Panikattacken
Wo man auch hinschaut und hinhört, egal ob in den seriösen Medien, in den Boulevardblättern, in Internetforen oder auch nur im Freundeskreis: Überall wo die Borussia Thema ist, herrscht derzeit eine irrational anmutende Nervosität. Manche wähnen den BVB gar im „Ausverkauf“ befindlich, weil nicht nur kaum ein Zugang bekannt, sondern im Gegenzug Abgang um Abgang aus dem Borussenkader perfekt gemacht wird. Wo soll das nur enden? Geht der BVB jetzt vor die Hunde? Ist das Triumvirat um Jürgen Klopp, Michael Zorc und Hans-Joachim Watzke dabei, im Erfolg die sprichwörtlich größten Fehler zu begehen? Blödsinn! Wer angesichts der bisherigen Abgänge in Panikattacken verfällt, sollte einfach mal kalt duschen.
Ja, klar: Die Liste der bisherigen Abgänge ist tatsächlich lang. Mit Mario Götze, Felipe Santana, Julian Koch, Moritz Leitner, Leonardo Bittencourt, Marcel Halstenberg, Patrick Owomoyela und Daniel Ginczek stehen acht Abgänge bereits fest. Der Vertrag mit Marvin Balalorz wurde zum Saisonende aufgelöst, Lasse Sobiech ist beim HSV im Gespräch und wenn jetzt auch noch Oliver Kirch den BVB verlassen würde, dürften sich inzwischen die wenigsten wundern. Manch einer spricht angesichts dessen gar von „Ausverkauf“ beim BVB.
Dabei ist das, was wir erleben, nur folgerichtig. Wir alle, Fans, Trainer, aber auch die Vereinsführung, dürften in der abgelaufenen Spielzeit festgestellt haben, dass der Kader der Borussia im Grunde zu dünn besetzt gewesen ist, um dauerhaft auf drei Spielzeiten zu tanzen. Lukasz Piszczek musste daher lange die Zähne zusammenbeißen, Mats Hummels (völlig normale) Schwächephasen fielen stärker ins Gewicht als nötig, Mario Götze war nicht adäquat zu ersetzen, was in letzter Konsequenz vielleicht gar das Wembleyfinale entschieden hat. Und noch weiter vorne hätte es bei einem Ausfall von Robert Lewandowski auch schnell ziemlich düster ausgesehen.
Folgerichtig hat die sportliche Leitung daher entschieden, den Borussenkader in der Breite zu verstärken. Eine inzwischen zweistellige Zahl von Abgängen steht dazu nur scheinbar in Widerspruch.
Tatsächlich nämlich verliert der BVB bislang „nur“ in Mario Götze wirkliche Qualität, die es unbedingt zu ersetzen gilt und für die eben genau das keine einfache Aufgabe wird. Das Talent und die Anlagen, über die Mario Götze verfügt, finden sich eben nicht an jeder Ecke. Umso wichtiger aber auch, keine Hauruck-Aktionen zu starten und sich gut zu überlegen, wer dessen Rolle im BVB-Kader zukünftig einnehmen soll. Aber sonst? Wo hat der BVB über Götze hinaus bislang wirklich an Qualität eingebüßt?
Felipe Santana beispielsweise ist in fünf Jahren bei der Borussia nicht an Mats Hummels oder Neven Subotic vorbeigekommen. Immerhin zu Buche stehende 95 Bundesligaeinsätze täuschen ein bisschen darüber hinweg, dass nur gut zwei Drittel davon über 90 Minuten stattfanden – und die in der Regel aus Verletzungen der Stamm-Innenverteidigung resultierten.
