Sieg, Niederlage und Remis zusammen
Was für ein Spiel, was für eine Achterbahn der Gefühle. Mit sechs Toren in nicht einmal 35 Minuten haben Borussia Dortmund und der SV Werder in erster Linie den neutralen Zuschauer erfreut. Fans beider Vereine dagegen wissen wohl immer noch nicht so recht, was sie von dieser Partie letztlich halten sollen. Zu nervenaufreibend war der Spielverlauf, und insbesondere die Schlussphase war wirklich nichts für schwache Nerven.
Optimisten und Pessimisten erkennt man im Allgemeinen an ihrer Beurteilung des Füllstands eines Wasserglases. Nach 92 gespielten Minuten konnte man beide Gruppen im Weserstadion ähnlich treffend an ihrer Beurteilung des Spielresultats erkennen. Doch während die Pessimisten zwei verlorenen Punkten nachtrauern und Optimisten sich an der vermiedenen Niederlage erfreuen dürfen, verrät einem der realistische Blick aufs Spielgeschehen in erster Linie ein verdientes Unterschieden. Verdient nicht etwa, weil die Borussia und der SV Werder einander spielerisch ebenbürtig waren.
Das waren sie beileibe nicht. Doch wer derart aufopferungsvoll kämpft und anrennt, wie es die Borussen in dieser Partie getan haben, der hat sich den einen Punkt mehr als redlich verdient.
Beide Mannschaften waren personell verändert in das 8. Saisonspiel gegangen. Bei Werder Bremen rückte überraschend statt des gesperrten Per Mertesacker Frank Baumann aus dem defensiven Mittelfeld in die Innenverteidigung, Sebastian Prödl durfte nur auf der Bank Platz nehmen, Torsten Frings übernahm die defensive Position in der Mittelfeldraute, Daniel Jensen den rechten Part, Mesut Özil den linken und Diego den offensiven. Sanogo ersetzte zusätzlich den verletzten Rosenberg. Jürgen Klopp auf der Gegenseite verzichtete seinerseits nach der Verletzung Tamas Hajnals auf die zuletzt gewohnte Rautenformation. Die Borussia trat passend zu den ersten Lebkuchen in den Einkaufsregalen als Tannenbaum an. Vor der Viererkette agierten Kringe, Kehl und Tinga, davor zunächst Frei und Kuba. Die einzige Spitze bildete in der Anfangsphase Nelson Valdez.
Das Spielgeschehen der ersten Halbzeit ist schnell erzählt. Werder machte von Beginn an Druck, Borussia versuchte die Gastgeber vor allem mit vereinzelten Kontern zu ärgern. Torchancen blieben jedoch auf beiden Seiten weitgehend Mangelware.
Anders als auf dem Rasen, dominierte auf den Rängen der bestens besetzte Gästeblock. Während die Heimfans nur ein einziges Mal durch laute „Werder"-Rufe auf sich aufmerksam machten und ansonsten lediglich das obligatorische und gänzlich sowohl vom Spielgeschehen wie vom Rest der Ostkurve entkoppelte Fahnengeschwenke und Getrommel der Ultras auffiel, machten die Borussen im Gästeblock ordentlich Rabatz und unterstützten ihr Team ebenso anhaltend wie laustark.
Es sollte bis zur 25 Minute dauern, bis die Borussen erstmals gefährlich vor dem Werdertor auftauchten. Aber wie: Mit artistischer Einlage schlägt Alex Frei den Ball blind halblinks über seinen Kopf auf die andere Seite, wo Kuba ungestört in den Strafraum eindringt und völlig frei vor Tim Wiese auftaucht. Der Pole schiebt den Ball am Schlussmann vorbei, der Ball trudelt mit Rückwärtsdrall in Zeitlupe in Richtung Torlinie, wo er liegen zu bleiben scheint, bevor Frank Baumann für den geschlagenen Tormann rettet.
Die Riesenchance für den BVB, die das Spiel zu diesem Zeitpunkt völlig auf den Kopf gestellt hätte.
