Auswärtsspiel, München
Es gibt zwei Worte, die in ihrer Kombination ganz Fußballdeutschland in Angst und Schrecken versetzen: Gelsenkirchen, Meister. Zwei andere Worte vermögen es immerhin, ganz Dortmund in Demut verfallen zu lassen: Auswärtsspiel, München. Warum eigentlich?
Am unansehnlichen Fußball kann es nicht liegen. Seit vielen Jahren sind Auftritte der Borussen in der bayerischen Landeshauptstadt nicht nur auf dem Papier Spitzenspiele, sondern bieten Stoff für hunderte bis tausende Anekdoten. Platzverweise, Tore, Skandale, Kunststückchen – es wäre nicht vermessen zu sagen, dass diese Begegnungen des Öfteren entscheidende Wendepunkte im Saisonverlauf dargestellt hätten. Warum also die Köpfe hängen lassen?
Eine Ursache könnte darin liegen, dass die Wendepunkte meistens nicht zu unseren Gunsten ausfielen: 1:1, 6:2, 1:1, 2:1, 4:1, 5:0, 3:3, 2:0, 5:0 – 29:9 Tore in den vergangenen Jahren waren irgendwie nicht so hitverdächtig. Der letzte Sieg einer Borussenelf (Oktober 1991) dürfte selbst bei treuen Begleitern allmählich in Vergessenheit geraten sein. Und weil mit Ausnahme des 3:3 sämtliche dieser Spiele unter dem Motto „Die Bayern sind angeschlagen – wenn wir jetzt nicht gewinnen, dann werden wir es nie schaffen!“ standen, durfte man auch diesmal wieder ein leicht mulmiges Gefühl in der Magengegend haben. „Diesmal sind sie fällig“, „So leicht war es noch nie in München zu gewinnen“, „Selbst Frankfurt hat da 0:0 gespielt“ – ist ja nicht so, dass man das nicht schon mal gehört hätte. Und so könnte ich es mir heute ziemlich leicht machen und meinen Spielbericht vom 13. April 2008 wieder auspacken – ein paar Namen ausgetauscht, zwei Zeilen geändert, aufgefallen wäre es wohl keinem. Aber wir wollen mal nicht so sein…
Vor Spielbeginn
Eine Dame gewandet in den Farben der TSG 1899 Hoffenheim stellt fest: „Hmm, die sind ja ganz schön laut da oben.“ Sie zückt ihre Kamera und fotografiert eifrig den Dortmunder Fanblock, der mit einer sehr nett anzusehenden Luftballonchoreographie lautstark seine Mannschaft begrüßt und ihr via Spruchband mitteilt: „BVB: Du bist das wofür ich lebe – du bist alles was ich hab“. Der Abschiedsgruß der Gegenseite in Richtung Willy Sagnol, der als Sportinvalide vergangene Woche seine Karriere beenden musste (alles Gute für die Zukunft!), wird mangels Interesse kaum wahrgenommen und Ole Bischof, seines Zeichens Judo-Olympiasieger und desaströser Schlag-den-Raab-Verlierer, darf den Ball aufs Spielfeld bringen. (Hatte in Mannheim nicht auch ein Olympiasieger den Ball aufs Feld gebracht? Das flaue Gefühl in der Magengegend meldet sich zurück...)
Erste Halbzeit:
Tinga legt ab auf Hajnal. Hajnal spielt in die Gasse. Demichelis rutscht aus. Valdez bekommt den Ball, steht plötzlich mutterseelenalleine vor dem Tor und macht das Ding mit einem Weltklasseschuss in der zweiten Minute rein. Der Gästeblock tobt, die Heimkurve schweigt – das man das noch mal erleben darf!
Ein Fan des FC Bayern freut sich hingegen so überhaupt nicht und lässt seiner Wut freien Lauf: „Was spieln die heut für ein Scheißdreck zamm? Beine machen würd ich den!“ Und auch der ewig nörgelnde Spielberichtschreiber erinnert sich nur defensiv optimistisch an das letzte Führungstor, das ein Borusse nach zwei Spielminuten in München geschossen hatte – das Spiel endete damals 6:2.