Keine Frage: Felipe Santana ist ein gestandener Bundesligaspieler und vielleicht sogar ein überdurchschnittlicher Verteidiger. Möglicherweise stimmt gar die vielzitierte Redewendung vom „besten dritten Innenverteidiger der Bundesliga“. Zur Nummer Zwei hat es aber in immerhin fünf Jahren zu keiner Zeit gereicht. Statt seiner wurde nun Sokratis von Werder Bremen verpflichtet. Der Grieche ist immerhin zwei Jahre jünger als sein scheidender brasilianischer Vorgänger, kommt aber bereits heute auf 115 Partien in Bundesliga und Serie A, gehörte beim SV Werder in den zurückliegenden zwei Jahren zu den wenigen Leistungsträgern der Mannschaft und kann neben der Innenverteidiger-Position auch die des Rechtsverteidigers spielen, was nach dem längerfristigen Ausfall von Lukasz Piszczek durchaus von Vorteil sein dürfte.
Von den übrigen Abgängen bleibt dann nur noch Moritz Leitner als Spieler übrig, der beim BVB in der Vergangenheit nennenswert Einsatzzeiten erhalten hätte. Immerhin 42mal trug Leitner in den letzten beiden Jahren das BVB-Jersey in einem Bundesligaspiel. Unglaubliche 32mal wurde er dabei jedoch nur eingewechselt und konnte sich über die gesamte Zeit weder im defensiven Mittelfeld noch weiter vorne als echte Alternative in die Mannschaft spielen. Wie schon bei Ivan Perisic, so muss man auch bei Moritz Leitner abschließend konstatieren, dass es für die erste BVB-Elf (zurzeit) eben nicht reicht. Und so ist auch sein vorläufiger Abgang letztlich nur folgerichtig. Beweist sich Leitner beim VfB, wo der Weg in die erste Mannschaft auch kein Selbstläufer, aber immerhin einfacher sein dürfte, als derzeit bei der Borussia, darf er sich in zwei Jahren erneut beim BVB versuchen.
Mit ähnlich großen Erwartungen wie ein Jahr zuvor Leitner war auch Leonardo Bittencourt im letzten Jahr zur Mannschaft gestoßen, ist in der vergangenen Spielzeit jedoch nicht über fünf Bundesligaspiele (drei Einwechslungen, zwei Auswechslungen, insgesamt gerade einmal 214 Spielminuten), drei Minuten in der Champions League und vier Minuten im DFB-Pokal hinausgekommen. Dass man Bittencourt grundsätzlich mehr zutraut, zeigt der Umstand, dass beim Transfer zu Hannover 96 offenbar eine Rückkaufklausel eingerichtet wurde. Auch hier ist also vorgesorgt für eine positive Entwicklung Bittencourts in Hannover. Im Hier und Jetzt aber trauen Trainerteam und sportliche Leitung dem Jungen offenbar nicht zu, in der kommenden Spielzeit eine echte Alternative in der offensiven Dreierreihe darzustellen.
Gleiches gilt für Halstenberg und Bakalorz, die ihren dauerhaften Weg in den Profikader beim BVB in der vergangenen Spielzeit nicht gefunden haben, sowie für das Trio der zuletzt mehrfach ausgeliehenden Koch, Ginczek und vermutlich auch Sobiech, die allesamt in der Fremde nicht so überzeugend auftrumpfen konnten, dass Jürgen Klopp und sein Trainerteam in ihnen echte Alternativen für das Spitzenfeld der Bundesliga und die Champions League sehen.
Besonders im Fall Julian Koch ist das zweifellos auch menschlich bitter, galt der 22jährige doch lange Zeit als Riesentalent auf der Rechtsverteidigerposition. Kochs schwere Leidensgeschichte hat hier aber dafür gesorgt, dass der Weg nach ganz oben inzwischen schwierig bis unmöglich erscheint. Dass man bei den Schwarzgelben einen Funken Resthoffnung auf eine (hoffentlich verletzungsfreie) Entwicklung besitzt, beweist die auch bei Koch kolportierte Rückkaufoption.
