien nehmen dies zur Kenntnis: Nicht selten sind Ultrachefs direkte Ansprechpartner, wenn es um Themen rund um die Fansituation geht. Die Ultrachefs von Galatasaray, Fenerbahce und Besiktas sind den Fußball-Fans geläufig.
Das Problem hat sich in den letzten Jahren anderweitig verlagert: Es sind nicht die Fans, die untereinander Auseinandersetzungen ausfechten. Es sind vielmehr die staatlichen Einrichtungen wie die Polizei, die die Fangruppen als direkte Kontrahenten vor sich haben. Nicht selten kam es daher in der Vergangenheit zu Auseinandersetzungen mit der Polizei, nicht selten wurden Berichte über übertriebener Einsatz der Polizei publik. Ungewollt sorgte der Staat damit für den Schulterschluss der rivalisierenden Anhänger. Aus Sicht der Fans ist die Politik die treibende Kraft hinter den massiven Einschränkungen, die den Verband als Handlager benutzt. Verbandspräsident Yildirim Demirören ist ein regierungsnaher Geschäftsmann, der viele seiner Entscheidungen direkt mit der Regierung abspricht. Viele sportliche Entscheidungen werden inzwischen auch so getroffen: Fatih Terims Verpflichtung als Nationaltrainer wurde angestoßen, nachdem Regierungschef Recep Tayyip Erdogan in einem gemeinsamen Essen im Rahmen einer Veranstaltung, Terim gebeten hat, dem türkischen Fußball zu helfen. Der Verband hat den Wink verstanden und Terim ein Angebot gemacht.
Wendepunkt Gezi-Bewegung
Ein Wendepunkt war die Gezi-Bewegung, die am 31. Mai ihren Jahrestag hatte. Alles begann mit einem friedlichen Protest gegen das Vorhaben der türkischen Regierung, den Gezi-Park, eine der wenigen Grünflächen, die in der Innenstadt Istanbuls überlebt haben, zweckzuentfremden, um dort ein Einkaufszentrum zu errichten. Eines von unzähligen, die die Stadt nach Meinung vieler Bürger nicht nötig hat. Die Zahl der überdimensionalen Einkaufsmalls steigt in Istanbul regelmäßig. Viele stehen dann aber schnell wieder leer, weil es inzwischen einfach zu viele Anlaufstellen gibt. Um diese Gefahr für den Gezi-Park abzuwenden, begannen die Proteste. Als die Polizei am 31. Mai 2013 brutale Gewalt einsetzte, verkam die Demonstration zu einer der größten Massenbewegungen der jungen Geschichte der Türkei. Sie dauerten Tage an und forderten gar Todesopfer. Diese Tage brachten die Fangruppen noch näher zusammen.
Der Widerstand gewann eine derart unerwartet mächtige Tragweite, dass sich selbst Anhänger der Istanbuler Spitzenvereine Besiktas, Fenerbahce und Galatasaray im Schulterschluss übten. Sie nannten sich Istanbul United und trugen ein Wappen, das sich aus den Logos ihrer Klubs zusammensetzte. Sie protestieren Seite an Seite und haben heute noch eine innige Bindung. Inzwischen gibt es sogar einen Kinofilm. "Ich bin morgens mit einem Fenerbahce-Trikot aus dem Haus gegangen, abends mit einem Galatasaray-Schal war ich daheim", twitterte ein Fenerbahce-Fan. Die berühmt-berüchtigte "Carsi"-Gruppe, die Ultras von Besiktas, kaperten damals eine "Toma", ein Panzer der Istanbuler Polizei. Es gibt Internet-Legenden, wonach Carsi-Mitglieder über Funk Polizisten aufforderten, einen Schlachtruf des Vereins mitzusingen. Das imponiert sogar bei den Rivalen. Galatasaray-Trikots mit Carsi-Logo wurden zu echten Rennern unter den Widerständlern. "Ihr habt versagt, die Fans haben es geschafft", titelte damals die Sportzeitung "AMK" und wandte sich an die Präsidenten des Istanbuler Klubs und Verbandspräsident Yildirim Demirören, die sich das Thema Gewalt im Fußball meist nur halbherzig annahmen "Sie sind ein Herz und kämpfen jetzt gemeinsam um ihre Rechte", hieß es bei "AMK" weiter. Darunter wurden drei rivalisierende Fans abgebildet, die einen Protestmarsch auf der Bosporus-Brücke anführen.Eine der imposantesten Momente der Bewegung geriet zum Höhepunkt der vorher nie dagewesenen Verbrüderung der Gruppen. "We have Drogba. They don't", hieß es auf einem riesigen Poster, das auf der Außenfassade des Atatürk Kultur Zentrums am Taksim-Platz gehängt wurde. Wir haben Drogba, sie nicht! Die etwas komplizierte Anbringung übernahm ein Fußball-Fan im Fenerbahce-Trikot. Er wurde wie ein Held gefeiert.
Auch wenn sich seitdem die Situation „normalisierte“ und die Fans wieder die gängige Rivalität an den Tag legten, ist man nun deutlich schneller auf einer Wellenlänge als noch einst. Allerdings bildeten sich nun innerhalb der Fangruppierungen Lager. Regierungsnahe Gruppen gegen Oppositionelle tragen ihre Kämpfe bei Besiktas, Galatasaray und Fenerbahce aus. Bei Fenerbahce ist die größte Fangruppe, Genc Fenerbahceliler, mit dem Vorstand auf Kriegsfuß.
Dass der Fenerbahce-Vorstand beispielsweise plötzlich die eBilet-Maßnahmen unterstützt, sorgt bei den Fans für Unmut. Der Klub will – so wird gemutmaßt - somit die Formationen auf den Rängen unter Kontrolle haben. Bei Besiktas, das derzeit ein neues Stadion baut und dort mehr zahlungskräftigere Kunden locken will, ist es nicht anders. Bei Galatasaray hat dieser Wandel nach dem Umzug in die schmucke Türk-Telekom-Arena schon stattgefunden. Allerdings wehrt sich der Klub inzwischen auch gegen die Verbandsmaßnahmen, da der Verkauf der Jahreskarten extrem stagniert. Galatasaray verkaufte zum gleichen Zeitpunkt im Vorjahr 41.000 Dauerkarten, heuer sind es nicht einmal 9.000. Der Zuschauerschwund könnte bald alle Stadien erfassen, aber die türkischen Klubs haben ja offenbar gute Ideen, um die Fans zu locken…
Der Autor: Fatih Demireli lebt in München und arbeitet beim Sportportal spox.com.
Leonie, 04.07.2014