Schachmatt, Schachtjor!
Ein Friseur, der Tore schneiden kann? Blödsinn — dachte ich bis gestern. Genauer gesagt, bis zur 31. Minute. Der Minute, in der Felipe Santana seine 1,97 Meter ausnutzte und in vorbildlicher Manier das 1:0 für den BVB köpfte. Dass er seinen ersten Champions-League-Treffer mit dem Schädel erzielte, kann kein Zufall sein. Fiel Santana in den letzten Wochen mit Irokesen-Schnitt noch durch eher wackelige Leistungen auf, spielte er gestern Abend groß auf — wohlgemerkt mit frisch rasierter Glatze. Es gibt ihn also doch, den Friseur, der Tore schneiden kann. Und Santana muss ihn kennen.
Aber der Reihe nach: Denn ein Bericht über diesen sensationellen Europapokal-Abend im Westfalenstadion hat mehr zu bieten als den Haarschnitt von Felipe Santana. Nüchtern betrachtet sehen die Fakten so aus: Der BVB steht im Viertelfinale der Champions League. Das erste Mal seit 15 Jahren. An einem Tag, an dem der Ballspielverein das vermeintlich schwierigste und ungemütlichste Los Schachtjor (wahlweise auch: Schachtar oder Shakhtar) Donetsk (oder: Donezk) mit 3:0 in die Ukraine zurückschickt, an einem Tag, an dem sogar Luiz Adriano einen Schiriball ohne Torgefahr zum Gegner zurückspielt und an einem Tag, an dem Santana das 1:0 köpft, sollte man aber nicht nur auf nüchternen Fakten beharren: Viertelfinale, wir kommen! Drei personelle Veränderungen gab es im Vergleich zum Hannover-Spiel: Lukasz Piszczek beackerte für Kevin Großkreutz wieder die rechte Seite. Als Sechser fing neben Gündogan diesmal Bender für Sebastian Kehl an. Und auch Götze stand wieder von Beginn an auf dem Rasen. Dafür saß Schieber auf der Bank und Lewandowski rückte wieder auf seine gewohnte Position im Sturm. Mats Hummels schaffte es nicht rechtzeitig: Die Grippe verhinderte einen Einsatz, weshalb Santana wieder spielte. Die Vorzeichen? Gut. Es stand eines fest: Ohne Tor würde Donetsk in keinem Fall weiter kommen. Die Ukrainer hätten einen Sieg oder mindestens ein 2:2-Unentschieden gebraucht, um ins Viertelfinale einziehen zu können. Beim Einlaufen durften Zuschauer und Spieler eine Fahnen- und Konfetti-Choreo von The Unity bestaunen — ein sehr schöner Anfang und der erste Gänsehaut-Moment dieses Abends.
Wer nun geglaubt hatte, Jürgen Klopp hätte seine Elf in irgendeiner Form zu defensiver Dauerarbeit beordert, sah sich im falschen Film. Die Donetsker gehörten wohl dazu. Denn Dortmund hatte das Spiel voll unter seiner Kontrolle. Von Beginn an ging fast jeder Zweikampf an den BVB. Immer wieder schafften es Bender und Gündogan, schnell umzuschalten und die Offensive zu bedienen, die mit der Dreierkette Reus, Götze, Kuba und dem Stürmer Lewandowski einen Weltklasse-Tag erwischt hatte. Die erste große Chance hatte Letztgenannter in der 12. Minute. Nachdem Götze auf den freilaufenden Lewandowski spielte, stand er nur noch vor Donetsks Pyatov, der sich ihm aber im letzten Moment noch in den Weg schmiss. Die zweite Gelegenheit folgte nur fünf Minuten danach: Schmelzers Hereingabe verpasste Götze nur ganz knapp.