Auf der anderen Seite sollte es noch zehn Minuten dauern, bis Werder die eigene Überlegenheit endlich in eine Torgelegenheit umzumünzen vermochte. Mit einem schnellen Angriff treibt Diego das Leder nach vorne, setzt Mesut Özil halblinks gekonnt in Szene, der den Ball scharf in den Strafraum zieht. Weidenfeller kommt noch mit den Fingern an den Ball und bereinigt die erste Gefahr, bevor Robert Kovac endgültig zur Ecke geklärt.
Das war's allerdings schon in dieser ersten Hälfte. Nicht wissend, was sich in Durchgang Zwei abspielen würde, stellten sich die Berichterstatter auf eine eher knappe Zusammenfassung des Geschehens ein. Das Spiel der beiden Offensivmannschaften hielt noch längst nicht das, was es versprochen hatte. Doch das sollte sich ändern.
Einen Vorgeschmack auf das spätere Geschehen gaben die Bremer direkt nach Wiederanpfiff. Freistoß in halbrechter Position, Özil zieht den Ball vor's Tor, Weidenfeller klatscht den Ball nach vorne ab und die Abwehr klärt schließlich mit vereinten Kräften.
Die Anfangsphase dieser zweiten Hälfte gehörte nun komplett den Gastgebern. Borussia zog sich weit zurück und ließ dem Gegner viel Raum, den die Bremer nutzten, um die Schwarzgelben zunehmend einzuschnüren. Es dauerte beinahe eine Viertelstunde, bis sich die Borussen aus dieser Umklammerung endlich lösten und ihrerseits wieder Angriffe starteten.
Der erste blieb noch ohne Ergebnis, Baumann grätschte Kuba, der zu Beginn der zweiten Hälfte auf die linke Abwehrseite gewechselt war, in aussichtsreicher Situation halblinks den Ball vom Fuß. In der zweiten Szene hatte Borussia weitaus mehr Glück. Sebastian Kehl war in den Strafraum eingedrungen, hatte sich im Abwehrgewühl durchgesetzt und stand völlig frei vor Tim Wiese, als er von Baumann umgerissen wurde und Schiedsrichter Michael Kempter völlig zurecht auf den Elfmeterpunkt zeigte.
Der BVB in Form von Alex Frei damit mit der Chance, den Spielverlauf völlig auf den Kopf zu stellen. Und tatsächlich: Zwar ahnte Wiese die richtige Ecke, aber der Schuss war zu hart und platziert - ein ganz sicher ausgeführter Elfer des Schweizers, der damit Gästeblock wie Heimfans zum Kochen brachte. Aus unterschiedlichen Motiven allerdings, denn der schon das gesamte Spiel über kritische Bremer Anhang wurde nach der Dortmunder Führung merklich unruhiger.
Lang vermochten sich aber auch die Borussen nicht über die Führung zu freuen. 67 Minuten gespielt und damit nur neun Minuten nach der Dortmunder Führung. Lee sieht sich auf der rechten Seite zwei Gegenspielern gegenüber, zögert einen Moment zu lang. Der eingewechselte Boenisch zieht die Flanke in den Strafraum, Frank Baumann kommt in Höhe des ersten Pfostens mit dem Kopf an den Ball, das Leder springt einmal auf und lässt dem sich streckenden Roman Weidenfeller nicht den Hauch einer Chance. Der - zugegeben - mehr als verdiente Ausgleich für die Gastgeber.
Das Spiel gewann nun deutlich an Fahrt, beide Mannschaften besannen sich ihrer offensiven Stärken und vernachlässigten entsprechend ein wenig die Defensive. Zunächst mit Werder als Leidtragenden. Kuba wird wunderschön in Szene gesetzt, kommt im Zweikampf mit Hunt zu Fall, rappelt sich aber bravourös wieder auf, anstatt den Elfmeter zu schinden, behauptet den Ball und düpiert mit einem Querpass Tim Wiese, der das Tor verlassen hatte. Der herangestürmte Mats Hummels kommt in zentraler Position an den Ball und braucht „nur noch" einzuschieben, was er auch ebenso platziert wie abgeklärt vollzieht. Explosion im Block, Riesenfreude und tobende Gästefans.
