Große Klappe, viel dahinter
Es ist schwierig, über Kevin Großkreutz zu schreiben, ohne längst Bekanntes oder gar Unmengen an Klischees wiederzukäuen: Der heimatverbundene Dortmunder Jung aus dem wenig glamourösen Stadtteil Eving, der sich und seinen Eltern nun genau dort ein Haus gekauft hat, der noch bis vor kurzem selbst auf der Tribüne stand und der Gelsenkirchener Vereine - vorsichtig umschrieben - nicht ganz so knorke findet. Und - achja - der natürlich immer für einen flotten Spruch zu haben ist und dem damit nicht unbedingt bei allen deutschen Fußballfans dieselbe Sympathie entgegenschlägt, wie das in Dortmund der Fall ist. Irgendwie hat man das alles schon gelesen und Kevin Großkreutz' Geschichte ist mehr oder weniger Teil des Allgemeinwissens geworden. Oder?
Mitnichten. Denn was bei den vielen markigen Sprüchen und der heimeligen Dortmunder-Jung-Berichterstattung oftmals zu kurz kommt, sind Kevin Großkreutz‘ sportliche Leistungen: 43 Pflichtspiele, neun Tore und sieben Vorlagen haben Kevin nicht nur zum unumstrittenen Stammspieler und Leistungsträger der Meistermannschaft, sondern auch zum inzwischen dreifachen Nationalspieler werden lassen.
Denn fernab von Heimatverbundenheit und kesser Lippe hat die Dortmunder Nummer 19 auch fußballerisch eine Menge zu bieten: Läuferisch ohnehin, in diesem Punkt kommt Kevin Großkreutz den Vorstellungen seines Trainers wahrscheinlich so nahe wie kaum ein zweiter Spieler im Borussenkader.
Denn selbst wenn es im Spiel einmal nicht läuft, was glücklicherweise in der abgelaufenen Spielzeit eher selten der Fall war, kann man sich auf die Laufstärke und den Kampfeswillen von Kevin Großkreutz doch immer noch am ehesten verlassen.
Doch Kevin ist eben mehr als die Fleischwerdung der klischeehaften Ruhrgebiets-Tugenden, von denen uns Fans nachgesagt wird, dass wir uns schon mit diesen begnügen würden.
Vielmehr hat Kevin Großkreutz in dieser Saison Spiel für Spiel unter Beweis gestellt, dass er auch spielerisch voll mithalten kann mit seinen Mannschaftskollegen. Unvergessen das toll herausgespielte 1:0 bei St. Pauli, das Kevin per Kopf vollstreckte. Unvergessen die zwei ebenso abgeklärten wie wichtigen Treffer in Leverkusen. Unvergessen aber vor allem die geniale Ablage mit der Hacke beim 2:0-Sieg gegen den HSV – für mich DIE Szene und DAS Tor der gesamten Spielzeit, weil in diesem Spielzug das gesamte blinde Spielverständnis dieser gesamten Mannschaft perfekt abgebildet wurde.
Kevin Großkreutz ist überhaupt für mich so etwas wie der Inbegriff des neuen BVB. Nicht nur, dass die Nummer 19 jedes Spiel aufs Neue unermüdlich rackert und den Platz entlang wetzt, als gäbe es erstens kein Morgen und zweitens keine Lunge, die irgendwann den Dienst quittiert. Nein, vor allem ist Kevin Großkreutz auch charakterlich der Prototyp der 2011er-Meistermannschaft und ihrer gelebten Fannähe.
Gar keine Frage: Die Meistermannschaften von 1995, 1996 und 2002 (um nur mal die nähere Vergangenheit zu benennen) haben alle ihren festen Platz im Borussenherz, und man denkt auch heute noch gern an die Cesars, Reuters, Kohlers und Sammers zurück. Die Art und Weise aber, wie die heutige Borussenmannschaft den Kontakt zu ihrem Anhang sucht und direkt die Möglichkeit sucht, mit uns Fans zu feiern, ist definitiv beispiellos. Der Kontakt zwischen Profi und Anhang beschränkte sich bis vor Kurzem für lange Zeit doch sehr auf Pflichttermine und eine Handvoll Autogramme.
Anders die Generation Großkreutz. Autogramme werden seit Amtsantritt von Jürgen Klopp ohnehin so lange geschrieben, bis auch der letzte bedient ist, nicht bis der Profi keine Lust mehr hat. Doch merkt man den Jungs eben auch gar nicht an, dass dieser Fankontakt widerwillig geschehen könnte – im Gegenteil. Die Feierlichkeiten nach dem Derby, das Anstimmen von Fangesängen oder auch Neven Subotics legendäre Spontanfeier auf der Lindemannstraße – wann hat es so etwas früher gegeben? Und kann sich wirklich – bei allen Verdiensten – jemand Jürgen Kohler mit nacktem Oberkörper auf der eigenen Motorhaube vorstellen?
Für diese neu gewachsene Verbindung zwischen Team und Anhängern steht Kevin Großkreutz stellvertretend als das große Bindeglied und die Projektionsfläche vieler Fans. Denn eines ist festzuhalten, auch wenn wir damit am Ende doch noch ein wenig ins Klischeebeladene abrutschen: Kevin Großkreutz lebt mit seiner Karriere den Traum unglaublich vieler Jungs, die in Dortmund aufgewachsen sind oder gerade erst aufwachsen. Einmal von der Tribüne auf den Rasen wechseln und für die Borussia auflaufen? Wer hätte sich das nicht gewünscht?