Ein Küsschen für Tele
Und Donetsk? Ja, was machte Donetsk eigentlich? Waren es die für die Ukrainer verhältnismäßig tropischen neun Grad, die sie aus der Fassung brachten? Jedenfalls spielte die eingekaufte Millionentruppe so, als wäre ihr nicht ganz bewusst, ob es sich bei dem Spiel um ein Achtelfinale der Königsklasse oder um ein weiteres von Klubchef und Allesfinanzierer Rinat Achmetow gesponsertes Trainingslager in Europa handeln würde… Immerhin: Ein Schüsschen brachte Fernandinho in der 24. Minute auf das Tor. Bis dato hatte sich der Sturmlauf der Borussen etwas gelegt, wohlgemerkt dominierte der BVB die Gäste dabei weiterhin nach Lust und Laune. Ab Minute 28 kamen dann auch wieder offensive Zungenschnalzer dazu. Im Gegenzug zur Schachtjor-Chance schnappte sich der an diesem Abend groß aufspielende Lewandowski an der Mittellinie den Ball, umdribbelte vier Ukrainer auf einmal und legte dann auf den mitgelaufenen Piszczek ab. Anstatt einfach mal draufzuschießen, suchte der Rechtsverteidiger Götze, was aber misslang. Warum nicht einfach mal selbst versuchen?
Wenige Augenblicke später kam es zur Ecke in der 31. Minute. Das Westfalenstadion, das sich vor allem in der ersten Halbzeit von seiner guten Seite zeigte, erhob sich. So, als ob die Zuschauer ahnten: Jetzt kommt was. Und es kam etwas. Götzes Eckball von der rechten Seite fand seinen Abnehmer bei Santana — und dessen Kopf. Er bugsierte das Spielgerät derart wuchtig ins Tor, das ein Donetsker gar nicht erst versuchte, am kurzen Pfosten hochzuspringen. 1:0. Nachdem Santana sich aus dem Jubelkreis der Spieler lösen konnte, rannte er zur Bank und holte sich ein Küsschen von Leo Bittencourt auf seine im Schein des Flutlichts schimmernde Glatze ab. Dies ist doch viel schöner als irgendein Wechselgerücht zu einem unsäglichen Verein… Der Kopf spielte auch beim 2:0 eine zentrale Rolle. Nach Piszczeks Einwurf leitete Reus per Kopf auf Lewandowski weiter, der in aller Ruhe in den Fünfmeterraum flanken konnte. Dort stand Götze, der sich aus dem Hinterhalt anschlich und Srna und Kucher älter aussehen hat lassen, als sie es eigentlich sind. Mit der Innenseite ließ wunderschön ins lange Ecke abtropfen — 2:0. Symptomatisch für die Ukrainer, die nach dem erneuten Gegentreffer ratlos auf die Anzeigetafel schauten, war die erste gefährliche Gelegenheit in der Nachspielzeit der ersten Halbzeit. Fernandinho rutschte der Ball über seinen Schlappen, so dass es noch erst so richtig gefährlich für Weidenfeller wurde, der aber zum Glück noch parieren konnte.
Zweite Halbzeit: Fünf Minuten verkehrte Welt und weiter geht´s!
Das Halbzeitergebnis war schon mal ein (Viertelfinal-)Traum. Wer sollte uns da noch raus reißen? Die Antwort gab Donetsk in den ersten fünf Minuten nach der Pause. Wie ausgewechselt und mit dem frischen Douglas Costa, der dem BVB aus dem Hinspiel noch negativ im Gedächtnis geblieben war, starteten die Gäste ihre Power-Minuten. Dass es dennoch beim 2:0 blieb, ist einzig Roman Weidenfeller zu verdanken. Wie er sich erst gegen Costa (48.), dann gegen Teixeira und in derselben Minute gegen Fernandinho (50.) streckte und hielt, hatte große Champions-League-Klasse. Das schien auch Donetsk bemerkt zu haben und zog sich fortan wieder zurück. Oder waren es die Dortmunder, die nun wieder in den richtigen Gang gefunden hatten? In der 56. Minute prüfte Reus mit einem direkten Freistoß Pyatov, der diesen Ball noch festhalten konnte. Deutlich anders sah dies schon drei Zeigerumdrehungen später aus. Wieder Überzahlspiel, diesmal schloss Gündogan mit einem allenfalls strammen Schuss ab. Vermutlich war es Pyatov zu langweilig, den Ball einfach nur festzuhalten und ließ ihn abklatschen. Unbeholfen und wie ein B-Jugend-Aushilfskeeper sah das Ganze aus. Die Konsequenzen: Kuba dachte mit, nahm den Abpraller auf und musste nur noch einschieben — 3:0.
