Nuri Sahin: "Drei Gegentore in zehn Minuten, das darf uns nicht passieren"
Eigentlich war die Woche für den Dortmunder Anhang gut verlaufen. Erst den Auftaktsieg gegen Köln klar gemacht, dann eine ruhige Sommerwoche genossen und schließlich noch von den Comebackplänen Michelles erfahren – zahlreiche Auswärtsfahrten und Trainingslager werden damit nun endlich wieder musikalische Untermalung der furchtbar-fröhlichen Art erfahren dürfen. Optimale Rahmenbedingungen also für das insgeheim beliebteste Auswärtsspiel des Jahres.
Doch leider wollte in Hamburg selbst diesmal keine richtige Fußballstimmung aufkommen. Die ganze Stadt stand im Zeichen der „Cyclassics“, einem Radrennen, welches das zuletzt arg ramponierte Image eines schwedischen Energieunternehmens wieder aufpolieren sollte. Die wenigen versprengten Borussen gingen im Stadtbild ziemlich unter, das traditionell schwarzgelbe Farbenmeer am Jungfernstieg hatte leider keinen Platz gefunden. Wenigstens gab es an der Würstchenbude noch den Hafenlümmel (wahlweise normal oder extra lang) und den klassischen Hotdog (stramm in der Hand) – einige Traditionen sollten also doch noch gewahrt bleiben.
Seit einiger Zeit veranstaltet der HSV-Supporters Club vor seinen Heimspielen Informationsveranstaltungen in der Hamburger Kurve. Neben Neuigkeiten aus der Fanszene erfahren die Fans eine Menge über Verein und Mannschaft, diesmal natürlich auch über Borussia Dortmund. Dank guter Kontakte zum Supporters Club durften diesmal schwatzgelb.de und auch die BVB-Fanabteilung ihre Arbeit vorstellen und den Hamburger Fans einen Eindruck vermitteln, wie die Fanarbeit außerhalb der Hansestadt funktioniert. Eine schöne Geste, für die wir uns an dieser Stelle bedanken möchten!
Das Spiel wurde mit einer Choreographie des Gästeanhangs eröffnet, die zwar nicht besonders groß ausfiel, optisch aber absolut zu überzeugen wusste. Wiederum eine schöne Geste des HSV, Gästefans freie Hand in ihrer Kurvengestaltung zu lassen und eben nicht jegliches Fanmaterial zu verbieten – man kann nur hoffen, dass dieser Freiraum auch von gegnerischen Fangruppen genutzt wird.
Leider ging es nun bei weitem nicht mehr so erfreulich weiter – die folgende Viertelstunde wäre mit Debakel noch sehr freundlich umschrieben gewesen. In der ersten Minute klärt Weidenfeller noch mit einem klasse Reflex einen Schuss Jerome Boatengs, die anschließende Ecke unterläuft er leider wie ein Grundschüler – das 1:0 gleich zu Beginn. Gerade einmal eine Minute später, die Hamburger feiern noch ihre frühe Führung, lässt sich Frank Rost von Nelson Valdez überwinden – Ausgleich, banges Entsetzen auf Seite des HSV.
Dennoch bleibt der HSV am Drücker, auch weil Borussia es ihm sehr leicht macht. Die Dortmunder Hintermannschaft spielt auf dem Niveau einer E-Jugend-Reserve, kann so gut wie keinen Ball halten und bettelt förmlich um Schläge – das Mittelfeld ist faktisch nicht vorhanden, der Sturm hängt irgendwo im Wasserglas fest und der Torwart macht auch nicht den sichersten aller Eindrücke. Da wundert es nicht, dass sich zunächst zwei Hamburger mit Leichtigkeit gegen sechs Dortmunder durchsetzen und Ze Roberto in Szene setzen können, der seine Chance nutzt und den Abpraller des eigenen Pfostenschusses zum 2:1 durch Weidenfellers Beine schieben kann. Noch weniger wundert es, dass bereits zwei Minuten später das 3:1 fällt: Patrick Owomoyela weilt gedanklich noch beim Powernap, sonst fühlt sich keiner verantwortlich – Paolo Guerrero macht das Ding mal einfach so rein.
Das Grauen auf dem Spielfeld nimmt seinen Lauf. Der HSV muss nichts mehr tun, der BVB kann einfach nichts tun – also gibt es einige Frustfouls und ansonsten viel Murks. Der Herr in Orange ermahnt glatte sechsmal „zum allerletzen mal“, bis er endlich unter Beweis stellt, dass er seine Karten doch nicht vergessen hat – so bekommt man wenigstens mal Tamas Hajnal zu Gesicht, ist ja auch was.
