Damals, als Santana auf der Torlinie stand
„Kinder, im Leben läuft nicht immer alles so, wie ihr es euch vorstellt“, sagte der Vater, während er seinen Sohn und seine Tochter ins Bett brachte. „Aber, eines kann ich euch sagen: Ihr dürft euch trotzdem niemals aufgeben! Habe ich euch schon einmal die Geschichte erzählt, als der BVB schon so gut wie ausgeschieden war? In der Champions League?“. „Ja, Papa. Davon hast du uns bestimmt schon tausend mal erzählt. Müssen wir uns das jetzt schon wieder anhören?“, fragte die Tochter in einem leicht genervten und müden Zustand. Doch ihr Vater schien diesen Einwand überhört zu haben. Ein Leuchten war nun in seinen Augen zu erkennen.
„Es war damals ja nicht so, als hätte es überhaupt so spannend werden müssen. Im Hinspiel hatten die Dortmunder richtig viele Chancen. Oh, das sag ich euch. Was habe ich mit meinem Kumpels geflucht!“. Sein Sohn hatte die Geschichte zwar schon oft gehört, hörte sich die Erzählungen seines Vaters vor dem Schlafengehen aber immer gerne an. „Du meinst, Götze und dieser Lewandowski, richtig? Die, ja, von denen habe ich doch Bilder gemacht. Also die waren ja nicht echt, sondern Sta...Statuten...“
„Statuen, meinst du?“, ergänzte der Vater mit einem entspannten Lächeln. Ein bisschen Stolz war er immer, wenn er seinen Erstgeborenen über den BVB reden hörte. „Genau. Jedenfalls, im Rückspiel musste die Borussia ja deswegen ein Tor mehr erzielen als Malaga, um ins Halbfinale zu kommen. Und das war gar nicht so einfach, das sage ich euch. In jedem Spiel war unser BVB damals gut. Es fielen so viele Tore in jedem Heimspiel, das machte schon sehr viel Spaß. Jürgen Klopp war nämlich schon damals Trainer und hatte die Spieler immer gut eingestellt.“
„Papa, ich möchte wirklich schlafen gehen“, beklagte die Tochter. „Ich weiß. Ich versuche, den Rest ganz kurz zu erzählen, ok?“. Sie nickte zufrieden mit dem Kopf und gab somit ihr Einverständnis für diesen Kompromiss. „Also, in diesem Spiel war alles anders. Die Spanier waren richtig gut und machten ganz früh das 1:0. Wie ihr wisst“, wollte er sagen, ehe die Tochter das Satzende melodisch aufsagte, weil sie es auswendig kann. „... musste der BVB deswegen zwei Tore erzielen, um das Halbfinale zu erreichen, weil es ja die Auswärtstorregel gab“. Sie kicherte, weil sie ihren Vater damit stets etwas aus dem Konzept bringen konnte. „Ja, genau“, sagte der Vater und erzählte weiter. „Aber Malaga verteidigte richtig gut und die Dortmunder kamen einfach nicht vor das gegnerische Tor. Bis kurz vor der Pause. Da hat der Marco Reus mit einem tollen Hackentrick den Ball zu Lewandowski gespielt und dieser machte schon einmal die erste, so wichtige Hütte.“
Er nahm einen Schluck Tee. „Die Stimmung im Westfalenstadion war jetzt auch wieder besser. Manchmal hattest du davor sogar die 2000 Fans aus Malaga gehört, so ruhig war es nach dem Rückstand geworden. Wie ihr euch vorstellen könnt, waren meine Freunde und ich zur Halbzeit gespannt, wie die zweite Hälfte verlaufen würde. Das war ziemlich eng. Mit einem Tor, so dachte wir, wäre Malaga durch gewesen und der Traum vom Halbfinale ausgeträumt“. Dann schwieg der Vater und guckte betrübt auf die Eintrittskarte, die er von diesem Spiel noch behalten hatte und aus seiner Hosentasche holte. „Ja, so kam es auch. Vorne hatten Götze und Reus ihre Chancen nicht genutzt und die Kugel wollte, wie verhext, einfach nicht in das Tor kullern. Dafür aber auf der anderen Seite. Eliseu hieß die Sau, die auch auch noch im Abseits gestanden hatte. Fast 15 Minuten vor dem Ende“, seufzte er. „Ich gebe ganz offen zu, Kinder, dass ich danach den Glauben für kurze Zeit verloren hatte. 'Wir sind ausgeschieden', dachte ich“. Die Kinder blickten traurig zu ihrem Vater. Obwohl sie das Ende schon kannten, fanden sie es immer wieder interessant, wie emotional sie die Geschichte zu hören bekamen.
