Voll in die Eier
Da sitzt man stundenlang in der Gegend rum und überlegt sich, was man zu so einem Spiel schreiben soll. Projekt 81 auf kommende Saison vertagt, Grottenkick im Stimmungstief, man hätte es ja ahnen können – eigentlich passte alles, aber eigentlich auch wieder nichts. Es blieb nur ein Fazit: Ein Tag mitten ins Gemächt.
Der Spieltag hatte für Borussia unter keinem besonders guten Stern gestanden. Die Fanszene trauerte um ihren Freund Lars, der wenige Tage zuvor bei einem schweren Verkehrsunfall ums Leben gekommen war – eine schlichte Papptafelchoreo zu seinem Gedenken weckte Emotionen, auf die man am liebsten eine sehr lange Zeit wieder verzichten möchte. In der Mannschaft trieb die Personalnot ihr Unwesen, zwang nach Sven Benders verletzungsbedingten Ausfall auch Kuba und Felipe Santana zu einem Einsatz unter Schmerzen. Und zu allem Überfluss sorgte ein Ausfall der Bahn für erhebliche Probleme, so dass ein großer Teil des schwatzgelben Trosses erst einige Minuten nach Spielbeginn das Stadion erreichen konnte. Immerhin konnte man sich bei diesem – mit Abstand kleinsten – Problem auf die Hilfsbereitschaft des VfB Stuttgart verlassen, der kurzfristig mit einer Ersatzkarte aushalf und damit den ersten Teil dieses Spielberichts rettete. Vielen Dank.
Beim BVB rückte Innenverteidiger Santana für Bender in die Startformation, Mats Hummels musste Verantwortung und mit ihr den ungewohnten Part im defensiven Mittelfeld übernehmen. Der VfB Stuttgart konnte in seiner WM-Formation auflaufen, musste jedoch auf Thomas Hitzlsperger verzichten, den es unter der Woche nach Rom verschlagen hatte. Ins Schiedsrichter-Casting wurde Peter Gagelmann entsandt, der das Publikum heute mit humoristischen Einlagen beglücken wollte.
Nach zögerlichem Abtasten hatten die Schwaben besser ins Spiel gefunden als Borussia – sie wirkten spritziger, bissiger und (über weite Strecken der ersten Halbzeit) motivierter. Insbesondere der jungen Dortmunder Defensive war die ungewohnte Personalrochade anzumerken – die Zuordnungen stimmten hinten und vorne nicht, immer wieder standen sich die schwatzgelben Ballkünstler gegenseitig im Weg. In Verbindung mit dem nicht für seine Antrittsschnelligkeit bekannten Patrick Owomoyela und dem geschwächten Santana ergab sich ein Bild, das einfach nicht gefallen wollte.
Die Hausherren wussten um die Verwundbarkeit ihres Gegners und stießen immer wieder gefährliche Konter in die gerissenen Lücken. In der 13. Minute hätte einer dieser Konter das 1:0 bedeuten können, wenn nicht Marc Ziegler den entscheidenden Schritt vor Timo Gebhart gewesen wäre. Doch während man bei Borussia noch erleichtert durchatmete, rollte bereits der nächste Stuttgarter Angriff: Owomoyela wurde im eigenen Strafraum überspielt wie ein Elfjähriger, Zieglers Rettungstat verpuffte und irgendwie sprang der Ball einen Meter vor dem Tor noch einmal auf Hüfthöhe. Pavel Pogrebnyak war zur Stelle und boxte den Ball für jedermann sichtbar ins Tor. Der Führungstreffer war gefallen und unweigerlich richtete sich der Blick auf die Assis: Hatte Thomas MÜNCH aus HAUSEN nach Tifferts Phantomtor schon wieder den Weg an die Linie gefunden?
Es dauerte eine halbe Stunde und gefühlte 70 Wiederholungen, bis sich die Situation zumindest etwas aufgelöst hatte. Pogrebnyaks Hand war zwar immer noch dort zu finden, wo sie eigentlich nichts verloren hatte, doch war es Santana, der sich – der geneigte Leser ahnt es schon – mit Hilfe seiner Körpermitte besonders schön in die Spielstatistik eingetragen hatte. Und ja, in der Zeitlupe sah es dann auch irgendwie liebevoll aus.
