Weniger Fußballfest ist mehr
Abpfiff im Niedersachsenstadion. Wer in die Gesichter im Gästeblock schaut, sieht Wut und Enttäuschung. Nicht wegen der Borussen auf dem Platz, sondern vielmehr wegen des dramatischen Spielverlaufs. Der BVB hat bei Hannover 96 eine verdiente 1:0-Führung leichtfertig aus den Händen gegeben. Chancen über Chancen, drei unserer Jungs verletzt, umstrittene Schiedsrichter-Entscheidungen und eine turbulente Schlussphase – das 1:1 war ein Fußballfest wie in Frankfurt oder Manchester. Das 1:1 war also scheiße. Und: Das Murmeltier ist ein Arschloch.
Zum Abschluss einer furiosen Woche mit Fohlen-Schlachtfest und spielerischem Gala-Auftritt in England – wenn am Ende auch unglücklich – sollte in der niedersächsischen Landeshauptstadt eigentlich das dritte Highlight folgen. Dortmund gegen Hannover, da war doch was? Jawohl! Bereits nach unserem letztjährigen Gastspiel musste der geneigte BVB-Fan an sich halten, mit seinem Mageninneren nicht den Mittelstreifen der A2 Richtung Bierhauptstadt zu zieren. Zwei Gegentore in den Schlussminuten, den sicheren Dreier pulverisiert, ihr erinnert euch.
An diesem Sonntag, um kurz vor 17.30 Uhr, konnte man freilich darüber lachen, haben wir doch quasi aus Rache in den folgenden 32 Spielen die ganze Liga meisterlich aufs Kreuz gelegt. Déjà-vu? Denkste! Bevor wir allerdings zur Wurzel der üblen üblen Sonntagabend-Laune kommen, lohnt sich ein Blick auf die Hannoveraner Fanszene.
Die Bild-Zeitung, Ultras und ein Massenmörder
Die hatte zum Stimmungsboykott aufgerufen und wollte die Mannschaft nicht unterstützen. Kein Gesang, keine Fahnen und auch kein Stehen. Der Grund dafür ist, dass Martin Kind plötzlich etwas gegen die Fahne mit dem Hannoveraner Massenmörder Fritz Haarmann hat. Seit 2007 wird diese Fahne, über deren Geschmack sich mit Sicherheit streiten lässt, bei Heim- und Auswärtsspielen von den Ultras Hannoi geschwenkt. Empörung von offizieller Seite regte sich jedoch erst, als die Bild-Zeitung in der vergangenen Woche reißerisch titelte „Ultras von Hannover 96 jubeln mit Massenmörder", gefolgt von einem gewohnt undifferenzierten Boulevard-Pamphlet, was Vereinsboss Martin Kind dazu bewegte, Hausverbote gegen die Schwenker auszusprechen. Angesichts dieses blinden Aktionismus und der Art seiner Entstehung ein nachvollziehbarer Protest der Hannoveraner, dem sich mittlerweile offenbar auch viele weitere Fanclubs angeschlossen haben. Folgende Anmerkung sei erlaubt: Als Fan eines Vereins, dem der unsäglich populistische Martin Kind vorsitzt, würde ich noch viel öfter auf die Barrikaden gehen. Im Norden konnte der Stimmungsboykott zu großen Teilen durchgezogen werden, andere Teile des Stadions machten sich angesichts des furiosen Spielverlaufs das ein oder andere lautstark bemerkbar.
Nun aber wirklich auf den Platz: Dort schmissen unsere Jungs mit gleich den Turbo an und spielten die Kugel ganz unkonventionell Richtung gegnerisches Tor. Zur Belohnung durfte Reus nach 13 Sekunden köpfen und Zieler parieren. Wie sagt man doch in der Werbung? Ein netter Appetizer. Beide Teams hatten unter der Woche noch kräftezehrende Spiele auf internationalem Parkett bestritten, Bock auf lockeres Auslaufen hatte aber niemand. Sobiech nahm sich in der fünften Minute ein Herz und zwang Weidenfeller mit seinem Schuss von der rechten Strafraumkante zu einer dieser Glanzparaden, die Roman uns in letzter Zeit regelmäßig serviert. Roman warm geschossen und auf einen arbeitsreichen Abend eingestellt.