Doch diesmal soll ja alles anders werden. Und tatsächlich spielt Borussia eine gute erste Viertelstunde. Bayern etwas geschockt, mit leichter, optischer Überlegenheit, aber so gut wie nie zwingend im Abschluss. Hajnal, Boateng und Valdez schalten schnell und treiben das Dortmunder Spiel nach vorne, doch gute Chancen werden durch unglückliches Stellungsspiel und leichtfertige Ballverluste schon in der Entstehung vergeben.
Weidenfeller hat sich nach ersten Unsicherheiten gefangen und holt in der 17. Spielminute mit einer Weltklassetat einen Kopfball Luca Tonis aus dem Eck. Die nun deutlich offensiver agierenden Bayern schnüren unsere Borussia weitestgehend im eigenen Strafraum ein und erspielen sich Chancen im Minutentakt. Weidenfellers weitere Glanzparaden der ersten Hälfte im Kurzdurchlauf: 19. Minute (alleine gegen Klose), 20. Minute (alleine gegen Klose), 27. Minute (alleine gegen Klose), 44. Minute (alleine gegen Ze Roberto).
Ein zwischenzeitlicher Dortmunder Entlastungsangriff endet in der 20. Minute mit einem Handspiel Lucios auf der Münchener Strafraumgrenze – zwei von drei Schiedsrichtern hätten den Elfmeter gegeben, doch Michael Kempter entscheidet sich dagegen. Die hauchdünne Führung ist schon kurz später wieder Geschichte, als Weidenfeller einen Schuss Kloses nur abprallen lassen kann und Ze Roberto direkt vor die Füße legt.
Der Fan des FC Bayern meldet sich erneut zu Wort: „Mei, spieln wir heut gut! Des issa Traum, so schön!“ Die Spieler verabschieden sich in die Katakomben, die 69.000 Zuschauer haben eine sehr kurzweilige erste Halbzeit gesehen. Das 1:1 geht nicht nur in Ordnung, sondern ist für eine unglaublich unter die Räder kommende Dortmunder Borussia ein durchaus respektables Ergebnis – mit etwas weniger Glück und ohne einen bärenstarken Weidenfeller hätten es bereits wieder vier oder fünf Gegentore sein können…
Zweite Halbzeit:
Tinga bleibt verletzt draußen (gute Besserung!), für ihn kommt Nuri Sahin. Dennoch beginnt das Spiel in Unterzahl. Was ist passiert? „Ein besonders eifriger Pförtner hatte die Klappe zum Spielertunnel schnell wieder geschlossen, Young-Pyo Lee war aber noch nicht wieder nach draußen gekommen – dann dauerte es mal eben eine gute Minute, bis die Klappe wieder geöffnet werden konnte“, erklärt Jürgen Klopp nach Spielende. Und denkt lächelnd darüber nach, ob Lee die Klappe mit ein bisschen mehr Krafttraining vielleicht auch selbst hätte aufdrücken können. Technik, die begeistert!
Der Gästeblock ist nun endgültig in München angekommen und liefert eine erstklassige Vorstellung ab. Immer wieder sorgen die Lieder für ordentlichen Hall, dem die Gegenseite so schlichtweg gar nichts entgegen zu setzen hat. Zwar ist die Stimmung auf Münchener Seite nicht mehr ganz so traurig wie noch bei den letzten Spielen, doch kann man das laute Lachen des Dortmunder Anhangs über einen Sponsoren-Jingle noch immer bestens nachvollziehen: „FC Bayern: die besten Spieler, die schönsten Siege, die lautesten Fans.“ So muss das wohl sein…
In der zweiten Halbzeit flacht das Spielniveau zusehends ab. Dortmund lässt sich nach der Kabinenpredigt nicht mehr ganz so erbärmlich vorführen, hält im Mittelfeld etwas stärker dagegen. Die Bayern lauern zunächst auf Konter und verspielen ein ums andere Mal den Ball vor dem eigenen Strafraum. Das bemerkt auch unser neuer bester Freund aus Reihen des FC Bayern, der wieder einmal ausholt und uns an seiner herausragenden Fähigkeit, das Spiel zu lesen, teilhaben lässt: "Depperter Sauhaufen, damischer!"