Zwischenzeitlich hatte Borussia ein wenig ins Spiel gefunden. Die drückende Überlegenheit des VfB hatte sich in eine optische Überlegenheit gewandelt, die keine zwingenden Chancen mehr entstehen ließ. Im Spiel nach vorne hatte Owomoyela in der 23. Minute eine erste gute Chance nach Freistoß Nuri Sahins, die Latte hing für seinen wuchtigen Kopfball jedoch wenige Zentimeter zu tief. Ebenfalls wenig Glück hatte Nelson Valdez zwei Minuten später, als ein Distanzschuss knapp am linken Pfosten vorbeistrich. An dieser Stelle war das Spiel für Kuba bereits beendet. Seine vor dem Spiel erlittene Adduktorenverletzung hatte sich verschlimmert, so dass Damien Le Tallec an seiner Stelle in die Mannschaft rutschte.
Auf den Rängen war bis zu diesem Zeitpunkt so gut wie gar nichts los. Die Heimkurve enttäuschte auf ganzer Linie, da bis auf nerviges Geschepper der Soundanlage und fünf Fähnchen im Dauerschwenk so ziemlich gar nichts von ihr zu bemerken war – jammerschade, wie sich diese einst lebhafte Kurve in den vergangenen Jahren entwickelte. Ebenfalls nicht mit Ruhm bekleckern konnte sich der Gästeanhang. Im Gegensatz zum VfB war er zwar (mit etwas Phantasie) im weiten Rund auszumachen, die Messlatte vergangener Spieltage lag jedoch in unerreichbarer Höhe.
Wie unzufrieden Jürgen Klopp mit der Gesamtsituation war, konnte man ihm unschwer ansehen. Wild gestikulierend (verärgert), aufspringend (richtig verärgert) und still sitzend (schwer genervt) nahm er das Phlegma seiner Mannschaft zur Kenntnis, trieb sie ein ums andere mal ins Spiel nach vorne. Hummels hatte Klopps Signale erkannt und bemühte sich in der Folgezeit redlich, im Zusammenspiel mit Nuri Sahin Offensivdruck aufzubauen. Die Hintermannschaft der Rot-Weißen geriet dabei schnell ins Schwimmen, doch Zählbares wollte vor der Pause nicht mehr herausspringen. Die Gastgeber blieben ihrerseits über schnelle Konter gefährlich, doch Ciprian Maricas schlechter Versuch des erneuten Handspiels wurde zu Recht mit dem gelben Karton bestraft.
Doch damit nicht genug des sonntäglichen Handballsports. Nachdem Neven Subotic und Marcel Schmelzer so richtig schön nass gemacht worden waren, kam es im Dortmunder Strafraum zum Duell Santana gegen Timo Gebhart – Gagelmann verpasste dem Schwaben mit Gelb die gerechte Strafe für das Handspiel, das eigentlich Santana begangen hatte. Schon lange war ein Pausenpfiff nicht mehr so praktisch gewesen…
Während sich Kalle Riedle in den Engen des Presseraums umhertrieb und die Lust auf eine Europapokalteilnahme spontan in absurde Höhen katapultierte, musste sich unsere Mannschaft eine Standpauke der unschönen Art gefallen lassen. „Ich habe meinen Spielern klar gemacht, dass ich mit der ersten Halbzeit überhaupt nicht zufrieden war. Es sah so aus, als wären wir bei fast jedem Ball einen Schritt zu spät gekommen und hätten nicht genug in das Spiel investiert. Dabei war mir auch wieder eingefallen, wie wenig ich Niederlagen leiden kann – vor allem gegen Mannschaften, gegen die auch was zu holen ist“, erklärte Klopp später.
Diese Worte mussten dem ein oder anderen ziemlich laut im Ohr geklungen haben, denn Borussia spielte in Hälfte zwei wie ausgewechselt. Plötzlich stand eine Mannschaft auf dem Platz, die sich nicht wie eine Horde Pennäler an der Nase herumführen ließ und willens war, dieses Spiel noch einmal zu drehen. Dass sich die Spieler nicht sofort an die glorreiche Fortsetzung des Unternehmens 81 begeben konnten, war einer kurzen Spielunterbrechung geschuldet. Im Gästeblock hatten einige Fans mit Unmengen Pyrotechnik herum hantiert, ordentlich „südländische Atmosphäre“ (Hallo, DSF!) in die Bude gezaubert und zugleich den Beweis geliefert, dass Spielzeuge dieser Art nichts in vollen Blöcken zu suchen haben. Ob es sich nun gelohnt hat, für zwei Minuten Spaß die kommenden Monate (und damit eine mögliche Europapokalsaison) vor dem Fernseher zu verbringen? Da kann sich jeder seine eigenen Gedanken machen.