Doch die erneute Führung der Borussia bildete nur den Auftakt für eine furiose Schlussphase mit Chancen beinahe im Minutentakt:
76. Minute: Der eingewechselte Hugo Almeida kommt im Mittelfeld an
den Ball, wird nicht angegriffen und kann aus gut 20 Metern abziehen.
Weidenfeller lenkt den Ball um den Pfosten.
78. Minute: Eckball Diego, Kopfball Naldo, Latte
83. Minute: Hereingabe durch Kuba von links, Kringe kann den Ball nicht verarbeiten, auch Zidans Schussversuch scheitert
84.
Minute: Hereingabe durch Kringe von der linken Seite. Zidan kommt am
rechten Strafraumeck ans Leder, doch verfehlt das Gehäuse mit seinem
Schussversuch.
86. Minute: Wiederum Ecke Diego, wiederum Kopfball Naldo, Weidenfeller rettet zur Ecke.
87. Minute: Kuba setzt Zidan beim Konter wunderschön in Szene, der läuft völlig frei auf Tim Wiese zu, lässt sich den Ball aber von Clemens Fritz noch abnehmen.
Eine Minute später das Drama: Distanzschuss Sebastian Boenisch, Roman Weidenfeller lässt den Ball unglücklich unter seinem Körper durchrutschen und Claudio Pizarro schiebt den Ball ins leere Tor. Ebenso bittere wie peinliche Szene für Weidenfeller. Noch peinlicher aber dessen theatralische Reaktion im Anschluss. Obwohl das Tor klar auf Romans Kappe ging, lamentierte der Schlussmann, beklagte ein angebliches Foulspiel und warf sich vor dem Schiedsrichter auf den Boden. Ein wenig mehr Selbstkritik und etwas weniger Show wäre durchaus angebracht, wenn man sein Team gerade um die Führung gebracht hat.
Doch es sollte noch schlimmer kommen, denn drei Minuten später ist es wieder Claudio Pizarro, der nach Anspiel von Almeida vor Weidenfeller auftaucht, den Ball mit Rechts am Schlussmann vorbei legt und in der nächsten Bewegung mit Links und aus spitzem Winkel ins Netz trifft. Bittere Minuten für die Borussia, die in kürzester Zeit von der Sieger- auf die Verliererstraße gerutscht ist.
Zur Dramatik des Spiels gehörte es jedoch, dass die Partie damit noch immer nicht entschieden war. Wiederum eine Minute später, beim letzten Angriff der Borussia, wehrt Tim Wiese eine Flanke von Florian Kringe seltsam in die Mitte ab und gibt somit die Vorlage für Zidan, der mit einem trockenen Rechtsschuss den finalen Treffer erzielt.
Dann war endlich Schluss und die Rätselei ging los auf beiden Seiten: Soll man sich ärgern, soll man sich freuen? Mit unbestimmter Gefühlslage verließen Bremer und Dortmunder den Platz. Und die meisten waren wohl auch ein bisschen froh, dass dieses nervenaufreibende Spiel endlich sein Ende gefunden hatte.
Fazit
Die Borussia hat im Weserstadion bravourös und aufopferungsvoll gekämpft, Werder an den Rand der Niederlage gebracht und zu guter Letzt immerhin noch einen verdienten Punkt ergattert. Mit 13 Punkten aus acht Spielen steht man in der Tabelle ziemlich gut an. Erst recht wenn man sich anschaut, dass einige große Brocken schon weg sind. Daumen drücken ist aber angesagt, dass das Team seine kraftraubende Spielweise auch über die gesamte Serie hin aufrecht erhalten kann. Spiele wie das gegen Werder zehren schließlich nicht nur bei uns Fans an den Reserven.
