Romantik und Realität
Nun ist es mehr oder weniger amtlich: Laut Sportdirektor Zorc hat sich Shinji Kagawa entschlossen, die angebotene Vertragsverlängerung auszuschlagen. Sein Weg führt ihn vermutlich in die englische Premiere-League, die in seiner Heimat Japan einen ungleich höheren Stellenwert als die Bundesliga genießt. Nach Nuri Sahin verliert der BVB damit den zweiten echten Leistungsträger. Eigentlich eine erstaunlich geringe Anzahl, angesichts der spielerischen Klasse, die unsere Kicker jetzt seit mindestens 2 Jahren zeigen, und der sicherlich vorhandenen Begehrlichkeiten anderer Topvereine. Und dennoch ist man als Fan ein wenig enttäuscht. Solche Wechsel verursachen Kratzer in der heilen, romantischen Welt, die man sich gerne für seinen Verein einredet. Eine Welt, in der die Spieler eher Fans als Angestellte des Vereins sind. Eine Welt, in der Spieler den Verein mit der gleichen Vehemenz als das Nonplusultra betrachten, wie man selbst.
Das ist verständlich. Man leidet und freut sich mit dem Verein. Opfert einen Teil seiner Freizeit und folgt ihm am Wochenende stundenlang quer durch die Republik. Man jubelt den Spielern zu, feiert sie. Da ist es doch das Mindeste, dass die Spieler Gleiches mit Gleichem vergelten und dem Verein die ewige Treue schwören. Oder zumindest so lange, wie man sie noch haben will. Und an diesem Punkt beginnt sich die Romantik ein Stück weit in Bigotterie zu verwandeln. Die Spieler werden nämlich auch von den Fans einem fortlaufenden Leistungscheck unterzogen. So lange die gezeigten Leistungen den Ansprüchen genügen, erwartet man von ihnen Vereinstreue. Fällt ein Spieler jedoch über eine längere Zeit durchs Leistungsraster, wird die erwartete Treue schnell zur Einbahnstraße. Welche Ablösesumme kann man mit ihm noch erwirtschaften? Wie investiert man die hoffentlich freigesetzen Gelder? Welcher neue Spieler kann seine Position besser ausfüllen?
Gedanken, die auch Fans umtreiben. Loyaler Charakter und die Frage, ob der Spieler nicht vielleicht gerne bleiben möchte, treten da schnell in den Hintergrund. Bestes Beispiel ist aktuell Florian Kringe. Er ist in Kaiserslautern würdevoll verabschiedet worden. Der Dank für viele Jahre im schwatzgelben Dress, für Leidenschaft und für ein nicht mehr alltägliches Auf-die-Fans-Zukommen. Das waren schöne Momente, die er sich auch verdient hat. Aber Hand aufs Herz: Gibt es tatsächlich jemanden, der eine Vertragsverlängerung fordern würde, obwohl Kringe sportlich in der aktuellen Mannschaft keine Rolle mehr spielen wird? Einfach nur, weil er uns in schwierigen Zeiten ungemein geholfen hat und auch ein Stück weit Identifikationsfigur war? Lautet die Antwort ja, dann ist derjenige wohl nicht nur hemmungsloser Romantiker, sondern mit seiner Ansicht auch ziemlich alleine.
Ganz zu schweigen von der Kosten-Nutzen-Bewertung, die die Vereine dauerhaft bei den Spielern vornehmen. Für jeden Spieler gibt es die sprichwörtliche Summe, bei der man aus wirtschaftlichen Gründen über einen Verkauf nachdenken muss. Der Spieler ist immer auch Spekulationsobjekt – und im Falle von Kagawa hat unsere Borussia schon deutlicher schlechter spekuliert. Ebenso werden Verträge nicht verlängert oder Vereinswechsel nahegelegt, wenn man mit der sportlichen Leistung nicht zufrieden ist. Auch beim BVB, wo nach Watzkes Worten das „Gesamtpaket" stimmt, fragt spätestens in der zweiten Saison, in der ein Spieler den Anforderungen nicht genügt, niemand, ob man einen BVB-Schlafanzug trägt und das Vereinslied auswendig singen kann. Kevin Großkreutz kann Letzteres wohl sogar rückwärts, bei Ersterem ist es zu vermuten. Und dennoch ging er nach Ahlen, weil seine Karriereprognose in der Jugendmannschaft der Borussia negativ war Selbst die Dauerkarte für die Süd weckt da auf der Gegenseite keine romantischen Gefühle.
Es gibt also gute Gründe, warum sich Spieler ebenfalls so verhalten, wie sie andererseits behandelt werden: als angestellte Saisonarbeiter. Und im Falle Kagawas ist soweit alles korrekt verlaufen. Der BVB hat ihm ein Angebot für eine Vertragsverlängerung unterbreitet. Es ist das gute Recht des Spielers, nicht sofort eine Antwort zu geben, sondern Möglichkeiten und andere Angebote zu prüfen. Hier geht es neben der erhöhten Präsenz in seiner Heimat auch um Geldbeträge, bei denen jeder Tribünengast weiche Knie bekommt. Kagawa hat geprüft und überlegt. Er hat sich dafür zwar mehr Zeit genommen als es sich der Fan gewünscht hätte, aber andererseits auch nie vorschnell nicht einhaltbare Versprechungen gemacht und den Leuten etwas vorgespielt. Man kann seinen Wechselwunsch bedauern, aber kann man ihm das wirklich vorwerfen?
Wir haben in den letzten Jahren Spieler gesehen, die uns viel Freude bereitet haben. Sie haben unbestreitbar größten Einsatz gezeigt und ihre Aufgaben außerordentlich gut erfüllt. Sie bescheren uns eine geile Zeit, um die uns viele Fans anderer Vereine beneiden. Und damit heben sie sich wohltuend ab von den „Scheiß Millionären", die Borussia Dortmund einzig und allein als Melkkuh betrachtet haben, bei der man mit möglichst wenig Einsatz die größtmöglichen Gehälter einstreichen kann. All die Spieler mit ihrer unglaublichen Präsenz, mit ihren Leibärzten und eingebildeten Nackenschmerzen.
Seit einigen Jahren kicken beim BVB Spieler, die für ihr Gehalt ans Limit gehen und einen echten Gegenwert schaffen. Das ist jetzt vielleicht nicht die ganz große Fußballromantik der 50er Jahre, wo die Spieler noch nebenan wohnten und ihren Verein nie verlassen haben. Aber vielleicht die größtmögliche Restromantik in einer Fußballwelt, die gänzlich anders ist als damals. So sollte man allen Kickern danken, die den Dortmunder Weg mit uns gegangen sind – und ihnen viel Glück wünschen, wenn sich die Wege trennen.