...Paul Burchardt: "Die Gegner glaubten, der BVB sei direkt vom Pütt angereist."
Vor einer Woche feierte Paul Burchardt, eines der ältesten Mitglieder des BVB und ehemaliger Spieler der Borussia, seinen 92. Geburtstag. Ein Zeitzeuge der ersten Jahrzehnte von Borussia Dortmund erzählt für schwatzgelb.de von Zeiten, in denen man vom Borsigplatz noch auf einem Kohlewagen zu den Auswärtspielen fuhr.
schwatzgelb.de: Herr Burchardt, in diesem Jahr sind Sie seit 75 Jahren Mitglied beim BVB. Wie kamen Sie damals ausgerechnet zu unserer Borussia?
Paul Burchardt: Vereinsmäßig habe ich beim Sportverein 08 in der Schülermannschaft mit dem Fußballspielen begonnen. Dadurch, dass ich in der Kesselstraße in der Nähe des Hafens aufgewachsen bin, war es naheliegend, zum Sportverein 08 zu gehen. Irgendwann zerstritten sich drei unserer besten Spieler mit unserem Jugendbetreuer und wechselten zum BVB. Darüber war ich damals stinksauer. Später spielten wir einmal gegeneinander und kassierten eine derbe Niederlage. Weil ich ehrgeizig war und in einer guten Mannschaft spielen wollte, wechselte ich später ebenfalls zur Borussia und spielte von 1934 bis 1936 zunächst in der Jugend, anschließend in der zweiten Mannschaft. Ich hätte auch nach Marten oder zu Alemannia gehen können, es zog mich aber zu den alten Mannschaftskameraden.
Wie muss man sich den Spielbetrieb von damals vorstellen?
Burchardt: Die Mannschaften, auch die Gäste, zogen sich im Keller des Vereinslokals Trott, „Zum Wildschütz“, an der Oesterholzstraße um. Anschließend mussten wir erst einmal 10 Minuten bis zum Platz laufen. Bei Wind und Wetter. Was haben wir da oft geflucht. Die „Weiße Wiese“ war etwa dort, wo jetzt die breite Brackeler Straße verläuft und später das Freibad gebaut wurde, in der Nähe der heutigen Metro. Dahinter waren nur Felder und Wiesen. Nach dem Spiel ging man die gesamte Strecke wieder zurück zur Gaststätte Trott und wusch sich im Keller in der Waschküche mit kaltem Wasser. Was hätten wir damals dafür gegeben, wenn es wenigstens lauwarm gewesen wäre... Übrigens zog sich die erste Mannschaft, zu der auch unser erster Nationalspieler August Lenz gehörte, ebenfalls dort um.
Zu den Auswärtsspielen fuhren wir normalerweise immer mit dem Fahrrad. Wenn wir weiter entfernt antreten mussten, saßen wir auf der Ladefläche eines Lastwagens, der normalerweise Kohlen transportierte und an Spieltagen lediglich grob gesäubert wurde. So kamen wir bei manchen Spielen dermaßen verdreckt an, dass die Gegner oft glaubten, wir wären direkt aus dem Pütt angereist.
Mal ganz im Vertrauen: Ist damals schon unter der Hand Geld an Spieler geflossen?
Burchardt: (lacht) Nein, nein. Es kam höchstens mal vor, dass uns nach wichtigen Siegen vom Vorstand jemand zwei Mark in die Hand drückte oder einen Kasten Bier vorbei brachte. Wenn es so etwas damals schon gegeben hätte, wären Spieler wie Lenz und später Michallek Millionäre geworden. Wir bekamen vom Verein auch nur die Kluft gestellt. Schuhe mussten wir selbst mitbringen
Vor allem die Älteren schwärmen heute noch vom viel zitierten Straßenfußball. Wie muss man sich das vorstellen?
Burchardt: Das haben alle mal gemacht, auch Spieler wie Lenz, Ruhmhofer und wie sie alle hießen. Wir von der Kessel-/Blücherstraße spielten immer auf dem Schlachthof an der Leopoldstraße in einer kleinen Halle, die nach Arbeitsende gesäubert war. Die anderen, wie zum Beispiel die Jungs vom Borsigplatz oder aus dem Westen, kickten auf Marktplätzen. Man verabredete sich regelmäßig zu Spielen und für den Sieger ging es immer um einen Kasten Bier. Auf Martplätzen. Das ist bei dem Verkehr auf den Straßen heutzutage unvorstellbar.
Warum haben Sie nie in der ersten Mannschaft von Borussia Dortmund gespielt?
Burchardt: Auf meiner Position als linker Läufer war ich zwar ein guter Spieler, vielleicht sogar ein sehr Guter. Allerdings war ich körperlich immer recht schmächtig, da fehlte mir einfach die Robustheit, um in der Ersten jemanden von seinem Stammplatz verdrängen zu können.
