Im Gespräch mit...

...Reinhard Beck (Teil 2): "Wir können zum Vorbild für ganz Europa werden"

03.10.2007, 00:00 Uhr von:  SSC
...Reinhard Beck (Teil 2): "Wir können zum Vorbild für ganz Europa werden"

Im ersten Teil unseres Interviews sprachen wir mit Reinhard Beck über die Entstehung und Bedeutung der Dortmunder Fanabteilung und das wachsende Selbstbewusstsein der Fans gegenüber äußeren Einflüssen. Wie weit dieses neue Selbstbewusstsein reicht, welche Probleme es schafft und wie man einen Ausweg aus den alltäglichen Problemen zwischen Fans und Polizei auf den Weg bringen könnte, erfahrt ihr nun im zweiten Teil unseres Gesprächs.

(...)

schwatzgelb.de: Welche Ziele müsste man verfolgen, wenn man Faninteressen mittel- bis langfristig stärken möchte? Gibt es Etappenziele?

Reinhard Beck: Ich denke, dass einige Bereiche schon abgearbeitet sind. Das Wesentliche war, dass man die Fans als Ganzes endlich mal akzeptiert und nicht mehr als Handlungsmasse sieht. Natürlich ist das erstmal nur so ein dahin gesprochener Satz. Doch wenn man sich das mal genauer anschaut, kann man sehen, dass sich in den letzten Jahren wirklich massiv etwas getan hat. Unter Niebaum und Meier war der Fan nichts weiter als die Cash-Cow, die es zu melken galt, heute gibt es daneben noch ein paar andere Sichtweisen. Wie wird der Fan im Stadion wahrgenommen? Wie wird auf die Interessen der Fans Rücksicht genommen? Wie wird mit den Gefühlen der Fans umgegangen? Wie präsentiert man sich als Verein im Bereich des sozialen Engagements? Natürlich werden die Fans immer als Konsumenten gesehen werden – so blauäugig darf man nun auch nicht sein – doch konnte die Fanabteilung meines Erachtens eine Menge dazu beitragen, dass die Fans nun auch aus anderen Perspektiven betrachtet werden.

schwatzgelb.de: Wenn ich die Fanabteilung als Schaltstelle betrachte und auf dein Beispiel mit der Politik zurückkomme, wäre der nächste logische Schritt, die Politiker in den Stadien anzusprechen und direkt vor Ort auf die Probleme hinzuweisen. An mangelnder Präsenz der Minister und Abgeordneten dürfte es nicht scheitern.

Reinhard Beck: Das ist richtig. Fußball ist ein medienwirksames Ereignis, da kommt es Politikern immer gelegen, wenn sie sich zeigen und ein paar Sympathiepunkte abgreifen können. Gerade auf der Jagd nach Wählerstimmen meinen viele noch das ein oder andere Pünktchen gut machen zu können. Wenn ein Politiker echtes Interesse an einem Verein hat, sich in seiner Funktion als Normalbürger dort einsetzt und mit Leib und Seele dabei ist, mag das sogar funktionieren. Im Allgemeinen denke ich aber, dass diese Rechnung nicht aufgeht. Denn wenn ich eines gelernt habe, dann ist es das: unterschätze niemals die Intelligenz der Fußballfans. Es hört sich immer blöd an, aber bei den Fans handelt es sich um einen Querschnitt der Bevölkerung und nicht um eine Ansammlung von Proleten. Aus persönlicher Erfahrung kann ich sogar behaupten, dass ich in Dortmund weitaus mehr intelligente als dumme Menschen getroffen habe und die intelligenten Menschen sehr häufig aus der Fanszene stammten. Eindimensional denkende Menschen habe ich dagegen meist dort angetroffen, wo ich sie nicht erwartet gehabt hätte, nämlich in entscheidenden Positionen. Wir haben es in gewissen Bereichen natürlich immer wieder mal versucht, den ein oder anderen Politiker anzusprechen, hatten damit aber nur mäßigen Erfolg. Es handelt sich bei unseren Anliegen um Randthemen, die für Politiker nicht die entscheidende Wichtigkeit besitzen. Das kann sich ändern, wenn Wahlen oder eine Weltmeisterschaft vor der Tür stehen, im Normalfall fehlt schlicht und ergreifend das Interesse, für eine derartige Sache groß Partei zu ergreifen. Das gleiche Bild hatte ich vor Augen, als ich an der Fans & Freunde Stiftungsidee mitgewirkt habe. Dort konnte ich gut erkennen, wer wirklich etwas beitragen und wer einfach nur mit im Boot sitzen und nach außen einen schönen schlanken Fuß machen wollte. Allein schon aus diesem Grund haben wir mit der Fanabteilung eher selten den Kontakt zur Politik gesucht. Wenn es denn jemanden aus diesem Bereich gäbe, der mit Herzblut bei der Sache wäre und sich ehrlich für diese Themen interessieren würde, spräche natürlich nichts dagegen einen prominenten Fürsprecher in unsere Arbeit einzubinden. Das ist momentan aber nicht in Sicht. Außerdem muss man noch sagen, dass uns die Lobbyarbeit besonders im politischen Bereich sehr schwer fällt. Da gibt es so viele professionelle Lobbyisten, dass wir kaum eine Chance haben, an denen vorbeizukommen. Die sitzen an den richtigen Schaltstellen, um die Leute von vornherein abzufangen. Und falls doch mal einer durchkommen sollte, können sie gleich im Anschluss die Verhältnisse aus Sicht der Polizei, Wirtschaft, Medien oder anderer Akteure wieder gerade rücken. Das ist frustrierend, aber Realität.

schwatzgelb.de: Der Großteil der Hauptsponsoren und Namensrechteinhaber rekrutiert sich aus der Welt der Banken und Finanzdienstleister. Steckt da ein System dahinter?