Überhaupt spielte 96 gut mit, war stets in Lauerstellung und suchte mutig seine Möglichkeiten in der Offensive. Trotz spielerischer Überlegenheit unseres BVB musste man jeder Zeit davon ausgehen, die Hausherren könnten bei Balleroberung blitzschnell gefährlich werden. Daran hatte leider auch Mats Hummels seinen Anteil, der einige Unsicherheiten im Spielaufbau offenbarte. Auch seine Leistungen in Nürnberg, Hamburg und Frankfurt lassen vermuten, dass er seiner gewohnten Form bisweilen noch hinterher läuft. Doch die leisen Zweifel verstummten, nach 26 Minuten in wohltuenden Jubelschreien der schwatzgelben Reisegruppe. Zügiger Angriff über rechts, Piszczek mit passgenauer Hereingabe und in der Mitte überwindet Lewandowski seinen inneren Schweinehund und schiebt die Kugel aus fünf Metern einfach rein – 1:0.
Drei Verletzte auf einen Streich
Und auch nach dem Tor galt das Kommando "Erster Auswärtssieg". Kuba hatte innerhalb von einer Minute gleich zwei gute Schussmöglichkeiten. Leider waren das für ihn die letzten Aktionen des Spiels. Ohne Einwirkung des Gegners verletzte er sich. Der BVB wird wohl sechs Wochen ohne das polnische Fußball-Idol auskommen müssen. Kevin Großkreutz kam rein und erlebte bis zur Halbzeit starke Hannoveraner. Erst musste Weidenfeller den Schuss von Jan Schlaudraff parieren. Und kurz vor der Pause holte Lukasz Piszczek Didier Ya Konans Schuss von der Linie. Hola, was war denn nun auf einmal da los? Borussia Dortmund ging trotz dieser Schwächephase mit der 1:0-Führung in die Kabine. Da war noch mehr drin – spielerisch und im Gästeblock auch stimmungstechnisch.
Zu Beginn der zweiten Hälfte gab es die zweite Auswechslung. Mats Hummels verletzte sich und musste durch Felipe Santana ersetzt werden. Hummels kann nun mindestens zwei Wochen nicht gegen den Ball treten. Bitter und der Verletzte Nummer zwei in diesem Spiel. Die Borussen ließen sich von dem Ausfall zunächst aber nicht beeinflussen. Kurz nach Wiederanpfiff haute Lukasz Piszczek den Ball aus 16 Metern an den linken Pfosten. Unmittelbar danach kam Mario Götze frei vor Ron-Robert Zieler an den Ball, verstolperte die Kugel aber.
Von nun an nahm Hannover 96 das Heft in die Hand. Die Gastgeber schnürten den BVB in zeitweise in der eigenen Hälfte ein. Und es kam, wie es kommen musste: Ecke Hannover, Tor Eggimann. Jubelnde 96er auf dem Platz und auf den Rängen. Schweigende Gästefans. Bis, ja bis der Schiedsrichter auf Stürmerfoul von Ya Konan entschied, kein Treffer! Rambazamba im Gästeblock. Es war wie ein zweiter Torjubel. Jetzt explodierte die Tribüne – selbst bei dem Einschlaflied "Aleee, aleee Bevaubee, aleee aleee Bevaubeee...".