Bleibt noch Patrick Owomoyela, dem das altbekannte Verletzungspech in seiner letzten Zeit beim BVB ein unangenehm treuer Begleiter war und der daher schon länger nicht mehr als echte Alternative zur Verfügung stand. Auch sein Abgang ist menschlich schade und es ist toll, dass ihm das Stadion am 34. Spieltag den verdienten Abschied bereitete. Sportlich gesehen ließ sich auch mit „Owo“ aber kaum seriös planen.
Unterm Strich lässt sich also feststellen: Gegenüber der zurückliegenden Spielzeit haben mit Götze, Santana und Leitner bislang lediglich drei Spieler den BVB verlassen, die eine halbwegs relevante Rolle gespielt haben, wobei man den Begriff „Relevanz“ bei Moritz Leitner schon etwas weiter fassen muss. Jene Elf, die im Champions-League-Finale stand und die Bayern eine komplette Halbzeit lang in arge Bedrängnis brachte, ist noch komplett beisammen. Einzig Lukasz Piszczek, der voraussichtlich die gesamte Hinrunde ersetzt werden muss, muss man an dieser Stelle zumindest kurzfristig ausklammern. Felipe Santana wurde inzwischen durch Sokratis ersetzt, es bleiben also zunächst nur zwei bis drei Positionen, auf denen Neuzugänge notwendig sind, um das Vorjahresniveau beizubehalten. Und glaubt irgendwer allen Ernstes, dass diese Spieler nicht noch kommen werden? Dass der BVB mit dem Status Quo in die Saison zu gehen gedenkt? Also bitte…
Die größte Notwendigkeit herrscht zweifellos im offensiven Mittelfeld. Nach den Abgängen von Ivan Perisic im Winter und Mario Götze sind die drei Offensivpositionen momentan mit gerade eben so vielen Spielern (Großkreutz, Reus und Kuba) sehr spärlich besetzt, selbst wenn man den nun fest zum Profikader zählenden Jonas Hofmann dazu zählen mag. Die meisten Transferspekulationen, von Eriksen über de Bruyne oder Tello bis hin zu Bernard betreffen daher auch diesen Mannschaftsteil und man darf wohl davon ausgehen, dass der BVB hier mehr als nur einen Neuzugang zu präsentieren gewillt ist.
Die zweite Baustelle zeigt sich in der Defensive. Sokratis ist formal Innenverteidiger Nummer Drei, wird aber vermutlich auch als Rechtverteidiger aushelfen müssen, gerade zu Beginn der Saison. Mit Koray Günter, Marian Sarr und möglicherweise doch noch Lasse Sobiech stehen im Abwehrzentrum dann lediglich noch drei Spieler, deren Bundesligatauglichkeit sich erst noch rausstellen muss. Auf der linken Seite ist Marcel Schmelzer schließlich allein auf weiter Flur. Und auch wenn Kevin Großkreutz (und teilweise sogar Kuba) die defensiven Außenpositionen durchaus einnehmen können: Eine reale, dauerhafte Option sollte dies schon angesichts des bislang dünn besiedelten Offensivmittelfelds kaum sein. Zu erwarten ist daher, dass auch hier noch ein oder zwei Spieler den schwarzgelben Kader ergänzen werden – idealerweise links und im Zentrum oder gar als Kombination von beidem. Das Problem, das nicht nur weiland von Jogi Löw erkannt worden ist: Gute Linksverteidiger sind rar.
Bleibt als letzte Baustelle noch der Sturm. Derzeit sieht alles danach aus, als würde Robert Lewandowski doch noch ein weiteres Jahr das BVB-Wappen auf der Brust tragen. Doch selbst für den Fall, dass Lewandowski bleibt und an die Leistungen der Vorsaison anzuknüpfen vermag: Dahinter wird es leistungsmäßig schnell dünn. Julian Schieber ist bislang den Beweis schuldig geblieben, Lewandowski einigermaßen adäquat ersetzen zu können. Der in der Vorsaison lange verletzte Marvin Ducksch hat wie Sturmkollege Bálint Bajner in Liga Drei nicht eben Bäume ausgerissen. Dass beide eine echte Alternative im Angriffszentrum darstellen und auf Champions-League-Niveau agieren können, darf – Stand heute – bezweifelt werden. Auch hier wird der BVB möglicherweise noch einmal tätig werden.