Seine Rechenkünste beweisen durfte zu Beginn der zweiten Halbzeit Owomoyela, der wie schon beim 1:0 keine besonders glückliche Figur abgab. „Wenn ich reingehe, stehen die Chancen 50-50, dass ich ihn erwische. Wenn ich nicht reingehe, stehen die Chancen 50-50, dass er alleine vor dem Tor steht“ – die Definition eines Elfmeters wurde glücklicherweise von Marica an die Unterkante der Latte gesetzt, der BVB nahm jetzt so richtig Fahrt auf.
Schmelzers schöne Flanke in der 52. Minute wurde von Sahin auf Barrios durchgelassen, doch Jens „Ich sehe aus wie ein Teletubby" Lehmann war aus seinem Kasten geeilt und hatte den Ball gesichert. Nur eine Minute später gab es richtig großen Ärger: Der VfB reklamierte ein Foul im Mittelfeld und stellte das Spiel ein, Gagelmann ließ eben jenes aber unbeirrt weiterlaufen. Ein schöner Pass auf Kevin Großkreutz ließ die Schwaben nun völlig durchdrehen, da auch der Abseitspfiff ausblieb (zu Recht, übrigens). Großkreutz stand plötzlich alleine vor Lehmann, der bereits 16 Meter aus seinem Tor herausgekommen war – ein kluger Pass auf den mitgelaufenen Barrios wurde von diesem zum mittlerweile verdienten 1:1 genutzt. Dass ein Stuttgarter dieses mit einem Handspiel auf der Linie verhindern wollte, passte abermals ins Gesamtbild des heutigen Tages.
Die Stuttgarter waren naturgemäß überhaupt nicht zufrieden mit Gagelmanns Entscheidungen, die Haupttribüne (!) witterte einen Wetteinsatz der Sapinabrüder. Dabei hatte Borussia nur endlich einmal ihre Stärken der letzten Monate offenbart: der wie befreit aufspielende Großkreutz (beste Rückrundenleistung) trieb mit Schmelzer, Sahin und Hummels immer wieder den Ball nach vorne, wenngleich die sehenswerten Angriffe leider nichts Zählbares hervorbrachten.
Mitten in die Spielphase hinein, als der Auswärtssieg in greifbare Nähe gerückt zu sein schien, kam der Nackenschlag: Schmelzer hatte seinen Gegenspieler an der Strafraumgrenze umgerannt, der fällige Freistoß wurde vom kurz zuvor eingewechselten Zdravko Kuzmanovic ins rechte untere Eck gesetzt. Borussia ließ sich davon nicht entmutigen, spielte weiter nach vorne. Einer Riesenchance zum 3:1 für den VfB – ein katastrophaler Ballverlust Santanas hatte einen schwäbischen Konter eröffnet, der jedoch nichts einbrachte – folgte postwendend ein satter Schuss Valdez, den Lehmann abermals abfangen konnte.
Ein Doppelwechsel sollte beim BVB nun die Rettung bringen: Mario Götze kam für den unglücklichen Valdez und Tamas Hajnal für den noch unglücklicheren Santana, doch ihre erste Minute auf dem Platz bedeutete auch gleich das Ende aller Träume: Sahin und Schmelzer liefen unkoordiniert ineinander, Marica bedankte sich und besoorgte das glückliche 3:1. Christian Träsch erhöhte wenig später auf das viel zu hohe 4:1, das von der Heimkurve erstmals hörbar mit „Ihr könnt nach Hause fahrn“ bedacht wurde. Wer fühlte sich in diesen Minuten nicht an Auswärtsspiele in München erinnert?
Statistik
Verein für Handsportarten: Lehmann – Celozzi, Tasci, Niedermeier, Molinaro – Träsch, Khedira – Gebhart, Hleb – Marica, Pogrebnyak
Wechsel: Hilbert für Hleb (59.), Kuzmanovic für Gebhart (65.)
Unglückliche Kämpfer: Ziegler – Owomoyela, Subotic, Santana, Schmelzer – Hummels, Sahin – Kuba, Valdez, Großkreutz – Barrios
Wechsel: Le Tallec für Kuba (22.), Götze für Valdez (85.), Hajnal für Santana (85.).
Tore: 1:0 Santana (Eiertor 15.), 1:1 Barrios (55.), 2:1 Kuzmanovic (77.), 3:1 Marica (86.), 4:1 Träsch (90.)
