Harte Arbeit in Berlin
Der deutsche Meister spielt beim Abstiegskandidaten – 15 Spiele ohne Niederlage treffen auf ein Interimsgespann, dessen Mannschaft sich vor Wochenfrist nicht nur jämmerlich abschlachten ließ, sondern nach Meinung zahlreicher Beobachter gegen ihren Trainer gewirkt hatte. Ohne die verletzten Mario Götze und Kagawa Shinji konnte Borussia die wichtigen drei Zähler auch diesmal aus der Hauptstadt entführen, doch so leicht wie in den vergangenen Jahren fiel es nicht: die Wundertüte Hertha bescherte dem BVB ein enges Spiel und zeigte, warum sie in diese Liga gehört.
Im Vorfeld stand die große Euphorie: Borussia enteilt an der Spitze, die ersten Fehler der Verfolger, nervöse Bayern im dünne-Haut-Modus. Dazu das Spiel bei einem der vermeintlichen Lieblingsgegner, der neben vielen verfügbaren Karten in einem tollen Stadion zuletzt mehrfach in Folge kein besonders gutes Wässerchen gegen Borussia gefunden hatte. Kein Wunder also, dass sich fantastische 18.000 Gästefans ein Ticket gesichert hatten – es konnte ja nur das nächste Schützenfest und nebenbei noch eine tolle Stadt für einen Wochenendausflug geben.
Die Hertha indes stand unter enormen Druck. Gegen den Trainer spielen, König Otto von Griechenland als neuen Trainer angedroht bekommen und dann noch unter einem Interimsduo agieren – da kann jeder Fehlpass schnell zur Charakterfrage stilisiert werden. Nach intensiven Gesprächen mit den Fans werden so auch die Spieler gewusst haben, was im Falle einer Niederlage auf sie zukommen würde.
Eine Ausgangsposition wie gemalt für ein tolles Spiel, das von beiden Kurven auch intensiv herbeigesehnt wurde. Die Herthaner begrüßten mit einem Spruchband („Allet jute zum Vierzigsten HFC“) und lauten Gesängen, während sich der extrem große schwatzgelbe Anhang stimmlich noch etwas zurück hielt. Eine Plastikfolien-Choreo unter dem Motto „Schwarz-gelbe Borussia – Dortmund ist wunderbar“ brachte viel Farbe in den Block, nach einigem Zuhören stimmte dann die gesamte schwatzgelbe Kurve mit Inbrunst und voller Besatzung „Heja BVB“ an. Überhaupt machte diese Situation zu Spielbeginn richtig Spaß: Trotz einiger freier Plätze in Heim- und Gästekurve (das Spiel war eigentlich ausverkauft, die großen Lücken aber dennoch gut sichtbar) waren beide Seiten richtig gut in Form: Hertha gab alles, Borussia konterte sangesfreudig. Gänsehaut!
Auf dem Platz zeigte sich Hertha keinesfalls beeindruckt. Mit viel Offensivgeist und nach dem Rauswurf Skibbes vielleicht schon dem Mut der Verzweiflung warfen sich die Hauptstädter in die Zweikämpfe und hatten in den ersten fünf Minuten mehr vom Spiel. Borussia bemühte sich, mit Lucas Barrios für Kagawa vor Robert Lewandowksi sehr offensiv ausgerichtet, zunächst um ein geordnetes Defensivspiel und gewährte Hertha recht viele Freiräume in der eigenen Hälfte. Die erste Chance sprang dennoch für den BVB heraus, als Barrios in der 8. Minute nach Flanke von Lukasz Picsczek den Ball direkt auf Thomas Kraft köpfte.
Spielerisch passierte weiterhin nicht viel, beide Mannschaften agierten diszipliniert und neutralisierten sich bereits im Mittelfeld. Dafür machte die Heimkurve eine durchgehend gute Figur – viel Gesang getragen von einer großen Zahl Fans, authentisch und angesichts der sportlichen Situation durchaus respektabel. Der Gästeanhang hingegen war bis auf die durchgehenden Trommeln nur phasenweise zu hören, machte dann aber keine Gefangenen – schade, dass sich die Sitzplatzbereiche im Unter- und Oberrang nur sporadisch am Gesang beteiligten und der BVB-Anhang das Nachsehen hatte.