Nun hätte Donetsk drei Tore schießen müssen, um weiterzukommen. In einer halben Stunde und im Westfalenstadion ist dieses Vorhaben ungefähr so realistisch wie eine Fair-Play-Trophäe für Adriano. „Ballspielverein Borussia aus Dortmund, wir folgen dir egal, wohin es geht…“ stimmte die Südtribüne an und wurde von allen Tribünen mitgetragen. Wohin es geht? Zu diesem Zeitpunkt im ICE-Tempo ins Viertelfinale.
Das war auch den ukrainischen Gästen bewusst, die — um ein Fiasko zu verhindern — jetzt alles auf Ergebnis-Stagnation auslegten. Die Dortmunder Offensive war dennoch nicht aufzuhalten. Allen voran Mario Götze war fast unaufhaltsam für die Donetsker. In der 76. Minute hatte der eingewechselte Großkreutz die Chance, mit einem 16-Meter-Schuss das 4:0 zu erzielen. Pyatov aber ließ abprallen, diesmal auch ins Toraus. Und so plätscherte das Spiel so vor sich hin. Weidenfeller zeigte eine Viertelstunde vor Ende noch einmal, was er alles kann und rettete mit einer Hand gegen Rakitskiy. Auf der anderen Seite machte Reus, was er wollte, vergaß dabei aber leider, das Tor zu machen (80.). Während die restlichen zehn Minuten auf dem Platz dazu genutzt wurden, sich in Bewegung zu halten und dem Schlusspfiff entgegenzufiebern, stimmte sich die Südtribüne auf das Derby am Samstag ein. Sicherlich okay und auch notwendig, allerdings hätte man das gesamte Blaue-Lieder-Repertoire durchaus auch dezimieren können. Schließlich zählte an diesem Abend der Europapokal. Und der Viertelfinal-Einzug, der um 22.32 Uhr offiziell war.
Erstmals seit 1998 steht der BVB also wieder in der Runde der besten Acht. Ein gutes Omen: Auch diese Runde wurde damals — gegen Bayern München — überstanden. Warum nicht auch dieses Mal? Mit der gestrigen Leistung muss den Real Madrids und Juventus Turins da draußen doch angst und bange werden. Schachtjors Trainer Mircea Lucescu sagte vor dem Spiel, der Gewinner dieser Paarung werde im Finale stehen. Die Road to Wembley endete gestern für seine Mannschaft mit einer abrupten Vollbremsung in Richtung Ausfahrt. Borussia dagegen ist richtig gut in Fahrt. Die Viertelfinals werden übrigens am 2. und 3. April ausgetragen. Genug Zeit, mag man denken. Einer jedenfalls sollte diesen Termin besonders im Blick behalten: Felipe Santana. Denn der sollte vorher noch eben zum Friseur…
Die Fotostrecke zum Sieg gegen Donezk gibt es wie gehabt auf unserer BVB-Fotoseite unter diesem Link.
Namen und Statistiken
BVB: Weidenfeller - Piszczek, Subotic, Santana, Schmelzer – Gündogan (82. Sahin), Bender (46. Kehl) – Kuba (69. Großkreutz), Götze, Reus – Lewandowski.
Schachtjor/Schachtar/Shakhtar Donetsk/Donezk: Pyatov - Srna, Kucher, Rakitskiy, Rat – Fernandinho, Hübschmann (82. Stepanenko) – Teixeira, Mkhitaryan, Taison (46. Douglas Costa) – Luiz Adriano.
Tore: 1:0 Santana (31.), 2:0 Götze (37.), 3:0 Kuba (59.).
Gelbe Karten: Kucher.
Schiedsrichter: Skomina (Slowenien).
Zuschauer: 65413 wegen großer Lücken im Gäste-Block.