„Es war die größte Enttäuschung, die ich mit meinem Verein in der damaligen Zeit durchlebt hatte Ja, die Derbys und das erste Jahr in der Champions League waren auch nicht der Brüller. Aber je später du im Wettbewerb ausscheidest, umso stärker schmerzt die Niederlage“. Plötzlich blickte er nach oben. Er wandte sich von seinem Nachwuchs kurz ab und blickte mit entschlossener Miene in Richtung des Fensters. „Nachdem ich den Schock verdaut hatte, schämte ich mich kurz für die Gedanken an das Ausscheiden. Gut, ganz beiseite schieben konnte ich sie bis zum Abpfiff auch nicht, das ist klar. Aber einfach so, nur um mir selbst Mut zu machen, schrie ich zu meinem Kumpel: 'La Coruña!'“. „Das ganz große Spiel, mit dem Ricken!“, brüllte der Sohn zu seinem Papa. „Ganz genau. Warum sollte das, was damals passiert war, nicht noch einmal geschehen. Ich meine, ganz offensichtlich waren Ähnlichkeiten vorhanden. Die Mannschaft war spanisch und sie hatte, wie La Coruña damals, blau-weiße Trikots an. Zwei Tore kurz vor Schluss, die brauchten wir nun.“
Die Miene des Vaters wurde jetzt sogar leicht verbittert. An dieser Stelle musste er jedes Mal aufpassen, seinen Kindern keine Angst einzujagen. „Diesen Malaga-Spielern war das Weiterkommen einfach nicht zu gönnen. Wie einst diese Memmen aus Sevilla, lagen sie bereits nach 50 Minuten für gefühlte Stunden auf dem Boden, nur um irgendwie das Ergebnis zu halten. Die Abstöße dauerten länger, bei den Freistößen musste erst einmal diskutiert werden, wer diese treten soll und bei den Einwürfen studierte der Einwerfer erst einmal in aller Ruhe die Situation, ehe es weiterging“. Das Leuchten in seinen Augen tauchte wieder auf. „Diese Mannschaft, meine Lieben, diese Mannschaft durfte einfach nicht gewinnen!“
„Du lügst, Papa!“, entgegnete die Tochter. „Als ob du das so gedacht hast. An zwei Tore glaubt doch niemand mehr“. Der Vater nickte zustimmend, ließ sich aber nicht beirren und war einfach nur froh, dass seine Tochter noch nicht eingeschlafen war. „Ganz so optimistisch war ich wirklich nicht mehr und die Stimmung war wirklich wie auf einer Beerdigung. Da hast du Recht, mein Liebes. Aber das änderte sich ganz schnell“. Der Tonfall steigerte sich langsam.
„Klopp schrie alle nach vorne. Hummels kam und war fortan für Flanken in den Sechszehner zuständig, und Santana, der Innenverteidiger, bekam eine Rolle als Stürmer. Dann verlief alles wie in Trance vor meinen Augen. Ich kam mir vor, als wäre ich in einem Film. Der Ball war drin. In der Nachspielzeit. Wer das Tor gemacht hatte? Ich wusste es nicht. 'Erst vierzig Sekunden um, wir haben noch drei Minuten!'“, hörte ich meine Stehnachbarn sagen. Ein Angriff sollte noch drin sein“. Der Blick des Vaters richtete sich wieder voll und ganz auf die Augen seiner Sprößlinge, die nun vollends auf der Höhe waren. „Ich weiß nicht, was danach passiert ist. Klar, ich habe es mir ein paar Mal später im Fernsehen angesehen. In dem Moment aber bekam ich nichts mit. Ich weiß nur, dass auf einmal eine ganze Horde wildgewordener BVB-Spieler auf die Süd angerannt kam. Alle Zuschauer standen auf und jeder brüllte etwas, sodass es richtig laut wurde. Irgendjemand in schwarzgelb hatte den Ball. Irgendwie kam er in den Strafraum. Irgendwas passierte. Es war ein Kuddelmuddel im Fünfmeterraum. Und dann war er da. Der größte Moment meines Fanlebens. Der Ball war nur noch eine Haaresbreite von der Torlinie entfernt. Aber er war nicht drin. Dann Santana. Alleine auf der Torlinie stehend, musste er den Ball vor der Südtribüne nur anhusten. Er tat es. Drin.“ Die Augen des Sohnes und der Tochter wurden immer größer. „Das Westfalenstadion explodierte. Ich lag auf anderen Leuten in Block 12, schrie mir die Seele aus dem Leib und konnte das, was gerade geschehen war, nicht begreifen. Mir wurde aber schnell klar, dass man von diesem Spiel noch lange sprechen wird. 'Davon erzähl' ich noch meinen Enkelkindern', dachte ich mir. 'Borussia'-Schlachtrufe hallte es durch das ganze Stadion. Das Spiel war aber noch nicht vorbei. Dann die Klärungstat des Jahrhunderts von Schmelzer. Und Aus. Ende! Wildfremde Menschen lagen sich in den Armen und feierten. Die Spieler, Weidenfeller, Sahin, Götze und alle anderen, rannten von der Mittellinie zur Südtribüne auf den Zaun. Alle sangen 'Keiner soll es wagen, uns, den BVB zu schlagen!'. Und das Wunder war perfekt. Das ist Europapokal. Das war La Coruña, wovon alle immer geschwärmt hatten. Ich hatte jetzt mein La Coruña. Achja, und wir standen im Halbfinale der Champions League.“
Die Kinder sahen ihren Vater lächelnd an. „Sagt es nicht eurer Mutter, aber es war das schönste Gefühl meines Lebens. Das Unmögliche haben sie möglich gemacht, diese Helden in Schwarz-Gelb. So, Kinder, jetzt ab ins Bett. Morgen gibt es dann die Geschichte vom Halbfinale“. Der Vater machte das Licht aus und blieb im Türrahmen stehen. „Gute Nacht, Tele. Und schlaf schön, Felipa!“
Sven, 10.4.2013
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