Den Spieß umgedreht
Am Ende steht er lächelnd in der Mixed-Zone und beantwortet geduldig alle Reporterfragen. Lukasz Piszczek, von den Medienvertretern zum Hauptdarsteller der Partie ausgewählt, durchlebte in den zu diesem Zeitpunkt gerade vergangenen 90 Minuten ein wahres Wechselbad der Gefühle. Und steht damit sinnbildlich für ein ganzes Team, das den Spieß umgedreht und nach der bitteren Niederlage in Hannover selbst in letzter Sekunde drei Punkte ergattert hat.
So erklärt der 26-jährige Rechtsverteidiger, umgeben von Kameras und Mikrofonen, schließlich, wie er die Partie gesehen hat: "Wir haben gut begonnen, sind aber wegen dem Fehler von mir in Rückstand geraten. Ich wollte den Ball zu Neven zurückspielen. Dann mache ich in letzter Minute den Ausgleich, so ist Fußball. Besonders freut mich, dass ich mein erstes Tor für den BVB geschossen habe."
Bis zu diesem Erfolgserlebnis, das ihn in den Mittelpunkt der Berichterstattung rückt, ist es für den Polen, der in den vergangenen Tagen und Wochen aufgrund der Verhandlungen um den Manipulationsskandal in seiner Heimat ohnehin eine turbulente Zeit hinter sich hat, viel Arbeit in einer rasanten Partie.
Erfolgloser Einbahnstraßenfußball in Halbzeit eins
In der Anfangsphase feuern die insgesamt 34.000 Heim- und Gästefans in der sogenannten Coface Arena - die von außen eklatant an ein Kaufhaus erinnert - ihre Mannschaften lautstark und sangesfreudig an. Während die Mainzer auf den Tribünen jedoch sehr spielbezogen reagieren, ertönt aus dem Gästeblock für lange Zeit vor allem eine Art Dauersingsang, dessen Lautstärke nur selten an die der Mainzer Fans heranreicht. Beachtenswert beim Gastgeber: Immer wieder erheben sich sogar die Zuschauer auf der Haupttribüne, nachdem sie dazu aufgefordert werden. Das klappt besser als in Dortmund, vielleicht auch, weil das Mainzer Sitzplatzpublikum einen so großen Spaß mit den Klatschpappen hat. Was bereits vor Anpfiff aber negativ auffällt: Die Stadion-Lautsprecher sind (vielleicht vom Hausmeister?) viel zu laut eingestellt, so dass sich vor allem aus dem Vorprogramm Potential für einen neuen Beschallungsskandal ergibt. Viele erwarten sehnsüchtig den Anpfiff, einfach damit das Geplärre aus den Boxen endlich ein Ende hat.
Zum Geschehen auf dem Platz: Bis zu Piszczeks kapitalem Bock in der 33. Spielminute zeigen er und der BVB, der im Vergleich zum letzten Spiel mit Löwe, Kehl und Götze für Schmelzer, Bender und Kuba startet, ein durchaus ansehnliches Spiel. Mit einer schönen Choregraphie aus schwarzen und gelben Fahnen und einem Plakat mit der Aufschrift "Heja BVB" von seinen Fans empfangen, dominiert das "Team Klopp" das Spielgeschehen. Die Schwarz-Gelben verbuchen ein deutliches Chancenplus, doch Mainz-Schlussmann Müller entschärft die beiden Kopfbälle von Lewandowski und Kehl in der zehnten Minute und pariert auch den Schuss von Kagawa stark (22.). Mainz sucht sein Glück alleine in der Defensive und enttäuscht somit sicher einige Fans - zumindest diejenigen, die sich für ein Transparent mit folgendem Inhalt verantwortlich zeigen: "Gruppenphase verschenkt - Im Derby versagt - Wie sollen wir diese Saison ertragen?" Gestiegene Erwartungshaltung nennt man das wohl, und das dürfte dem ein oder anderen BVB-Fan vielleicht bekannt vorkommen.
Mit der überraschenden Führung ist das Spiel plötzlich auf den Kopf gestellt, der BVB macht zwar unbeeindruckt weiter, vergibt aber ebenso unbeeindruckt weitere gute Chancen. Vor allem Lewandowski avanciert für viele zum Chancentod, alleine vor dem Mainzer Tor muss er fast zwingend treffen, doch Müller pariert wieder (42.).
Mit dem unglücklichen Rückstand muss der BVB auch in die 2. Halbzeit. Barrios hat sich zur Pause zwar trickreich (vierfacher Hackentrick und zahlreiche Übersteiger) warm gemacht, doch 45 Minuten sind wohl noch zu viel für den Angreifer. Die BVB-Fans sind noch etwas leiser geworden, auch weil viele sicher mit der Mannschaft und dem Schicksal hadern. Sollte ein dreifacher Punktgewinn tatsächlich wieder an der kläglichen Chancenverwertung scheitern?
Zweite Hälfte: Erlösung nach spannendem Auf und Ab
Die zweite Hälfte verläuft ähnlich wie die erste. Wieder ist es nur der BVB, der unbedingt ein Tor erzielen will. Wieder scheitern Perisic (50.), Kagawa (55.) und Götze (57.), bis Jürgen Klopp endlich zum Jubellauf ansetzen kann. Piszczeks Flanke verlängert Lewandowski glücklich auf Perisic, der sich technisch gut behauptet und unhaltbar abschließt (64.). Der Ausgleich!