In Ihre aktive Zeit fiel auch die Verpflichtung des ehemaligen Schalkers Fritz Thelen, die Ernst Kuzorra eingefädelt hatte.
Burchardt: Das war am Borsigplatz eine Sensation, zumal Kuzorra das Training kurzzeitig höchstpersönlich leitete. Thelen brachte die Mannschaft wieder auf Vordermann, was sich vor allem spielerisch ausgezahlt und dem BVB schnell den Aufstieg in die Gauliga gebracht hatte. Der BVB hatte übrigens ein sehr gutes Verhältnis zu Schalke. Da spielten doch genau so viele Bergleute und Arbeiter von der Hütte wie bei uns, die ebenfalls alle nebenher gearbeitet haben. Diese Rivalität, wie sie heute existiert, gab es erst später, nach dem Krieg, als wir sportlich gleichwertige Gegner wurden. Vorher bekamen wir von denen doch immer die Bude vollgehauen. So schnell konnte man gar nicht gucken, wie die uns damals ausgetrickst haben.
Es gibt nicht wenige Dortmunder die sagen, dass die Meisterschaften der Blauen zur NS-Zeit nur dadurch zustande kamen, weil Schalker Spieler nicht an die Front abkommandiert wurden.
Burchardt: Damals habe ich das gar nicht so wahrgenommen. Wenn ich heute allerdings sehe, wie viele meiner Mannschaftskameraden im Krieg gefallen sind und dass die Spitzenspieler aus Gelsenkirchen nach dem Krieg noch da waren, könnte da schon etwas dran sein. Sepp Herberger, der Nachfolger von Otto Nerz, war damals als Reichstrainer eine Macht im Fußball. Sein Wort war Gesetz und wen er haben wollte, den bekam er auch. Fritz Walter wurde meines Wissens ebenfalls durch Herberger von der Front verschont.
Wie haben Sie die Kriegsjahre persönlich erlebt?
Burchardt: 1938 wurde ich zum Arbeitsdienst einberufen und musste zunächst im Emsland Sand schaufeln, später am so genannten Westwall Stacheldraht ziehen und Bunker bauen. Danach ging es zunächst an die Ostfront. Dazu muss ich ein Erlebnis schildern:
Wir waren irgendwo in der Ukraine, als wir eines Tages beobachteten, wie zwei Deutsche einige Einwohner des Dorfes in eine Grube schickten und erschossen. Anschließend stiegen sie selbst hinein und schossen auf alles, was sich noch bewegte. Zum Schluss wurde die Grube mit Kalk bestreut und zugeschüttet. Danach war nichts mehr von dem Massengrab zu sehen. Als wir die Soldaten später fragten, was sie dort machen würden, erklärten sie uns, dass die gesamte Bevölkerung der Ukraine ausgerottet werden solle um dort Deutsche anzusiedeln. Sie machten das jeden Tag, jede Woche, jeden Monat... Schrecklich.
Für die meisten Menschen ist das alles sehr lang her und sie haben die Verbrechen nicht selbst erlebt. Es gibt aber Bilder und Filme von damals, die das alles dokumentiert haben. Daher ist es für mich unbegreiflich, dass es Leute gibt, die solche Verbrechen und auch Auschwitz immer noch leugnen. So wie dieser Bischof kürzlich...
Später kam ich nach Frankreich, wurde bei der Invasion verwundet und als Kriegsgefangener in ein Hospital in Liverpool gebracht. Was wir als Deutsche dort erlebten war unglaublich. Es war nach all den Jahren des Krieges der Himmel auf Erden. Wir wurden von ausschließlich netten, freundlichen Menschen gepflegt und versorgt. Die Engländer sahen uns nicht als Soldaten sondern als Menschen, das rechne ich ihnen noch heute hoch an.
Insgesamt haben mir die Nazis zehn Lebensjahre „im besten Alter“ gestohlen.
Hatten Sie über all die Jahre Kontakt zu anderen Borussen oder zum Verein?
Burchardt: Wir bekamen mit der Feldpost mehr oder weniger regelmäßig einige Informationen und Grüße. Ab und zu erhielten wir auch Heimaturlaub.
Herr Burchardt holt plötzlich einen bräunlichen Briefumschlag von 1943 hervor, auf dem „Feldpost“ steht. Schon das kurze Überfliegen der drei Seiten aus dem Umschlag sorgt für eine Gänsehaut. Neben einem Anschreiben an Herrn Burchardt liegt noch ein zweiseitiges Rundschreiben des BVB an alle Frontsoldaten in dem Umschlag. Darin wird über Beförderungen einzelner Soldaten und über Spiele, die von den Borussen in der Heimat absolviert wurden, berichtet. Eine Liste der zuletzt gefallenen Vereinsmitglieder ist ebenfalls enthalten. Herr Burchardt wird dem Borusseum diesen Brief dankenswerterweise zur Ausstellung überlassen.
