Kein FC Bayern
Der BVB hat Marco Reus verpflichtet. So weit, so spektakulär. Doch weil grad obendrein Winterpause ist und niemand auch nur einen der Wolfsburger Neuzugänge kennt, richtet sich der mediale Fokus seither vollkommen auf die Borussia. Nicht wenige Kommentatoren wollen in der Reus-Verpflichtung gar einen Angriff auf die Vormachtstellung des FC Bayern sehen. Was für ein Schwachsinn!
Klar ist: Beim BVB hat man mit der Verpflichtung von Reus, der wohl teuersten seit Amoroso, ein Ausrufezeichen gesetzt. Bisher fielen die Verantwortlichen nach der Beinahe-Pleite vor allem durch Understatement auf: „Unser Etat ist klein und wir können uns keine großen Sprünge erlauben." Das war das Mantra der letzten Jahre. Und auch wenn man konstatieren muss, dass Marco Reus sich von Alter und Spielanlage her perfekt einreiht in die bisherige Transferpolitik, so muss man doch gleichermaßen konstatieren, dass ein derart hochpreisiger Neuzugang durchaus die gewachsenen Ansprüche in Dortmund dokumentiert.
Freilich steht der BVB auch vor einer großen Herausforderung: Glücksgriffe wie Shinji Kagawa gelingen äußerst selten und selbst mit der bisherigen Politik, Transfers mit maximal fünf Millionen Ablöse zu tätigen, lassen sich zwar durchaus Spieler verplichten, die sich in die Mannschaft einfügen. Um den qualitativ schon sehr hochwertigen Kader tatsächlich noch weiter zu verstärken, bedarf es aber schon außergewöhnlicherer Kicker – und die sind in der Regel teuer.
Es gehört zu den Kuriositäten des Geschäfts, dass umgekehrt Borussia Mönchengladbach mit 17,1 Millionen Euro durchaus die eigene Mannschaft mit gleich mehreren Spielern wird verstärken können. Wird das Geld klug investiert, lässt sich für die Grenzländer das Niveau ihrer Truppe in der Breite weiter anheben, was in Summe deutlich wertvoller sein kann, als über nur einen herausragenden Kicker zu verfügen.
Sei es, wie es sei, eines jedoch steht: Das Beispiel Marco Reus besitzt nicht im Ansatz Allgemeingültigkeit. Weder werden nun in Dortmund im Halbjahrestakt die Mega-Transfers getätigt, noch wird die Borussia dem FC Bayern reihenweise potentielle Neuzugänge streitig machen. Vielmehr ist Marco Reus ein Sonderfall. Reus ist in Dortmund aufgewachsen, hat in der Jugend beim BVB gekickt, Familie und Freundin leben hier. Auch wenn er selbst betont, dem Wechsel haben rein sportliche Perspektiven zugrunde gelegen, darf man wohl mutmaßen, dass diese Faktoren der Borussia in ihrem Werben zumindest nicht geschadet haben.
Daher, liebe Kommentatoren: Nur weil der BVB einmal einen Spieler verpflichtet hat, an dem auch der FC Bayern interessiert war, ist das noch lange keine Kampfansage an die Bajuwaren. Übrigens ebenso wenig wie ein verlorenes Spiel gleichzusetzen ist mit der großen sportlichen Krise des Vereins oder der erste Sieg nach neun Partien ohne Dreier den Angriff auf die internationalen Plätze einläutet. Aber wem erzähl ich das...
Gar keine Frage: Die Borussia hat beste Aussichten, sich mittelfristig in der Spitzengruppe festzusetzen. Schaut man sich die Liga einmal an, so ist festzustellen, dass derzeit kaum ein Verein ähnliche Voraussetzungen vorfindet, wie sie beim BVB gegeben sind. Es gibt wohlhabende Vereine (Leverkusen, Wolfsburg) und es gibt Vereine mit großer Anhängerschaft (Köln, Gladbach, Hamburg, Gelsenkirchen). Nur selten aber vereinen sich wirtschaftliche Stärke und großes Publikumsinteresse, noch viel seltener stellt sich obendrein ein regelmäßiger sportlicher Erfolg ein.