Die Jungs ließen sich von der besseren Stimmung im Gästebereich nicht anstecken, im Gegenteil. Ganz Hannover hasste nun Schiri Gagelmann, wütend stürmte die Slomka-Truppe Richtung Dortmunder Tor. Und statt mit einigen überlegten Aktionen wieder Ruhe ins Spiel zu bringen, ließen die Borussen sich von dieser Hektik anstecken. Beispiel gefällig? Eine Viertelstunde nach Wiederanpfiff verhinderte Weidenfeller mit einem wahren Weltklasse-Reflex ein Eigentor von Piszczek. Sichtlich unter Strom stehend haute er die Kugel geradewegs ins Seitenaus. Keine Entspannung, die Gastgeber rannten weiter an.
Kurze Zeit später räkelte sich auch noch unser dritter Verletzter auf dem Boden, ausgerechnet Manni Bender nach seinem soliden Comeback. Voll auf die zwölf von Ya Konan, eine glatte Schädel- und Augapfelprellung und zwei Wochen Pause auch für ihn. Schöne Scheiße, die nur noch von Dioufs hochverdientem Ausgleich fünf Minuten vor Schluss getoppt wurde. Kurz zuvor war er noch kläglichst gescheitert, nun brachte er den Ball irgendwie über die Linie. Sowas von mit Ansage!
Ein halbes Déjà-vu
Trotz des Frust und der nicht unberechtigte Sorge, in Hannover vielleicht ein gar punktloses Déjà-vu zu erleben, drehte der Gästeblock noch einmal richtig auf und peitschte die Jungs lautstark nach vorne. Schön zu sehen, dass solche Reaktionen auf Rückschläge und Gegentore in Dortmund zur Selbstverständlichkeit gehören. All die angestauten Emotionen entluden sich in der Nachspielzeit. Reus zieht nach einem letzten Dortmunder Kraftakt in den gegnerischen Strafraum und wird von Haggui elfmeterwürdig von den Beinen geholt. Zugegeben, auch von der Tribüne sah der Zweikampf regelkonform aus, doch nach dem Studium der TV-Bilder muss man festhalten: 80 Prozent der Schiedsrichter pfeifen hier Strafstoß, doch dieses Glück sollte uns einmal mehr erspart bleiben.
Und nun? Platz 3+1 liest sich eigentlich gar nicht so scheiße und die zwei Punkte Rückstand auf die Blauen könnten angesichts der bevorstehenden Ereignisse vielleicht bald Vergangenheit sein. Das erste Mal seit langem kommt mir eine Länderspielpause wirklich gelegen. Zwei Wochen Zeit zum Wunden lecken, im wahrsten Sinne des Wortes. Zumindest für Hummels, Bender und Gündogan besteht die Hoffnung im Derby am Samstag in zwei Wochen wieder fit zu sein. Aber auch 14 Tage, um die eigenen Unzulänglichkeiten im auszumerzen, sofern angesichts Länderspielreisen überhaupt möglich. Hochklassige Saisonstarts gehörten unter Jürgen Klopp nie zu unserer Paradedisziplin doch leichtsinnige Fehler wie in Hamburg, Frankfurt oder Hannover gilt es zukünftig zu vermeiden. Nicht, dass es gegen Gelsenkirchen zu einem weiteren Fußballfest kommt.
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Hannover 96: Zieler - Cherundolo (81. Sakai), Eggimann, Haggui, Rausch - Schlaudraff, Stindl, Pinto (77. Abdelloue), Huszti - Ya Konan, Sobiech (67. Diouf)
Borussia Dortmund: Weidenfeller - Piszczek, Subotic, Hummels (46. Santana), Schmelzer - Bender (74. Leitner), Kehl - Blaszczykowski (39. Großkreutz), Götze, Reus - Lewandowski
Tore: 0:1 Lewandowski (26., Piszczek), 1:1 Diouf (86., Ya Konan)
Schiedsrichter: Gagelmann (Bremen), Gelbe Karten: Sobiech, Cherundolo, Schlaudraff, Stindl
Zuschauer: 49.000 (ausverkauft).
Guerriero und Malte S., 08.10.2012