Gästestehplatz, 5 Euro!
Wenn gestandene Vertreter der aktiven Fanszene vor dem Stadion stehen und größte Mühe haben, Karten im Wert von 40 Euro für einen Zehner loszuschlagen, klingt das nach einem typischen Gastspiel des VfL Wolfsburg im Breisgau. Sind obendrein fünf Euro für einen Stehplatz noch fünf Euro zu viel, mögen unschöne Erinnerungen an finsterste Zeiten der Vereinsgeschichte wach werden. Ein Premiumprodukt der Fußballbundesliga jedenfalls stellt man sich anders vor...
Nun müssen wir berücksichtigen, dass Karten im Vorfeld gerne dreistellige Beträge bei Ebay erlösten. Dass sich zigtausende Fans die Finger wund tippten, um an den bekannten Hotlines zumindest einmal durchzukommen. Dass sich im Vorverkauf gegen das hässliche Entlein aus der Nachbarschaft, bei dem nun wahrlich keine Wandlung zum prächtigen Schwan zu erwarten sein wird, tumultartige Szenen abspielten. Dass so gut wie jeder unbedingt zum Pokalfinale fahren möchte und dafür so gut wie jeden Preis zahlen würde. Dass Schwarzhändler vor dem Stadion grundsätzlich gemieden werden sollten, um Wucher und Preistreiberei einen Riegel vorzuschieben.
Und dennoch: Dass ausgerechnet der wohl bislang schönste Fußballtag des Jahres, ein prächtiger Sommerkick des amtierenden und titelverteidigenden Deutschen Meisters in einem so stimmungsvollen Stadion wie dem des 1. FC Kaiserslautern, so große Lücken auf den Tribünen (inklusive der Presstribüne) reißen würde, regte schon zur einen oder anderen Frage an.
Immerhin erhielten all jene, die sich den Spieltag aufgrund der vorzeitig gesicherten Meisterschaft frei genommen hatten, ihre Strafe auf dem Fuß. Sie verpassten einen großartigen Fußballnachmittag mit einer so prächtigen Stimmung, wie man sie wohl nur in einer ganz großen Saison erleben darf. Auch verpassten sie die tolle Geste einer lokalen Bäckerei, die extra für den Gästeanhang Brezeln in Form einer 8 verbunden mit den besten Glückwünschen zum Gewinn der achten Deutschen Meisterschaft gebacken hatte — es tut weh, einen Verein in die Zweite Liga zu verlieren, bei dem Leidenschaft groß geschrieben und selbst in schlechten Zeiten Freude am Sport gelebt wird, während man sich mit einer halben Liga grauer Mäuse messen muss.
Auf Seite der Borussen waren hingegen nicht nur die Fans in erhebliche Mitleidenschaft gezogen worden—– Marcel Schmelzer, der seit einigen Wochen angeschlagene Manni Bender sowie Kuba mussten auf die Teilnahme bei der Punkte-Rekordjagd verzichten. Roman Weidenfeller überließ seinen Startplatz freiwillig Mitch Langerak, für Felipe Santana wich ausnahmsweise nicht Neven Subotic, sondern Mats Hummels. Neu im Team waren der wieder genesene Mario Götze, Patrick Owomoyela sowie Chris Löwe, für die die Feierbiester Kevin Großkreutz, Shinji Kagawa und Lukasz Piszczek ihre verdiente Pause bekamen. Dass überdies Florian Kringe auf der Bank Platz nehmen durfte, war für viele Fans eine Herzensangelegenheit — Jürgen Klopp dürfte dabei wohl aber eher weniger vom Goodwill geleitet worden sein als vom Mangel an fitten Alternativen.
Die zweite Elf des deutschen Meisters startete gewohnt solide in die Partie. Die bereits abgestiegenen Hausherren wollten sich ihrerseits mit einem guten Eindruck von ihrem heimischen Publikum verabschieden und zeigten klar auf, sich nicht bereitwillig ihrem Schicksal ergeben zu wollen. Es entwickelte sich ein Spiel, das Mats Hummels' Stimmungskritik — nicht immer ganz ernsthaft — konterte. Im Dialog zwischen Fans und Spielern folgte auf jede relevante Aktion ein passender Gesang, an dem zeitweise das ganze Stadion Spaß hatte. Für die Daheimgebliebenen der Versuch einer Rekonstruktion.