Nach dem Krieg haben sie nicht wieder für den BVB gespielt?
Burchardt: Schon bevor ich eingezogen wurde hatte ich mir bei einem Spiel den Meniskus im rechten Knie abgerissen. Das wurde später zwar behandelt, bereitete mir auf dem Platz aber trotzdem noch Probleme. Dazu war ich bei meiner Heimkehr schon 31 Jahre alt, was zur damaligen Zeit zwar noch kein Alter für einen Fußballer war, einige spielten bis 40, aber zusammen mit der Verletzung war es zu schwierig, noch einmal Anschluss zu finden. Für die Altherren-Mannschaft hatte es aber noch gereicht.
Haben sie später in irgendeiner Form weiter aktiv im Verein mitgewirkt?
Burchardt: Nein. Wir wurden im Krieg zweimal ausgebombt und ich zog aus der Stadtmitte in den Dortmunder Süden. Die räumliche Nähe war nicht mehr so gegeben wie früher. Allerdings war ich in Brünninghausen immerhin eine Zeit lang Kassierer des Vereins. (lacht)
Burchardt: Zu den Auswärtsspielen der Borussia bin ich häufig gefahren. Da ich bei den Stadtwerken war, kosteten die Fahrten nichts. Einmal sind wir mit einem Sonderzug nach Duisburg gefahren. Viele Leute waren am Bahnhof in Dortmund schon besoffen. Der Zug sah aus! Überall Flaschen und Dreck. Als wir in Duisburg ankamen, mussten wir, von Polizisten begleitet, durch eine Wohngegend gehen. Da sind dann plötzlich 10-20 Leute ausgeschert und haben in die Vorgärten gepinkelt. Die Leute schauten von den Fenstern zu! In Bochum haben sie einmal am Bahnhof einen Polizisten mit Bier begossen. Der hat nichts unternommen, nur geguckt. Was ist aus unserer Welt geworden? (lacht)
Gibt es noch Kontakte zu ehemaligen Spielern?
Burchardt: Sehr wenig. Ab und zu wurden die langjährigen Mitglieder zu Treffen eingeladen, bei denen auch der Ältestenrat dabei war. Als wir einmal nach einer Mitgliederversammlung nach Hause gefahren sind, wirkte mein Begleiter sehr traurig. Nachdem ich ihn gefragt hatte, was los sei, sagte er: „Schade, bis zum fünfzigsten Jubiläum gab es wenigstens noch Blumen.“ Danach habe ich Dr. Niebaum angeschrieben und nachgefragt. Es war tatsächlich so, dass es bis zu jenem Zeitpunkt nur Ehrungen für Mitglieder bis zum 50. Mitgliedsjahr gab. Später lud Niebaum alle von dieser Regelung Betroffenen zu einem gemütlichen Abend in die „Taube“ ein. Wegen meiner Hüftprobleme gehe ich zwar nicht mehr regelmäßig zu den Jahreshauptversammlungen, dieses Jahr muss ich aber hin: Zum 75. gibt es wieder Sonnenblumen. (lacht verschmitzt)
Besuchen Sie noch Spiele im Westfalenstadion?
Burchardt: Bis vor ein paar Jahren bin ich noch regelmäßig zu den Spielen gegangen. Es ist aber so, dass die Leute vor einem aufspringen, wenn es spannend wird. Und da komme ich nicht mehr so schnell hoch – meine Hüfte. Ich würde immer das Interessanteste verpassen. Da bleibe ich lieber vor dem Fernseher.
Wie stehen Sie zu der Finanzkrise, die der Verein nur knapp überlebt hat?
Die obligatorische Frage im Jahr des 100. Geburtstags: Wer ist für Sie in all den Jahren der größte Spieler bei Borussia Dortmund gewesen?
Burchardt: Die meisten Dortmunder werden bestimmt sagen, dass es die 66er Europapokalsieger-Mannschaft mit Paul, Emmerich, Held, Tilkowski und wie sie alle hießen, war. Für mich sind es Max Michallek und August Lenz. Michallek war am Ball ein Künstler, ein Genie. Bei Lenz war es faszinierend, wie er den Ball mit der Hacke mitgenommen hat, unwiderstehlich zum Tor gerannt ist und den Ball mit einem unglaublich harten Schuss ins Tor gehauen hat.
Herr Burchardt, wir danken Ihnen für das Gespräch und wünschen Ihnen für die Zukunft alles Gute und vor allem Gesundheit!
Ausführliche Dokumentationen zur Geschichte von Borussia Dortmund sind hier zu finden.