Noten
Weidenfeller: Hielt wortwörtlich wie eine Eins. Ohne ihn hätten die fünf Minuten nach der Pause böse enden können. Ein Klasse-Spiel. Note 1
Piszczek: Gewohnt stark im offensiven und defensiven Bereich. Hatte ein Tor auf dem Fuß, wollte es aber Götze schenken. Note 2,5
Subotic: Hielt den Defensiv-Verbund zusammen mit Santana zusammen, gewann ganz wichtige Zweikämpfe und setzte die Tacklings zum perfekten Zeitpunkt an. Nur nach der Pause mit kleinen Wacklern. Note 2
Felipe Santana: Siehe Subotic. Spielte befreit auf, viel erfrischender als zuletzt in der Liga. Allein wegen seines Tores hat er sich diese Note redlich verdient: Note 1,5
Schmelzer: Stand auch nur kurzzeitig unter Druck und musste sich an den eingewechselten Douglas Costa erst einmal gewöhnen. Ansonsten solide und absolut zuverlässig. Note 3
Bender: Fiel der rüden Spielweise der Donetsker leider zum Opfer und musste nach einem Tritt in die Hacken in der Kabine bleiben. Was er bis dahin ablieferte, war einsame Spitze! Note 1,5
Gündogan: Nicht ganz fehlerfrei, aber immer wieder mit magischen Momenten. Lieferte mit seinem Schuss die indirekte Vorlage zum 3:0. Note 2,5
Kuba: Schon verwunderlich, wie konstant gut der Pole jedes Spiel bestreitet. Quirlig, mitdenkend und am Ende mit dem verdienten Lohn. Das war eine: Note 2
Götze: Ist beim Gegner so beliebt wie Oppositionelle in der Ukraine: eher mäßig. Was der Junge abliefert, kann man schon mit dem Prädikat „Weltklasse“ beschreiben. Wie er den Ball annehmen, behaupten und weiterspielen kann, hat allerhöchste Klasse. War überall zu finden, Drehpunkt des Spiels und zudem Torvorlagengeber und –schütze. Note 1
Reus: Zeigte in Halbzeit eins, wie man unauffällig und gut zugleich spielt. Stand sicherlich etwas in Mario Götzes Schatten, blühte aber spätestens im zweiten Durchgang auch auf. Verpasste nach Riesen-Solo sein Erfolgserlebnis. Note 2,5
Lewandowski: Zurück in der Sturmspitze, diesmal aber ohne Torerfolg. Macht nichts: Wie er ackerte und kämpfte und dabei seine technische Balance behielt, war fast ebenso wichtig. Note 2
Sebastian Kehl: Kam durch Benders Verletzung zu einem unverhofft frühen Einsatz. Zeigte dabei aber auch, warum Jürgen Klopp es auf der Sechser-Position so schwierig hat. Kehl machte ein ähnlich fehlerfreies Spiel wie Bender und strahlt unheimlich viel Gelassenheit und Ruhe aus. Note 2,5
Stimmen
Jürgen Klopp: „Wir waren stark heute. Die Mannschaft hat von der ersten Sekunde an ein unglaubliches Spiel aufgezogen. Wir wussten, dass der Gegner versuchen würde, aggressiv in die Zweikämpfe zu kommen. Dem sind wir umgangen, indem wir mit wenig Ballkontakten, dafür viel Fußball gespielt haben und dabei immer zielstrebig geblieben sind. So haben wir bis auf die zehn Minuten nach der Halbzeit, als wir Roman zweimal gebraucht haben, ein richtig gutes Spiel gemacht. Da hat man gesehen, wie stark Schachtjor sein kann, wenn man sie lässt. Dann haben wir sie nicht mehr gelassen. Ein großes Spiel meiner Mannschaft.“
Neven Subotic: „Unsere Stürmer und Mittelfeldspieler haben sehr gut verteidigt und uns den Job hinten sehr leicht gemacht. So konnten wir auch gegen einen schweren Gegner gut spielen. Felipe hat ein super Spiel gemacht und sich das Tor sehr verdient. Jetzt müssen wir weiterschauen, werden uns aber auch keine Favoritenrolle einreden lassen. Natürlich ist es schön, wenn man als Geheimfavorit gesehen wird, davon kann man sich im Endeffekt aber nichts kaufen. Heute war es eine super geile Vorstellung von
uns und wenn wir weiter so machen, ist alles möglich.“
Nuri Sahin: „Das Wichtige war, dass wir in so einer K.o.-Phase gezeigt haben, dass wir da sind und vom Kopf schon so weit sind solche Spiele machen zu können. Wie wir heute gespielt haben, war schon sehr, sehr gut. Unsere Reise kann sehr weit gehen, natürlich. Nun warten wir aber erst mal ab, wie die anderen spielen und schauen auf die Auslosung. Für Tele freut es mich sehr, weil es nicht einfach ist, immer aus der zweiten Reihe zu kommen. Aber er ist immer da, wenn man ihn braucht. Am Samstag habe ich ihm gesagt, dass er ein Tor machen wird.“
Leon, 06.03.2013
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