Spielfeld: Beide Mannschaften neutralisierten sich in der Anfangsphase, die ersten Chancen lagen bei den Pfälzern. Alexander Bugera zog auf links vorbei an der Dortmunder Defensive und spielte einen schönen Pass auf Andrew Wooten, dessen lascher Abschluss trotz guter Position kein Problem für Langerak darstellte. Das 1:0 fiel nicht ganz aus dem Himmel, verantwortlich war ein doppelter Bock Santanas: nach seinem Stellungsfehler im Halbfeld agierte Kostas Fortounis ohne große Probleme gegen Löwe und Subotic, erhielt von diesen jedoch keine Gelegenheit zum Abschluss — Fortounis Verzweiflungspass in die Mitte erreichte den mitlaufenden Santana, der sich das Ei schön selbst ins Nest legte.
Aus dem Gästeblock donnerte: „Wir ham die Schnauze voll, wir ham die Schnauze voll!“
Eine Minute später legte Götze den Ball mit einem Ballkontakt auf Owomoyela ab, dessen Heber aus gut 25 Metern ebenfalls im One-Touch-Verfahren den Kopf Lucas Barrios erreichte — das unbeeindruckte 1:1.
„Nie mehr zweite Liga, nie mehr, nie mehr!“
Eine Traumkombination in der 25. Minute. Robert Lewandowski legt den Ball vor dem Pfälzer Strafraum stehend ab auf den rechts freistehenden Ivan Perisic, dessen scharfe Hereingabe von Barrios mühelos zum 1:2 verwandelt werden kann.
„Ein Schuss, ein Tor, die Bayern!“
Wenige Minuten später, ein Freistoß Perisics aus rund 40 Metern Torentfernung wird von Tobias Sippel recht mühelos gehalten. Den Fans ist es egal, denn:
„Bambule, Randale, Dortmund hat die Schale!“
Wir schreiben die 33. Minute, beinahe die Kopie des 1:2 — Lewandowski legt quer auf Götze, der sich durch den Strafraum tankt und den Ball recht mühelos am — höflich ausgedrückt — auf dem falschen Fuß stehenden Sippel vorbei ins Tor schiebt. Derweil markiert der seltsame Vorort das 1:0.
„Keine Schale in der Hand – Scheiße, Null-Vier!“
Zwei Minuten später, das sichere 1:4 — doch im Strafraum dauert es zu lange, diverse Ableger und ein viel zu lange zögernder Ilkay Gündogan verhindern den erneuten Torerfolg. Sebastian Kehls Heber erreicht Perisic, der im Vorbeigehen den Ball über seinen Schlappen rutschen lässt und mit dem Außenrist wenige Meter am Tor vorbeilegt.
„Ja den Bee-Vau-Bee-Walzer tanzen wir, und ham wir die Meisterschale, dann trinken wir noch mehr!“
40. Minute, abermals wird der Ball schön durch zehn Lauterer Abwehrbeine hindurch gesteckt — Lewandowski bekommt den Ball und versucht Götzes Torerfolg zu kopieren, scheitert jedoch am linken Pfosten und nicht am abermals unglücklich wirkenden Sippel.
„Und wir werden immer Borussen sein, es gibt nie, nie, nie einen anderen Verein!“
Zweite Halbzeit, der FCK kommt erneut besser ins Spiel und zeigt Borussia kurzzeitig die Grenzen auf. Fortounis flankt den Ball ähnlich wie Owomoyela beim 1:1 über die Abwehr, Langerak verlässt das Tor und kann gegen Pierre de Wit nicht klären — ein klarer Torwartfehler, der den FCK jubeln und de Wit am Boden zusammensinken lässt. Nach längerer Behandlungspause geht es weiter.
„Borussia Dortmund, für immer Deutscher Meister!“
54. Minute, ein Lauterer Freistoß aus dem Mittelfeld nimmt gefährliche Bahnen an und eröffnet beinahe die Chance zum 3:3, doch der freistehende Stürmer säbelt über und Langerak fängt den Ball. Im Gegenzug versucht sich der FCK an einem fragwürdigen Rückpass auf Sippel, der seinerseits in einer fragwürdigen Dribbelaktion gegen Perisic stolpert und den Ball vor dem offen stehenden Tor verliert — Barrios bedankt sich für die Vorarbeit und macht das 2:4.
„Forza BVB! Schwarz und Gelb olé! Ich hab mein Leben dir vermacht, jeden Tag und jede Nacht!“
Borussia übernimmt wieder das Kommando. Owomoyela setzt am rechten Strafraumeck zu einem richtigen Pfund an, trifft mit seinem gut platzierten Schuss im Fünfmeterraum aber leider nur Barrios Rücken. Eine Minute später erzielt Lewandowski das 2:5, leider darf der Treffer aufgrund einer deutlichen Abseitsstellung Perisics nicht zählen. Egal jetzt.