Der BVB jedoch steht wirtschaftlich inzwischen wieder gut da, nennt eine attraktive und perspektivenreiche Mannschaft sein eigen Das Interesse an der Borussia ist groß, die Zuschauerzahlen sind beispiellos hoch. Vier Meisterschaften und je ein Pokalsieg und Europapokaltriumph in nicht einmal 25 Jahren sprechen zusammen mit den drei weiteren Endspielteilnahmen in DFB-Pokal und UEFA-Cup eine deutliche Sprache.
Nachdem die Borussia auch im Halbjahr nach der Meisterschaft noch oben mitzuspielen versteht, kann man das zuletzt gewohnte Understatement vor diesem Hintergrund also getrost abstreifen – es wäre ohnehin nicht mehr sonderlich glaubwürdig. Der BVB hat (wieder) den Anspruch, zur Spitzengruppe zu zählen. Nicht weniger, allerdings auch nicht mehr.
Und Marco Reuse selbst? Der ist dem VfL Mönchengladbach schlichtweg entwachsen. Er ist
zu gut, um weiterhin am Niederrhein zu kicken, weil die Entwicklung des Vereins unmöglich mit seiner eigenen Schritt halten kann. So ist das manchmal im Fußball, aus denselben Gründen sind auch Sven Bender, Moritz Leitner oder Neven Subotic einst an die Strobelallee gewechselt. Marco Reus hat beim BVB die Perspektive, regelmäßig in der Spitzengruppe der Liga vertreten zu sein, regelmäßig international zu spielen, durchaus sogar Champions League. Vor zwei Jahren wäre das vielleicht noch eine ungeheure Aussage gewesen, die Gegenwart aber stellt sich so dar und lässt zumindest auch für die nahe Zukunft Ähnliches erwarten.
Damit stellt der BVB aber noch lange nicht das Ende der Nahrungskette dar. So wie die Benders, Leitners, Subotics und Reus' dieser Welt zur Borussia gewechselt sind, wird es bestimmt auch wieder Spieler geben, die über den BVB hinaus wachsen und den Verein der besseren Perspektive wegen verlassen. Nuri Sahin war im Sommer so ein Beispiel. Dass er tatsächlich das Zeug zum Weltspieler bei Real besitzt, konnte er dort noch nicht unter Beweis stellen, seine Entwicklung aber ging in der vergangenen Saison in diese Richtung und er selbst war davon überzeugt. Dasselbe werden wir eines Tages vielleicht auch mit Mario Götze, Mats Hummels oder eben Marco Reus erleben.
Denn auch die Borussia befindet sich keineswegs auf Augenhöhe mit Real Madrid, dem FC Barcelona, Manchester United oder dem FC Bayern. Ihr fehlt zur absoluten Spitze des europäischen Fußballs eben das, was den Gladbachern zur deutschen Ligaspitze fehlt: Beide hatten damit schon lange nichts mehr am Hut – ehrlicherweise fand das internationale Spitzengeschehen sogar die überwiegende Zeit ohne den BVB statt, genau wie auch die Gladbacher Episode an der Spitze des deutschen Fußballs zeitlich arg begrenzt war.
Die Bayern aber haben sich über Jahrzehnte und durch wiederkehrende Erfolge jene Vormachtstellung erarbeitet, die sie nun innehaben. Ihre sportliche Attraktivität und das gigantische mediale und Publikums-Interesse lassen sie auch heute wirtschaftlich in komplett anderen Sphären schweben als den BVB oder den Rest der Liga. Der Unterschied ist offenkundig: Der FC Bayern kann sich jederzeit einen Transfer wie Marco Reus erlauben, er kann sich dabei sogar einen Fehlgriff leisten. Für Borussia Dortmund hingegen ist eine solche Verpflichtung eine Sensation – und sie muss funktionieren.
Die fixe Idee, der BVB könnte nach nur einer Meisterschaft und sechs Spielen in der Champions League auf einmal mit den Bayern auf Augenhöhe konkurrieren, ist also nicht mehr als Spinnerei. Und bei Licht betrachtet ist das auch verdammt gut so: Wer schon mal eine Meisterfeier in der Allianz-Arena erlebt hat und das mit dem vergleicht, was im Frühjahr 2011 in Dortmund los war, kann sich nicht im entferntesten wünschen, tatsächliche Augenhöhe mit den Bayern herzustellen.
Jedes Imperium findet eines Tages mal sein Ende. Dem FC Bayern wird es höchstwahrscheinlich eines Tages genauso ergehen. Marco Reus wird seine aktive Spielerkarriere dann aber vermutlich schon längst beendet haben.