Bestraft werden die Nachlässigkeiten jedoch nicht – Florian Kringe semmelt herzhaft am Ball vorbei und vergibt später aus zwei Metern Entfernung eine hundertprozentige Gelegenheit knapp. Alex Frei und Nelson Valdez werden von Martin Demichelis komplett aus dem Spiel genommen, so richtig viel passiert nun also nicht mehr. Auf der Gegenseite zeigen sich Franck Ribery, Luca Toni und Hamit Altintop solidarisch mit Kringe und glänzen im Sinne des Fairplay-Gedankens mit einem guten Dutzend Sunday-Oliseh-Gedächtnisschüssen in den Münchener Abendhimmel. Wohl zu lange Elfmeterschießen mit Uli Hoeneß trainiert, hm?
Leider entpuppt sich gegen Spielende selbst eine eherne Weisheit des Fußballs als glatte Lüge: Wer seine Chancen nicht nutzt, wird am Ende nämlich doch belohnt! Beide Mannschaften haben sich bereits mit einem Unentschieden abgefunden, da kommt der bislang völlig glücklose Klose noch zweimal zum Abschluss – das 2:1 und 3:1 fällt in den Schlussminuten, vorangegangen waren jeweils haarsträubende (Stellungs-)Fehler der Dortmunder Hintermannschaft.
Stimmen:
Jürgen Klopp: „Wir haben uns heute ganz sicher keinen Punkt verdient – was nichts daran ändert, dass wir gerne auch einen unverdienten Punkt mitgenommen hätten. (...) Als ich gehört habe, dass Kevin Boateng ein absichtliches Foul an Miro Klose unterstellt werde, habe ich mir den Ausschnitt extra noch einmal angesehen.
Kevin ist in der vollen Bewegung, geht nach vorne und verfolgt den Ball. Der befindet sich noch im Strafraum und das Spiel läuft – was soll er denn da tun, außer weiter zu spielen? Dass Miro Klose da ein Foul vermutet, ist auf seine Schmerzen zurückzuführen – es tut schon extrem weh, wenn da einer mit 85 Kilo seine Stollen in das Bein reindrückt. Nun Konsequenzen von Seite des DFB zu fordern, wo Kevin das Bein gar nicht sehen konnte, ist absoluter Schwachsinn. Und eines kann ich euch ganz sicher sagen: Wenn einer meiner Spieler jemals absichtlich einen Gegenspieler in dieser Weise angehen sollte, bekäme er es mit mir zu tun. Diesem Spieler könnte dann selbst der DFB nicht mehr helfen. (...) Ansonsten bleibt zu sagen, dass das 1:1 aus einer Abseitsstellung resultierte und in der Geschichte des Sports mehr Elfmeter in diesen Situationen (gemeint war Lucio, Anm. d. Autors) gegeben wurden, als Spiele einfach so weiterliefen. Wenn man gegen unglaublich starke Bayern zwei mal Pech mit Schiedsrichterentscheidungen hat, hat man es naturgemäß ziemlich schwer.“
Statistik:
BVB: Weidenfeller, Lee, Subotic, Owomoyela, Santana, Kringe (82. Kehl), Tinga (46. Sahin), Boateng, Hajnal, Valdez, Frei (74. Zidan)
Tore
0:1 Valdez (2.) - 1:1 Ze Roberto (24.) - 2:1 Klose (87.) - 3:1 Klose (90.)
Spielstatistik
Gewonnene Zweikämpfe: Demichelis (94%) - Sahin (73%)
Die Fotostrecke zum Spiel gibt es auf unserer Fotoseite.