Glanzlichter auf dem Platz waren bislang Mangelware, doch Borussia bemühte sich zusehends um Akzente: In der 18. Minute enteilte Lewandowski seinen Gegenspielern und zog an der linken Eckfahne den Kürzeren, blieb jedoch wach genug um den mitgelaufenen Großkreutz zu sehen – ein simpler Hackentrick, Großkreutz spielte mangels Alternative den Gegenspieler an und holte einen Eckball heraus. Nicht schön anzusehen und sicherlich nicht die größte Kunst, doch genau so findet man in ein hartes Spiel gegen einen hochmotivierten Gegner. Immer öfter hatte nun der BVB einen (leichten) Feldvorteil, weil sich die jungen Borussen eben nicht zu schade waren, rustikal zu Werke zu gehen. Leider fehlte es an der Konzentration im Abschluss bzw. dem letzten Pass, der noch viel zu unsauber gespielt wurde.
In der 22. Minute deutete Hertha erstmals an, nicht zum Verlieren angetreten zu sein: Kobiashvili zog kraftvoll aus der Distanz ab, doch Weidenfeller konnte den Ball sicher halten. Hertha überließ Borussia eine optische Überlegenheit, die sich insbesondere durch viel Ballbesitz bei ausgeglichener Zweikampfbilanz darstellte – die Berliner verlegten ihr Spiel nach hinten und ließen den BVB kommen, doch gegen das massierte Mittelfeld gab es bislang noch fast kein Durchkommen. Einen sehr positiven Eindruck machte dabei Lucas Barrios, der seine Spielfreude wieder gewonnen zu haben schien: Mit Blick stets in Richtung Ball bewegt er sich deutlich mehr als bei seinen letzten Einsätzen, blockte seine Gegenspieler selbstbewusst ab und bot sich immer wieder als Anspielstation an. Zwar ist er noch längst nicht der alte Knipser der Vorsaison, doch die Formkurve zeigt wieder nach oben. Ist ja auch mal schön, wenn zur mannschaftlichen Siegesserie auch das Individuelle Glück wieder hervor scheint.
So hatte Barrios nach einer guten halben Stunde auch die erste Großchance des Spiels: Picsczek war der Berliner Abwehr enteilt und hatte das Auge für den mit großen Schritten in den Strafraum eindringenden Barrios, der die harte Hereingabe aber leider zwischen den Beinen vertändelte – hier wäre mehr drin gewesen, doch glücklicherweise ist die Mannschaft derzeit wirklich stark genug, um ihren „Sorgenkindern“ auf die Beine zu helfen. Die Fans nahmen den Angriff als Hallo-Wach-Effekt: Wie auf Knopfdruck wurde es nun viel lauter, es folgte der erste Wechselgesang des Spiels – vom Marathontor bis hin zur Pressetribüne, richtig klasse. Wenn die Borussen wollten, ging hier einiges!
Das Spiel wurde nun langsam wieder ausgeglichener. Mats Hummels an einem der schlimmsten Tage seiner Karriere verlor den Ball ohne jede Not an Raffael, der freistehend vor Weidenfeller nur noch hätte einschieben müssen. Doch Weidenfeller warf sich wie ein Berserker auf den Ball, so dass ohne jeden Schaden der nächste Konter einsetzen konnte: Ein wütender Angriff von Großkreutz und Barrios brachte nichts Zählbares ein, immer wieder kam ein Berliner Abwehrbein dazwischen. Abermals schön zu sehen, dass diese Mannschaft nicht nur schön spielen kann, sondern auch weiß, wann man die Brechstange auszupacken hat.
So kam es in der 39. Minute zu einer strittigen Szene: Großkreutz maschierte an der Seitenlinie, ein Herthaner stellte sich ihm in den Weg. Beide Spieler schoben, zupften und warfen sich in den Ball, Großkreutz bekam dafür einen Freistoß – das hätte genauso gut auch anders herum ausgehen können. Auf der anderen Seite brachte ein schönes Zusammenspiel von Kuba und Picsczek eine Ecke ein. Obwohl die Statistik nun immer deutlicher in Richtung BVB ging (61% Ballbesitz, 52% gewonnene Zweikämpfe, 2:9 Torschüsse), konnte man nicht von einer besonderen Überlegenheit sprechen – der Abstiegskandidat hielt gegen den deutschen Meister sehr gut dagegen. Daran konnte auch der letzte Angriff der ersten Halbzeit nichts mehr ändern, bei dem sich der sehr agile Picsczek bei einem Zusammenprall mit Thomas Kraft verletzte.
Auf den Toiletten wurde es in der Halbzeit nun richtig eng, zum Unmut der Berliner Fans tummelte sich dort viel schwarzgelber Anhang – immerhin eine Gelegenheit zum Palaver und kleinen Sticheleien, dass ein Unentschieden zwar toll wäre, aber eben auch viel zu wenig: Die Borussen sollten sich besser schon mal mit dem Ende ihrer Siegesserie anfreunden und auf ein gestochertes 1:0 einstellen. Ähnlich selbstbewusst waren die Berliner Spieler, die geschlagene fünf Minuten (!) vor dem BVB auf den Platz zurückkehrten.