Der Gästeblock hat sich wieder gefangen und findet sich langsam wieder ins Spiel zurück – der Eindruck einer ganz seltsamen Stimmung verfestigt sich. Trotz eindeutiger und völlig verdienter Führung kommt so gut wie gar nichts aus der Heimkurve. Ein Sitzplatzblock spielt ultra im Oberrang und lässt uns an seinen freien Oberkörpern teilhaben, im Stehplatzbereich passiert außer einem kleinen bisschen Dauerhüpferei hinter dem Tor so ziemlich nichts. Viele der alten Hamburger Fahnen sind weg, bis auf das Standard-Repertorie "Immer wieder HSV" kommt auch nicht so viel. Die endgültige Disqualifikation erfahren die Hanseaten dann kurz vor der Halbzeit: Bremen führt in München, das halbe Stadion klatscht sich eins und ist bei „BVB Hurensöhne“ erstmals zu hören. Na denn, Prost!
In der zweiten Halbzeit scheint sich der BVB zunächst etwas gefangen zu haben. Das Spiel wird nicht verloren gegeben, zumindest ein Punkt soll hier noch herausspringen. Felipe Santana hat dann auch die Riesenchance zum Anschlusstreffer, scheitert aber mit seinem Kopfball aus gerade mal zwei Metern an Frank Rost. Fünf Minuten später dann die Großchance in der Gegenrichtung; Mladen Petric und Guerrero stochern sich den Ball nach Lust und Laune durch den Strafraum, Dennis Aogo flankt und Eljero Elia trifft im Fallen noch den Ball – der Ball geht an die Latte, mit etwas Pech könnte man da auch einen Elfmeter gegen sich bekommen. Doppelt Glück gehabt.
Das alles scheint Borussia heute aber nicht zu reichen. In der 70. Minute pennt die BVB-Abwehr mal wieder, Elia bekommt auf rechts den Ball und kann ungehindert hinter der Abwehr entlang spielen – zwei völlig frei stehende Hamburger verpassen wenige Meter vor dem leeren Tor die sichere Entscheidung. Immerhin kann sich nun der Hamburger Anhang das nächste Mal bemerkbar machen, gesungen wird „Scheiße, Scheiße, BVB“. Aber lassen wir das – wer weniger Stimmung in der Bude hat als der FC Bayern, ist bereits gestraft genug.
Wenigstens machen den Hamburgern ihre Spieler eine Freude. Erst kommt der flache Pass in die Mitte, Santana kann gerade noch klären – dann kommt der Ball noch einmal genauso rein, Weidenfeller lässt ihn direkt vor die Füße des gerade eingewechselten Marcus Berg abklatschen und sieht dann naturgemäß etwas alt aus. Wieder mal stellt sich die bange Frage, wann man es Weidenfeller endlich abgewöhnen wird, Bälle so kraftlos abzuklatschen - immer wieder bringt er sich um den verdienten Lohn, wenn seine tollen Paraden gleich wieder verpuffen. Doch schieben wir auch das mal auf die Tagesform.
Dieser nach zu urteilen ist Schiedsrichter Michael Kempter heute ein waschechter Borusse. Endlich macht Neven Subotic nach einer Hamburger Ecke das Spiel einmal schnell und leitet einen Konter ein, endlich einmal wird das Überzahlspiel genutzt und klug gespielt, endlich einmal fasst sich Dimitar Rangelov ein Herz und drischt den Ball ins Tor. Das Tor wird gegeben und durchgesagt, Zweifel gibt es keine. Erst als sich Frank Rost über eine angebliche Sichtbehinderung beschwert, überlegt es sich der Assi anders – nun will er eine Abseitsstellung ausgemacht haben, ruft Kempter zu sich und veranlasst die Aberkennung des Treffers.
Entscheidungen auf Zuruf – das ist echtes Bundesliganiveau. (Anmerkung: Die Entscheidung an sich ist zwar reichlich albern, da sich die angebliche Sichtbehinderung nicht direkt in Schussrichtung befindet und auch in eine ganz andere Richtung blickt, geht aber trotz allem ok). Das Spiel geht mit 4:1 auch in der Höhe verdient verloren, für den HSV wäre dabei noch deutlich mehr drin gewesen.
Den schwatzgelb.de-Live-Ticker zum Nachlesen findet ihr hier.