Stimmen zum Spiel
Mats Hummels: „Wir haben heute unglücklich gespielt. Die erste Halbzeit war wirklich nicht gut, wir waren so gut wie immer einen Schritt zu langsam. In der zweiten Hälfte hätten wir eine ganze Menge reparieren können. Die Stuttgarter hatten nach dem Ausgleich kaum noch was vom Spiel, kamen dann zu einem blöden Zeitpunkt zum Führungstreffer. Insgesamt haben wir die Niederlage sicher verdient, wenngleich das 3:1 oder 4:1 zu hoch war. Besonders ärgerlich ist es da natürlich, dass sie für ihre vier Tore nicht besonders viele Chancen hatten, was uns im Nachhinein etwas blöd aussehen lässt. Andererseits wären die Punkte bei einem 2:1 auch weg gewesen, also können wir das getrost vergessen.“
Jürgen Klopp: „Mich ärgert die Höhe der Niederlage überhaupt nicht. Das Ergebnis ist nach diesem Spielverlauf zu hoch ausgefallen, aber ich möchte meiner Mannschaft keinen Vorwurf machen. Sie hat ihr möglichstes getan, nur in der ersten Halbzeit zu langsam auf mich gewirkt. Ich habe das in der Halbzeit entsprechend erklärt und den Jungs Mut gemacht, dass man gegen diesen Gegner nicht verlieren muss. Vielleicht muss man noch dazu sagen, dass die Spieler nicht hundertprozentig fit waren und aufgrund unserer engen Personaldecke trotzdem spielen mussten. Kuba ging mit einer Adduktorenverletzung in die Partie und musste ausgewechselt werden, als es einfach nicht mehr weiter ging. Felipe Santana ist vor dem Spiel umgeknickt und hatte einen richtig dicken Knöchel – ich ziehe meinem Hut vor ihm, wie bereitwillig er sich dennoch ins Spiel gekämpft hat.
Wo mein Kollege allerdings die großen Stuttgarter Chancen in der ersten Halbzeit gesehen haben möchte, weiß ich nicht. So wie ich das gesehen habe, hatten die Stuttgarter zwei gute Chancen und schossen dabei ein Tor – für mich wirkte das verdächtig nach einem Handspiel, das werde ich mir dann noch mal in Ruhe anschauen müssen. Nach langer Zeit habe ich heute jedenfalls wieder gemerkt, wie sehr ich es hasse zu verlieren – dieses Gefühl habe ich die letzten Monate wirklich nicht vermisst.“
Christian Gross: „Wir haben verdient gewonnen, gerade in der ersten Halbzeit hatten wir eine einige hundertprozentige Chancen. Unser Ziel bleibt weiterhin der Klassenerhalt und bevor wir nicht die 40 Punkte erreicht haben, wird sich daran auch nichts ändern.“
Die Spieler in der Einzelwertung
Ziegler: Hatte kaum Gelegenheit, sein Können unter Beweis zu stellen. Oben drein sah er beim 2:1 ziemlich unglücklich aus und musste gleich vier mal hinter sich greifen - Note 4,5.
Schmelzer: Leitete mit klugen Pässen manch guten Konter ein, blieb im Spiel nach hinten aber ein Schatten seiner selbst. Beim 3:1 mit äußerst unglücklicher Figur - Note 4.
Santana: Haste Scheiße am Fuß, haste Scheiße am Fuß - für Santana galt das ganz besonders. Für seinen Kampfgeist, trotz Verletzung 85 Minuten anzutreten, schreiben wir ihm eine Notenstufe gut - macht letztlich Note 4.
Subotic: Geriet trotz unauffälligen Spiels immer wieder ins Schwimmen, sorgte dabei für Gefahr im eigenen Strafraum - Note 4.
Kuba: Gute Besserung.
Le Tallec: Machte ein ordentliches Spiel, mehr aber auch nicht - Note 3,5.
Hummels: Versuchte sich im Offensivspiel und machte nicht die schlechteste Figur, erreichte aber bei weitem nicht seine Normalform. Note 4.
Owomoyela: Ließ sich beim 1:0 düpieren und blieb auch sonst meist einen Schritt zu langsam. Note 4,5.
Sahin: In der ersten Halbzeit ein Schatten seiner selbst, in der zweiten Hälfte mit spürbar mehr Biss. Dennoch immer wieder mit mangelhafter Koordination, die letztlich auch das 3:1 begünstigte. Note 4,5.
Valdez: Immer agil und bemüht, doch glück- und erfolglos im Abschluss. Netter Distanzschuss in der ersten Hälfte, insgesamt aber nur eine Note 4.
Großkreutz: So kann es gehen: In Köln miserabel gespielt und dennoch Matchwinner, in Stuttgart trotz guter zweiter Halbzeit ohne Punkte geblieben. Ein hübscher Assist kommt dazu, macht insgesamt Note 3.
Barrios: Emsig und in der zweiten Hälfte allmählich aufgetaut, bis auf den Treffer zum zwischenzeitlichen Ausgleich aber kaum zu sehen. Note 3,5.
Hajnal, Götze: Keine Bewertung.