Tatsächlich sah das Spiel nun anders aus: Hertha viel aktiver, drängte von Beginn an auf den Führungstreffer. Ein Missverständnis in der Dortmunder Offensive, zwei schaurige Zweikämpfe von Mats Hummels, schon stand Patrick Ebert einschussbereit schräg vor Weidenfeller – der Schuss strich um Haaresbreite am linken Pfosten vorbei, nochmal Glück gehabt! Im Gegenzug kam auch Borussia zum Torschuss: Lewandowski auf rechts zog aus der Drehung ab in Richtung Mitte, der Ball strich jedoch zwischen dem lauernden Barrios und dem Berliner Kasten ins Toraus. Auch auf den Tribünen hatte sich das Bild nun geändert: Die 18.000 Dortmunder sangen durch, während sich Hertha eine kreative Auszeit gönnte – spiegelbildlich zur ersten Halbzeit setzten nun die Berliner auf gelegentliche Lautstärke und die Gäste auf Dauergesang.
In der 53. Minute fast eine Kopie von Eberts Riesenchance: Adrian Ramos und Raffael im Zusammenspiel, schön Ablage auf Ebert, der nächste Hammer aus etwa 28 Metern halbrechts – Weidenfeller konnte den Ball gerade noch so um den Pfosten lenken, doch nur ein bisschen mehr Ballkontakt hätte wohl schon gereicht, um die Parade zur direkten Vorlage für den herein grätschenden Ramos werden zu lassen. Doch Ramos rutschte an Ball und Gegenspieler vorbei, es blieb weiter beim 0:0 – eine tolle Parade und anschließend richtig Glück gehabt.
Fünf Minuten später, Hertha drückte nun wirklich, hatte Hummels einen Lichtblick im bislang sehr mäßigen Defensivverhalten – Sebastian Kehl hatte das Nachsehen gegenüber dem weitaus schnelleren Raffael, doch Hummels stand rechtzeitig parat und konnte Schlimmeres verhindern. Der Gästeanhang zeigte sich nun deutlich zurückhaltender – ein Wechselgesang zwischen den Blöcken sollte Borussia nochmals motivieren, doch die Heimkurve übertönte den Gesang mit relativer Leichtigkeit. Überhaupt war das eine interessante Erfahrung, zwei so stimmgewaltige Lager gegenüber zu haben, die sich durchaus ihre Pausen gönnten, um dann mit richtigem Wumms ins Spiel zurück zu kommen.
Apropos Wumms: Der BVB mit einem Entlastungsangriff, der in der 66. Minute das wichtige 0:1 hervor brachte! Nachdem Kraft einen guten Kopfball Lewandowskis an die Unterkante der Latte gelenkt hatte, stand Großkreutz goldrichtig: Mit der Leichtigkeit eines begnadeten Technikers setzte er zum Fallrückzieher an und versenkte die Kugel hinter Kraft im Tor, als ob es nie etwas Einfacheres gegeben hätte. Ein Wahnsinnstor mitten in die stärkste Phase der Hausherren, der die Fans auf beiden Seiten noch einmal anstachelte. Schließlich war die Führung zwar nicht unverdient, aber dennoch sehr glücklich. Der Torschütze indes wurde nun richtig gefeiert: Die 18.000 gelangten zum ersten Mal an die Obergrenze ihres Potenzials. Dortmunder Jungs! Wieder einmal Gänsehaut. Wenn die 74.244 Zuschauer schon ein eher wenig attraktives Spiel zu sehen bekamen, hatte sich der Besuch alleine für diesen Treffer und die Fans auf den Tribünen gelohnt.
Doch mit dem Treffer kam auch wieder Pfeffer in die Partie. Hertha gab sich nicht auf, die Schwatzgelben wackelten. In der 75. Minute stand Raffael mitten im Strafraum, Hummels war zu weit entfernt und Neven Subotic indisponiert – wie es Subotic dennoch schaffte, seine Hacke vor den Ball zu bekommen, ist zumindest mir ein Rätsel. Der Abpraller verfing sich zwischen Raffaels Beinen und sprang kurz später ins Aus. Klasse Aktion von Neven, der für den krankheitsbedingt schwachen Hummels mitarbeitete und eine gute Partie spielte.