Statistik
HSV: Rost, Mathijsen, Aogo, Ze Roberto, Guerrero, Petric, Elia, Jarolim, Trochowski, Boateng, Demel
Wechsel: Berg für Petric (68.), Jansen für Trochowski (68.), Pitroipa für Elia (79.)
BVB: Weidenfeller, Subotic, Tinga, Sahin, Valdez, Kuba, Barrios, Owomoyela, Santana, Schmelzer, Hajnal
Wechsel: Hummels für Hajnal (46.), Zidan für Valdez (69.), Rangelov für Barrios (79.)
Tore: 1:0 Demel (3.) - 1:1 Valdez (4.) - 2:1 Ze Roberto (10.) - 3:1 Guerrero (12.) - 4:1 Berg (72.)
Stimmen zum Spiel:
Nuri Sahin: „Ich habe keine Erklärung für das, was da passiert ist. Es war genau wie Hoffenheim letzte Saison, als wir uns viel vorgenommen hatten und völlig unerwartet unter die Räder kamen. Drei Gegentore in zehn Minuten, das darf uns nicht passieren. Erst recht dann nicht, wenn wir sogar noch die richtige Antwort haben und direkt den Ausgleich erzielen. Die Hamburger haben uns mit ihrer Spielweise völlig überrascht, wir sind da eigentlich nie hinterher gekommen. Wir werden mit dem Trainer noch einiges zu bereden haben, aber momentan habe ich wirklich überhaupt keine Erklärung, was uns da heute passiert ist.“
Jürgen Klopp: „Erstmal möchte ich natürlich den HSV zu diesem hoch verdienten Sieg beglückwünschen. Wir haben – und das sage ich nicht, um diese tolle Hamburger Leistung zu schmälern – es dem HSV heute sehr leicht gemacht. Wir haben nie Ordnung ins Spiel bekommen, mehrere unserer Spieler hatten heute bei weitem nicht ihren besten Tag. Wie viele gute Chancen wir jedoch bekommen haben, ohne nennenswerte Spielanteile zu besitzen, lässt mich erahnen, wie viel hier heute eigentlich drin gewesen wäre. Das ist sehr ärgerlich, kommt aber leider trotzdem immer wieder mal vor.“
Zur Schiedsrichterleistung und seinem Disput mit dem vierten Unparteiischen:
Jürgen Klopp: „Jeder hat eine andere Art der Frustbewältigung. Und ich habe mich eben mit ihm über das schöne Wetter unterhalten, denn an der Schiedsrichterleistung darf ich ja nichts auszusetzen haben.“
Zum Umgangston der kommenden Tage:
Jürgen Klopp: „Du kannst dir sicher sein, dass ich keine vier Gegentore brauche, um meine Mannschaft kritisch zu beurteilen – ich brauche auch keine Niederlage, um mal so richtig auf den Tisch zu hauen oder meine Meinung zu sagen. Das halte ich aber nicht für angebracht, weil es im Vorfeld überhaupt keine Hinweise darauf gab, dass wir heute ein solches Problem bekommen würden – das kam aus heiterem Himmel, so dass ich es einfach mal als Ausrutscher betrachte. Natürlich werden wir aber die Fehler ansprechen und genau analysieren, genauso wie der HSV sicherlich die Frage stellen wird, wie ein so deutlich unterlegener Gegner so unverhältnismäßig viele gute Chancen herausspielen kann.“
Zu Dede:
Jürgen Klopp: „Ich hätte ihn sehr gerne eingesetzt, weil er eine unglaublich wichtige Stütze für die Mannschaft ist. Ich hatte die letzten Tage auch fest mit ihm gerechnet. Heute Vormittag suchte er aber das Gespräch mit mir und sagte, dass er sich doch noch nicht ganz fit fühle – seine Aufstellung hatte sich damit erübrigt, die Gesundheit geht erst einmal vor.“
Zum Vergleich zur Vorjahresklatsche in Mannheim:
Jürgen Klopp: „Ob ich das nun mit Hoffenheim vergleichen würde, weiß ich nicht. Zum Einen liegt das schon zu lange zurück, als dass ich noch einen Vergleich ziehen könnte, zum Anderen hatten wir damals ganz andere Probleme. Wenn du aber an das Hinspiel gegen Udine zurückdenkst, als wir nach einer Länderspielpause vogelwild durch die Gegend rannten und nur dank einer großen Portion Glück nicht völlig untergingen – das war ebenfalls ein Ausrutscher und nicht das Ende aller Tage, sondern der Auftakt zu einer tollen Serie.“