Dortmund will mehr, doch auch die nun wieder lautstarken rund 4.000 mitgereisten BVB-Anhänger sehen, dass Mainz zu dem ein oder anderen gefährlichen Konter ansetzt. Und dabei immer wieder von seinen eigenen Fans angetrieben wird. Spielbestimmend bleibt aber der BVB, der nur bei der Möglichkeit des eingewechselten Ivanschitz kurz die Luft anhalten muss. Immer wieder von Kehl und Götze angekurbelt, drückt Dortmund, hat aber Probleme mit der Passgenauigkeit im letzten Drittel des Spielfeldes. Klopp reagiert: Mittlerweile befinden sich Barrios, der mit lauten "Lucas, Lucas"-Sprechchören herzlich vom Gästeblock empfangen wird, sowie Moritz Leitner auf dem Feld. Für den Neuzugang mit der Nummer sieben ist es das Bundesligadebüt und wie schon in der Vorbereitung deutet der U-Nationalspieler sein Können mehrmals an. Auch Barrios agiert ordentlich, bleibt aber ungefährlich. Ein anderer schießt sich schließlich fast pünktlich mit dem Schlusspfiff in den Mittelpunkt.
Mit dem 22. Torschuss des BVB trifft Piszczek aus 25 Metern mitten ins Mainzer Herz. Der Gästeblock tobt, es ist stimmungstechnisch natürlich die stärkste Phase der Mitgereisten aus Dortmund. Und der Schlusspunkt, denn kurz darauf pfeift Michael Weiner die Partie ab. Doch auch von den Anhängern des FSV kommen keine Pfiffe, die Mannschaft erhält Applaus - ob unter den Beifall klatschenden Fans auch die Initiatoren des Spruchbandes sind?
Die Fakten
Borussia Dortmund: Weidenfeller - Piszczek, Subotic, Hummels, Löwe - Gündogan (86. Kuba), Kehl - Götze, Kagawa (70. Leitner), Perisic - Lewandowski (75. Barrios)
Mainz 05: H. Müller - Pospech, Bungert, Noveski, Fathi - Polanski, Baumgartlinger, Soto (88. Caligiuri) - Risse, N. Müller (74. Ivanschitz) - Choupo-Moting (43. Ujah)
Tore: 1:0 N. Müller (33.), 1:1 Perisic (64.), 1:2 Piszczek (90.)
Schiedsrichter: Michael Weiner - Note 3, in den entscheidenden Situationen lag er eigentlich richtig, hätte aber auch zwei Mal Elfmeter für den BVB pfeifen können (Foul Bungert an Lewandowski und Handspiel Bungert).
Gelbe Karte: Pospech
Zuschauer: 34.000 (ausverkauft)
Stimmen zum Spiel
Hummels: "Es wäre unverdient gewesen, wenn wir keine drei Punkte mitgenommen hätten. Wir waren klar die bessere Mannschaft und haben in der 2. Halbzeit noch einmal einen draufgepackt, um zu zeigen: Wir können es immer noch. Wir freuen uns natürlich auch für Piszczek, weil er ein super Typ ist und damit diese Geschichte vor dem 0:1 komplett vergessen ist. Das ist doof gelaufen, aber im Endeffekt hat Lukasz alles richtig gemacht."
Götze: "Wir haben uns viel vorgenommen für heute und ich denke, wir können zufrieden sein."
Die Noten
Weidenfeller: Kaum geprüft, in den wenigen Situationen sicher. Starke Parade gegen Ivanschitz, beim Gegentor ohne Schuld. Note 2,5
Löwe: Häufig am Ball, aber manchmal ineffektiv. Nach hinten mit Licht und Schatten, ließ doch einige Flanken zu. Note 3,5
Subotic: Meist sicher, beim Gegentor unglücklich, aber vor allem von Piszczek in Bedrängnis gebracht. Note 3
Hummels: Ähnlich wie Subotic, verlor beim Gegentor auch kurz die Orientierung. Tat viel für den Spielaufbau, wenn auch nicht immer präzise. Note 3
Piszczek: Licht und Schatten. Sündenbock vor dem Gegentor, ein, zwei weitere Unsicherheiten in der Defensive kamen dazu. Offensiv aber ordentlich und mit seinem ersten Tor für den BVB in letzter Minute. Note 3,5
Gündogan: Viele Ballverluste, einige gute Pässe. Sucht noch seine Topform. Note 4
Kehl: Sehr kämpferisch, im Spielaufbau bemüht. Note 2,5
Perisic: Nicht sonderlich auffällig bis zu seinem Tor. Danach besser, auch am zweiten Treffer beteiligt. Noch nicht perfekt auf seine Mannschaftskameraden abgestimmt. Note 3
Kagawa: Drei gute Schüsse, die Schlussmann Heinz Müller allerdings alle gut parierte. Sonst häufiger am Gegner hängengeblieben. Mit entschuldigenden Blicken kommentierten die japanischen Reporterkollegen einen falschen Einwurf Kagawas. Note 3
Götze: Sehr agil, ihm gelang aber auch nicht alles. Wechselte oft auf links oder in die Mitte und setzte seine Mitspieler häufig gut in Szene. Note 2
Lewandowski: Unglücklich bis schwach im Abschluss, aber auch mit einer (ungewollten?) Torvorlage. Auch zwei bis drei weitere gute Aktionen. Note 3,5
Barrios, Leitner und Kuba waren zu kurz in der Partie.
Daniel R., 25.09.2011