Die Grenze ist ein weißer Strich
„So kam es weder vor, während noch nach dem Spiel zu gravierenden körperlichen Auseinandersetzungen oder Gewalt.“
„Trotz eines hochdramatischen Verlaufs und der großen Emotionalisierung beider Fanlager blieb es aus polizeilicher Sicht während des Spiels weitestgehend friedlich.“
Das schreibt die Polizei Düsseldorf nach einem Spiel, das – glaubt man dem allgemeinen Medienrauschen – den Fußball in Deutschland und der Welt für immer ins Verderben gestürzt hat. Ich verkürze den Polizeibericht: „Alles halb so wild“.
Also: Herzlichen Glückwunsch, Fortuna Düsseldorf! Willkommen in der Bundesliga. Ich freu mich jetzt schon.
Vielleicht freue ich mich ja auch zu früh. Weil das, was da kurz vor Schluss des Relegationsspiels abgegangen ist, durchaus noch böse Konsequenzen haben kann. „Bääääh, der desperado09 findet jetzt Emotionen wieder total scheiße“, höre ich schon das Genöle. Näää, finde ich gar nicht. Emotionen sind geil und ich habe jede Menge davon. Wenn ihr wüsstet...
Aaaaber: Es gibt eine Grenze. Diese Grenze ist ein simpler weißer Kreidestrich. Dieser Strich ist wie eine Wand, die sich erst auflöst, wenn der Schiedsrichter abpfeift. Wir sind die Opfer dieser Grenze, die nichts weiter durchlässt als Emotionen. Wir sind eben doch nur Zuschauer, dazu verdammt, das Spiel mit seinen verrückten Wendungen über uns ergehen zu lassen. Alles, was wir im Stadion tun, ist gelebte Ignoranz gegenüber unserer eigenen Hilflosigkeit während dieser 90 Minuten plus Nachspielzeit. Ohnmacht ist Teil des Fanseins. Physischer Einfluss tabu. Nur die Stimme und optische Reize. Alles Andere endet an diesem weißen Strich aus Kreide.
Und wenn wir ganz, ganz ehrlich sind: Das ist doch gut so, oder? Diese Ungewissheit und diese Herzschlagfinals machen doch einen großen Teil des Fußballs aus. Wenn am Ende nicht zählt, ob man verdient gewonnen hat, sondern DASS man gewonnen hat. Diese "Wisst-ihr-noch?"-Momente.
Erinnert sich noch jemand an 2001? Natürlich! Letzter Spieltag! Was war das ein Rotz! Die Blauen werden Meister... Meister... Meister... Und dann die Bayern und der Andersson und der Kahn ("immer weiter, immer weiter") und die Blauen werden NICHT Meister! Ein göttlicher Moment des Fußballs.
Noch einer: 1999. Wisst ihr noch, als Kaiser Franz mit dem Aufzug zur Siegerehrung fuhr und plötzlich nur noch gratulieren durfte? Manchester, zwei Tore für die Fußball-Geschichtsbücher und ein bis heute nicht überwundenes Bayern-Trauma.
Und erst recht dieser hier: Was hätten die Fans von Fortuna Köln 1986 dafür gegeben, wenn sie Borussias allerletzten Angriff hätten verhindern können!? Genau einen solchen magischen Moment, der sich so ins kollektive Borussen-Gedächtnis eingebrannt hat, haben die Fortuna-Düsseldorf-Fans mit ihrem verfrühten Platzsturm möglicherweise den Hertha-Fans, den Spielern und dem Fußball an sich geraubt. Hertha hatte das verdammte Recht, dieses Spiel nach einem schnell ausgeführten Abstoß durch einen unberechtigten Handelfmeter nach vorausgegangener Abseitsposition zu gewinnen. Dieses Recht wurde ihnen und dem Fußball geraubt. Vielleicht haben sich die Düsseldorfer auch selbst um einen gehaltenen Elfer gebracht oder einen Lattenknaller, der ihnen noch einmal kurz das Herz stocken gelassen hätte, bevor der Abpfiff Erlösung gebracht hätte… Wir werden es nie erfahren. Und das ist das einzige Verbrechen, das an diesem Dienstag verübt wurde.
Da war kein Untergang des Fußballs zu sehen, zumindest nicht von Düsseldorfer Seite. Da waren Menschen auf dem Platz, haben sich gefreut und irgendwann wieder hinter die Linie getrollt. Die Polizei schreibt nüchtern: „Die Fans hatten zu diesem Zeitpunkt das Spielfeld wieder soweit verlassen, dass die Sicherheit im Stadion, für Zuschauer, Spieler und Verantwortliche gewährleistet werden konnte.“ Na, kuck mal.
Wie da „Todesangst“ bei den Hertha-Spielen aufkommen konnte, weiß ich nicht. Vielleicht wirkten aber auch die aus dem Berliner Block auf den Platz geworfenen Bengalos noch nach... Todesangst, ey. Ich glaub, es hackt. Sollen mal als Fans nach Rotterdam fahren und danach noch mal was von Todesangst erzählen…
Nein. Das einzige Verbrechen, das ich an diesem Abend gesehen habe, war der Raub eines möglicherweise großen Moments. „Weißt du noch, wie wir damals aufgestiegen sind? Knappes Ding! 2:2 gegen Berlin, die greifen an, brauchen noch ein Tor. Nachspielzeit, dann haut der Ramos das Ding an die Latte! Ich dachte, ich geh kaputt.“ Tja, wenn’s blöd läuft, könnt ihr euren Kindern demnächst erklären, wie ihr es geschafft habt, Fortuna den Aufstieg zu versauen. Da fragt auch keiner mehr, ob das verfrühter Jubel oder Blödheit oder eine Mischung aus beidem war. Ich bin fest davon überzeugt, dass es einfach ein Platzsturm im totalen Überschwang des Glücks war. Da greift dann der Herdentrieb, da machste nix.
Wie kriege ich jetzt die Kurve zu dem Thema, über das ich eigentlich schreiben wollte, bevor ich Relegation gekuckt hab? Ach, ich lass es einfach. Oder so ganz kurz: Wieder stand ich inner Ecke, diesmal neben der Glasscheibe am Marathontor. Hab nen ziemlichen Kater vom Vorspiel im Sonderzug und in der Stadt gehabt. Und dann schießen die drei Tore inner ersten Halbzeit... Hab inner Pause erstmal Cola (!) geholt und nen Sani nach ner Aspirin gefragt. Paracetamol bekommen, beim 4:1 war ich wieder fit.
Das Spiel und die Saison glaubt einem doch eh kein Mensch. 5:2 gegen Bayern, 81 Punkte in der Meisterschaft, erstes Double nach 103 Jahren… Alter, gib mir mal was, dass das Fieber weggeht. Oder auch nicht. Jetzt ist ja Sommerpause. Und EM. Und danach kommt irgendwann der 24. August. Ich kann’s kaum erwarten.
Euer