Nach vorne hatte nun der für Picsczek gekommene Patrick Owomoyela eine Glanzszene: Eine Balleroberung kurz vor dem eigenen Strafraum, mit toller Übersicht einen 50-Meterpass durch die Lücke auf Sebastian Kehl. Kurzer Doppelpass mit dem ebenfalls neuen Moritz Leitner, doch dann zu ungenau auf Lewandowski – hier wäre mehr drin gewesen. Das galt nun auch für die Zuschauer, die sich bis zum Spielende abgemeldet hatten. In beiden Kurven sangen und trommeln eine überschaubare Zahl Fans, richtig überspringen wollte der Funke aber nicht mehr.
Vielleicht war das für Jürgen Klopp auch besser. Nach einem klaren Foul an Kuba, das der Schiedsrichterassistent zwei Meter jedoch nicht gesehen haben wollte, war der Chef-Pöhler und Wochenendheißsporn schon so auf 180. Ein Werbeaufsteller hatte unter dem Wutanfall zu leiden, Schiedsrichter Marco Fritz reagierte mit der fälligen Ermahnung und knüpfte Klopps Verbleib wohl an die Bedingung, die Werbetafel wieder aufzurichten. Nach einer Entschuldigung und einem kurzen Gedankenaustausch ging das Spiel nun in seine Schlussphase, die insgesamt von strittigen Entscheidungen geprägt war, aber am Ausgang des Spiels nichts mehr ändern sollte. Es blieb beim 0:1, das dank viel Kampfgeist und Einsatzbereitschaft wohl auch in Ordnung geht – schade ist es für die Berliner, die super gespielt haben und sicher mehr als eine Niederlage verdient gehabt hätten. Mit diesen Fans und einer solchen Einstellung auf dem Platz, dürfte der Abstiegskampf auch weiterhin kein Thema mehr werden.
Statistik
Ottos baldige Mannen: Kraft - Janker, Mijatovic, Hubnik, Bastians - Niemeyer, Kobiashvili - Ebert, Raffael, Rukavytsya - Ramos
Wechsel: Lasogga für Rukavytsya (63.), Ronny für Bastians (75.)
Kloppos Traum: Weidenfeller - Piszczek, Subotic, Hummels, Schmelzer - Bender, Kehl - Blaszczykowski, Lewandowski, Großkreutz - Barrios
Wechsel: Owomoyela für Piszczek (46.), Leitner für Barrios (77.), Santana für Hummels (79.)
Tor: Großkreutz per Fallrückzieher nach Torschuss Lewandowski (66.)
Noten
Roman Weidenfeller: Wichtiger Rückhalt, klasse Paraden, gutes Spiel. Note 2.
Lukasz Piszczek: In der ersten Halbzeit sehr quirlig und mit guten Szenen im Offensivspiel, musste zur Pause leider raus. Note 2,5.
Neven Subotic: Musste für den kranken Hummels die Eisen aus dem Feuer holen - das machte er richtig gut, der Extrafleiß wird mit Note 1,5 belohnt.
Mats Hummels: Nach vorne mit ein paar guten Szenen, hinten eine katastrophale Ansammlung katastrophaler Fehler. Für den großen Kampfgeist bei Fieber gibt es eine 2, für das Defensive eine 6 - ergibt am Ende Note 4.
Marcel Schmelzer: Er hatte schon bessere Spiele in dieser Saison, Note 3.
Sven Bender: Ebenfalls nicht mit dem besten aller Tage, dennoch eine der Stützen des Spiels. Note 3.
Sebastian Kehl: Einzelne Unsicherheiten, ordentlich aber nicht überragend - Note 3.
Kuba: Einer der besten Borussen in Berlin, im Zusammenspiel mit Picsczek gute Szenen. Note 2.
Robert Lewandowski: Rieb sich im vielen Klein-Klein auf, verteilte brav die Bälle und konnte dabei selbst kaum glänzen. Trotzdem fast ein Torerfolg, Vorlage zu Großkreutz Treffer. Note 3.
Lucas Barrios: Kein Glück im Abschluss, aber stark formverbessert und mit Leidenschaft dabei. Note 2,5.
Kevin Großkreutz: Gute Zweikämpfe, ackerte und biss sich ins schwere Spiel hinein. Mit seinem spielentscheidenden Megator kommt er am Ende auf die Note 1,5.
Patrick Owomoyela: Der selbsterklärte "Depp von Düsseldorf" hatte viel Prügel einstecken müssen, zeigte seine Qualitäten diesmal in positiver Richtung - solide im Spiel nach hinten, toller Pass auf Kehl, ergibt Note 2,5.
Moritz Leitner und Felipe Santana: Keine Note.
Bilder zum Spiel findet ihr hier.
ssc, 19.02.2012