„Schalalalalalala, Borussia!“
Shinji Kagawa kommt ins Spiel, etwa eine Stunde ist vorbei. Die Kaiserslauterer Fans haben ihren Frieden mit sich gefunden und erkennen den Willen ihrer Mannschaft an, immerhin dagegen zu halten. Da es nicht viel zu feiern gibt, feiern sich die Fans nun selbst und genießen ihre vorerst letzten Heimspiel-Minuten im Fußballoberhaus. Eine LaOla schwappt durchs Stadion, beide Seiten feiern und singen nun gemeinsam in zum Teil ohrenbetäubender Lautstärke.
„Scheiße, Null-Vier!“
Den FC Meineid mag nun halt wirklich keiner. Weil sich nun einige Minuten lang recht wenig tut, Kaiserslautern etwas besser Tritt fassen kann, wollen sich die Fans beider Lager das nicht mehr länger antun.
„Wir wolln euch kämpfen sehn!“
Das Spiel ist längst entschieden, es wird allmählich Zeit für den Auftritt eines ganz großen Borussen. Technisch wohl nie ein Jahrhunderttalent gewesen, doch stets ein Dortmunder Jung mit dem Herzen am rechten Fleck. Unvergessen seine Engelsgeduld, als er sich bei den Fans für die schlimmsten Grottenkicks entschuldigte und im Wochenrhythmus heftigste Attacken für die gesamte Mannschaft gefallen ließ.
„Florian Kringe! Florian Kringe! Florian Kringe!“
Kagawa gleitet von links wie Butter durch den Strafraum. Er zögert zu lange beim Abschluss, schafft aber noch die Ablage auf Perisic — Pfosten. Direkt in der nächsten Situation wieder Kagawa auf Perisic, der Sippel diesmal mit einem tollen Schuss ins lange Eck keine Chance lässt. Das verdiente 2:5 wird gefeiert, indem Klopp dem Wunsch der Fans folgt: Kringe kommt für Götze, ein echter Gänsehautmoment.
„Wer ist deutscher Meister? BVB Borussia!“
Jeder Ballkontakt Kringes wird nun gefeiert, der „Fette mit die Sechs“ strahlt dabei wie ein Honigkuchenpferd. Immer wieder suchen nun die Mitspieler den Pass auf Kringe. Als die Pfälzer in der 90. Minute ihren Abschiedsgesang anstimmen, folgen die Borussen auf dem Fuße — das ganze Stadion schmettert:
„Walk on, through the wind. Walk on, through the rain. Though your dreams be tossed and blown. Walk on, walk on with hope in your heart. And you’ll never walk alone, you’ll never walk alone!“
Als in diesem Moment Kringe alleine vor Sippel auftaucht und zum Torschuss ansetzt, brechen alle Dämme. Das Tor bleibt ihm leider versagt, zu schwach fiel der Schuss letztlich aus, doch selten zuvor erlebte ein Borusse einen passenderen Gesang zu seinem letzten Auswärtsspiel.
Die Partie war nun zu Ende, die Schwatzgelben feierten mit ihrem Anhang ein gewohnt großes Fest. Alle Mitspieler blieben jedoch gut drei Meter hinter Kringe zurück, der sich mit dem einen oder anderen Freudentränchen im Auge in einem hoch emotionalen Moment verabschieden lassen durfte. Leider blieb dieser Wunsch auf Seite der Hausherren unerhört, verzogen sich die Spieler trotz lautstarker Aufforderungen doch recht schnell in die Kabine. Immerhin kamen sie wenig später dann doch noch zu den Fans - das hatten sich diese durchaus verdient gehabt.
Statistik
Aufsteiger 2013: Sippel - Dick, Abel, Rodnei, Bugera - Borysiuk - Fortounis, Tiffert, De Wit, Sahan - Wooten
Yahia für Rodnei (40.), Derstroff für Sahan (64.), Kirch für Tiffert (78.)
Schon-jetzt-Rekordmeister: Langerak - Owomoyela, Subotic, Santana, Löwe - Gündogan, Kehl – Götze - Lewandowski, Perisic – Barrios
Leitner für Kehl (64.), Kagawa für Lewandowski (66.), Kringe für Götze (77.)
Tore:
16. Minute: 1:0 Santana (Eigentor)
18. Minute: 1:1 Barrios
25. Minute: 1:2 Barrios
33. Minute: 1:3 Götze
48. Minute: 2:3 De Wit
55. Minute: 2:4 Barrios
76. Minute: 2:5 Perisic
Gelbe Karten:
FCK: Abel - BVB: Barrios
Jürgen Klopp: „Ich weiß nicht, wie es unter der Woche in Kaiserslautern war. Wir hatten etwa fünf Grad und viel Wind, heute war dann bei diesen Temperaturen nicht unbedingt ein Zuckerschlecken zu erwarten. Das war richtiger Hochleistungssport und ging an die Substanz, dafür haben wir das in der Offensive heute sehr gut hinbekommen. In der Abwehr haben wir uns einige Unkonzentriertheiten geleistet, die der Gegner prompt ausgenutzt hat. Dass Mitch noch ein Spiel bekommen würde, war von Anfang an klar — welches es sein würde, durfte sich dafür Roman aussuchen.“
Kurzinterview mit dem strahlenden Florian Kringe
Florian, dein Vertrag läuft in wenigen Wochen aus und wird nicht mehr verlängert werden. Mit dem Spiel gegen Freiburg und dem Pokalfinale stehen die beiden Saisonhighlights noch aus, dein heutiger Einsatz wird für dich nicht minder schön gewesen sein. Was hat sich in dir alles abgespielt, als du den Platz betreten durftest?