Einzelbewertung
Weidenfeller: Lange Zeit der sichere Rückhalt seiner Mannschaft, beim zweiten Ausgleich der Bremer dann der Tor zwischen den Pfosten. Schlimmer als das Danebengreifen war die Reaktion im Anschluss. Fehler machen halt eben nicht immer nur die anderen. Note 4
Lee: Beim 1:1 nicht ganz im Bilde, ansonsten eine mehr als solide Leistung des Koreaners, der hinten gut absicherte und sich auch ins Spiel nach Vorne einbringen konnte. Kommt augenscheinlich immer besser zurecht. Note 3
Kovac: Sicherer Rückhalt gegen die Sturmgewalt der Bremer. Deutlich positive Formkurve im Vergleich zur Vorsaison. Note 2,5
Hummels: Knüpfte in der zweiten Hälfte dort an, wo Kovac aufgehört hatte. Erzielte obendrein die zwischenzeitliche Führung und stellte sich damit selbst ein positives Arbeitszeugnis aus. Note 2
Subotic: Borussias bester Verteidiger in Bremen. Abgeklärte und souveräne Körpersprache, die Sicherheit und Präsenz ausstrahlte. Sinnbildlich eine Szene in der 23. Minute, als binnen Sekunden drei Angriffsversuche des Gegners ihr Ende an Subotics Fuß fanden. Note 2
Schmelzer: Wie so oft eine ordentliche Leistung des Linksverteidigers, der sich erneut hauptsächlich auf die Defensive beschränkte. Hatte links im Vergleich zu Lee auf der rechten Seite aber auch den etwas leichteren Job. Note 3,5
Kehl: Endlich mal wieder eine gute Leistung des Kapitäns. Sorgte durch seine Vorarbeit für die 1:0-Führung und präsentierte sich auch ansonsten gleichbleibend zweikampfstark, aber im Passspiel ungleich präziser als zuletzt. Note 2,5
Kringe: Nicht unbedingt sein Tag. Viele Fehlpässe, aber in der letzten Szene immerhin noch mit der Flanke, die letztlich zum Ausgleich führt. Hat man aber auch schon besser gesehen. Note 4
Tinga: War diesmal nicht ganz der direkte Gegenspieler von Landsmann Diego, half aber ebenfalls wirkungsvoll mit, dessen Kreise zu stören. Beschränkte sich im Mittelfeld aber vor allem auf defensive Aufgaben. Note 3,5
Frei: Hing vorn ein bisschen in der Luft, erledigte seinen Job beim Elfer aber einmal mehr mit Bravour. Note 3,5
Valdez: Ihm merkte man deutlich die Länderspielreise an. Bemüht wie immer, aber eben sichtlich weniger frisch. Daher insgesamt unauffälliger. Note 4
Kuba: Einmal mehr bester Borusse auf dem Platz. Dauerhafter Aktivposten auf der rechten und linken Angriffsseite, feine Pässe und eine Weltklasse-Torvorbereitung zum 2:1 von Mats Hummels. Es macht immer mehr Spaß, dem Polen zuzuschauen. Note 1,5
Zidan: Hätte beim Stand von 2:1 alles klar machen können und erzielte letztlich immerhin den Ausgleich zum 3:3. Gute, weil sichtlich engagierte Leistung. Note 2
Klimowicz: Trägt die Haare nun kurz., ansonsten schlichtweg zu kurz auf dem Platz. Daher keine Note.
Statistik
Borussia: Weidenfeller - Lee, Subotic, Kovac (52. Hummels), Schmelzer - Tinga, Kehl, Kringe - Blaszczykowski, Frei (64. Zidan) - Valdez (79. Klimowicz)
Bremen: Wiese - Fritz, Baumann, Naldo, Pasanen (65. Boenisch) - Jensen (62. Hunt), Frings, Özil - Diego - Sanogo (64. Almeida), Pizarro
Tore: 1:0 Frei (59.), 1:1 Baumann (68.), 2:1 Hummels (72.), 2:2 Pizarro (88.), 2:3 Pizarro (91.), 3:3 Zidan (92.)
Gelbe Karten: Tinga, Zidan - Naldo, Frings, Fritz
Zuschauer: 42.100 (ausverkauft)
Schiedsrichter: Michael Kempter, Note 2. Überraschend souveräner und konsequenter Leiter der Partie. Ohne nennenswerte Fehler und angenehm zurückhaltend.