Drei, vier, vielleicht auch fünf weitere neue Spieler sind also voraussichtlich noch zu erwarten beim BVB. Gelingt es, für die vakanten Positionen Kicker zu verpflichten, die leistungsmäßig nahe dem momentanen Stammpersonal rangieren, würde dem BVB unterm Strich also durchaus eine Stärkung des Kaders gelingen. Und dafür müssen die Neuzugänge nicht einmal zwingend zum Trainingsauftrakt auf der Matte stehen. Denn wie bereits erwähnt, steht der Großteil des Borussenkaders bereits. Ein radikaler Systemumbruch ist kaum zu erwarten, die taktische Marschrichtung dürfte sich gegenüber den Vorjahren nur in Nuancen unterscheiden. Wenn aber eben kein totaler Umbruch stattfindet und alle drumherum wissen, was sie zu tun haben, sollten sich auch spät verpflichtete Spieler leichter damit tun, sich in das Mannschaftsgefüge zu integrieren. Auch wenn natürlich eine größtmögliche Einspielzeit wünschenswert wäre.
Unterm Strich besteht aber jedenfalls kein Grund zur Panik. Die besten Entscheidungen werden ohnehin in Ruhe und Gelassenheit getroffen. Für Schnellschüsse auf dem Transfermarkt gibt es einerseits in der BVB-Vergangenheit und auch bei Ligakonkurrenten genug warnende Beispiele. Andererseits sollte man insbesondere der sportlichen Leitung aufgrund der Transferpolitik der letzten fünf Jahre ein gewisses Vertrauen entgegenbringen. Das haben sie sich und dem Verein verdient. Jahr für Jahr ist der Borussenkader mit viel Bedacht und Fachwissen zusammengestellt worden. Jahr für Jahr hat sich die Mannschaft immer noch ein weiteres Stück weiterentwickelt. Die Basis hierfür war eine Transferplanung, die – trotz der empfindlichen Abgänge von Petric, Frei, Sahin, Barrios und Kagawa - geprägt wurde von analytischem Denken und kühlem Verstand.
Nur weil man nun im Champions-League-Finale stand und vermeintlich mit dem Geld nur so um sich schmeißen kann, ist das noch lange kein Grund, von diesem Weg abzuweichen und in hektische Betriebsamkeit zu verfallen.
Oder wie es der User „Professor-van-Dusen“ in unserem Forum sehr treffend beschrieben hat:
„Zugleich wirft es die Frage auf, um was es eigentlich geht. Mein Eindruck: Es geht einigen Usern hier mittlerweile darum, überhaupt Spieler zu kaufen. Weil man ja das Geld hat. Und die Zeit davon zu laufen scheint. Da kann man ja ruhig mal tiefer in die Tasche greifen. Hauptsache, es wird gekauft. Wer, ist fast egal. Die Medien werfen ja genug Namen in die Runde. Und zur Not hätte man da auch noch eine persönliche Wunschliste. Das erinnert mich an ein Zitat von Georg Schramm, dass ich zufällig gestern in der Süddeutschen gelesen habe:
Aber sie [die Habgier] ist deshalb unausrottbar, weil die Habgier durch den Besitz nicht gestillt wird, sondern nur durch den Erwerb. Und das ist ein flüchtiger Augenblick.
Will sagen: Der BVB hat bereits eine gute Mannschaft. Und der BVB hat bereits Menschen an der Spitze, die gezeigt haben, dass sie es können. Warum sieht man das nicht? Warum verdrängt man es? Warum macht man sich selbst mit all den Zweifeln kirre?“
Dem ist nichts hinzuzufügen.
Arne, 30.06.2013
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