Das war total geil. Das Gänsehautgefühl, das mir die Fans heute bereitet haben, war eigentlich unbeschreiblich. Es ist wunderschön, dass ich überhaupt nochmal die Chance bekommen habe, mich zu verabschieden und zu bedanken. Ich habe über die Jahre so viele Eindrücke gesammelt, die immer hängen bleiben werden… (Atmet tief durch) Ich meine, ich spiele jetzt über mein halbes Leben lang bei Borussia, da fällt es mir natürlich schwer zu gehen. Aber es wird wohl jeder nachvollziehen können, dass ich gerne Fußball spielen und mehr Einsatzzeiten haben will, als das momentan der Fall ist. Trotzdem glaube ich, dass es außergewöhnlich ist, wenn man so einen Abschied bekommt. Ich hatte gehofft, dass ich das noch einmal ganz bewusst genießen und in mich aufsaugen kann. Was heute passiert ist, war einfach überragend und das Geilste… (Lächelt)
Kurz vor Schluss gab es eine Szene, in der das ganze Stadion „You’ll never walk alone“ sang und du mit dem Torschuss eine gute Chance hattest — hat dieser Moment für dich alles auf den Punkt gebracht?
Ja klar, das war ganz besonders und wäre natürlich zu schön gewesen, wenn das noch geklappt hätte. Ich ärger mich natürlich auch jetzt noch schwarz, dass ich den nicht gemacht habe — ich habe da zu lange überlegt, ob ich den links schieße oder drüber lupfe, und das war der Bruchteil einer Sekunde, den ich einfach zu lang überlegt habe. Da war der Torwart schon draußen und ich wollte ihm durch die Beine stecken, leider kam er sehr schnell auf den Boden und ich hatte die Chance vertan. Das wäre das i-Tüpfelchen gewesen, aber auch so werde ich diese Eindrücke nie vergessen.
Ihr seid deutscher Meister, das Pokalfinale steht vor der Tür, du hast heute deinen besonderen Moment im letzten Auswärtsspiel gehabt — kann es da überhaupt noch weitere Ziele geben?
Aber klar, wir wollen nichts herschenken und haben weiterhin sehr ambitionierte Ziele! Wir sind zwar deutscher Meister, haben mit dem heutigen Sieg aber schon den Punkterekord der Bayern eingestellt und ein besseres Torverhältnis — nächste Woche wollen wir den Rekord knacken. Wenn es denn mit den 81 Punkten klappen sollte, wäre das nochmal eine Steigerung dessen, was wir erreicht haben. Das ist eine Wahnsinnsserie, die es noch nie gegeben hat und die es sehr lange auch nicht mehr geben wird. Anschließend kommt noch das Mega-Highlight im Pokal gegen die Bayern — da war ich vor vier Jahren schon dabei und wir freuen uns richtig darauf. Wir sind sowieso schon total verwöhnt, was die Stimmung bei Heimspielen angeht, aber was damals in Berlin los war, war der absolute Hammer. Die ganze Hauptstadt war schwarz-gelb und wir wollen natürlich noch etwas gut machen. Damals waren wir ein bisschen näher dran als die Bayern — ich erinnere mich da an einen Schuss von mir, den Olli Kahn gerade noch so mit den Fingerspitzen herausholt — und ich glaube, es wäre ungefähr hundertmal geiler gewesen, wenn wir das Ding gerissen hätten. Ich hatte den Eindruck, dass die Bayern damals noch so erfolgsverwöhnt waren, dass sie sich relativ gemäßigt gefreut haben, während bei uns wohl alles explodiert wäre…
…ist es doch ohnehin…
Na klar, aber eben noch viel mehr! (Lacht) Ich hoffe, dass wir das Ding diesmal reißen können und dass wir dann nochmal richtig abfeiern in unserer Hauptstadt. Das wird etwas ganz Besonderes, dass ich nie mehr hergeben will. Ähnlich wie mein Trikot heute, an dem so viele Eindrücke und Emotionen hängen, dass ich es wohl ewig behalten werde.
Danke für das spontane Kurzinterview, Florian!
SSC, 29.4.2012