Reinhard Beck: Ja, Lobbyarbeit. Man sollte das nicht überschätzen in dem Sinn, dass jeder mit jedem zusammen käme und großartige Geschäfte tätige, doch völlig uninteressant ist dieser Aspekt nicht. Jeder Sponsor hat gewisse Kartenkontingente, die er in der Regel intern verwendet. Das heißt, er lädt sich Kunden und Mitarbeiter ins Stadion ein, hat dort seinen abgeschlossenen Stammtischbereich und kann Kontakte pflegen. Große Geschäfte werden kaum zwischen Tür und Angel gemacht, dennoch lohnt sich diese Investition, weil die Wege hin zu diesen Geschäften geebnet werden können. Ein Vermischen der Sponsoren kommt nur in Ausnahmefällen vor, selbst wenn das etwas wäre, worüber sich die Vereine sicherlich freuen würden. Ansonsten ist es natürlich eine gute Gelegenheit, wenn man weiß Friedrich Merz ist da, der könnte für mein Vorhaben genau der richtige Mann sein und sich mit dem ein paar Minuten an einen Tisch setzt. Generell kann man sagen, dass die Prozesse nur punktuell abgespult werden, dafür aber sehr gezielt. Gerade das locker-gemütliche Ambiente ist ein super Rahmen, um Weichen zu stellen. Das ist eine gute Sache, lass uns da mal drüber reden. Ruf mich doch nächste Woche an – das ist die Ebene, auf der das abläuft. Bei der Fanabteilung klappt das in gewissen Bereichen ähnlich, zum Beispiel konnten wir so Theo Zwanziger abfischen und einen Kontakt herstellen. Das hat aber eher Seltenheitswert.

schwatzgelb.de: Im Zusammenhang mit der Initiative Unsere Kurve hast du vorhin bereits ein Stichwort genannt, auf das ich nun zu sprechen kommen möchte – das Versuchskarnickel.

Reinhard Beck: (Lacht) Das gute alte Versuchskarnickel...

schwatzgelb.de: Bundesweit sind Fans davon überzeugt, dass sie nicht aufgrund der von ihnen ausgehenden Gefahr von Hundertschaften opulenter Ausmaße begleitet werden, sondern weil sie der Polizei eine ideale Testatmosphäre für Großeinsätze wie den G8-Gipfel oder eine WM bieten. Ist diese Aussage aus der Luft gegriffen oder steckt da mehr dahinter?

Reinhard Beck: Die Aussage ist überhaupt nicht aus der Luft gegriffen! Jeder Polizist wird das zwar bestreiten, doch die Fakten sprechen eine deutliche Sprache. Du selbst hast es am eigenen Leib gespürt: heute sieht das deutlich gemäßigter aus als noch vor der WM, selbst wenn natürlich einiges hängen geblieben ist. Die ständige Präsenz und das Handeln der Polizei halte ich nach wie vor für grenzwertig. Ich bin eher so der Deeskalationstyp, der sich mal die Frage stellt, ob es unbedingt sein muss bei jeder Kleinigkeit sofort mit einer Hundertschaft anzutanzen. Meines Erachtens wird mit diesen riesigen Aufgeboten sogar ein völlig falscher Effekt erzielt: statt den Fans ein Sicherheitsgefühl zu geben, fühlen die sich mit jedem weiteren Polizisten immer unsicherer. Der Fußball ist für die Polizei als regelmäßig wiederkehrende Großveranstaltung ein ideales Testgelände, gerade was die Ausbildung junger Beamte angeht.

schwatzgelb.de: Die werden sogar in andere Bundesligastädte geschickt, um dort weiter zu lernen...

Reinhard Beck: Ganz genau. Es würde viel mehr Sinn machen, eine Einheit aus Gelsenkirchen zur dortigen Turnhalle zu schicken, anstatt die nach Nürnberg, Rostock oder sonst wohin fahren zu lassen. Leider wird gar nicht erst versucht eine Bindung zwischen Polizei und Fans aufzubauen, obwohl gerade die bessere Kenntnis untereinander viele Konflikte von vornherein verhindern könnte. Ich bin der festen Überzeugung, dass die Polizei in der Bundesliga eine schöne Spielwiese vorfindet, wenngleich natürlich weitere Dinge wie persönliche Positionen mit rein spielen. Wie wichtig bin ich in meiner Position? Muss ich mich künstlich wichtiger machen, damit die Leute meinen Job aufrecht erhalten? Nicht dass dann mal ein Vorgesetzter sagt: Dich brauchen wir hier ja eigentlich gar nicht... So laufen die Dinge leider, das Versuchskarnickel trifft den Nagel auf den Kopf.

schwatzgelb.de: Wird bei diesen Einsätzen über die Stränge geschlagen?

Reinhard Beck: Von der Polizei? Das ist situationsabhängig. Du weißt, dass ich ein großer Fan der Kommunikation bin und immer versuche, die Leute direkt anzusprechen. Und ich muss sagen, dass ich sowohl mit den Beamten der Bundespolizei, als auch denen der normalen Polizei überwiegend positive Erfahrungen gemacht habe. In dem Moment, in dem man einen persönlichen Kontakt und direkten Ansprechpartner hat, laufen die Dinge viel geordneter und am Menschen orientierter ab. Gibt es keinen persönlichen Kontakt, Unstimmigkeiten oder überhaupt keine Stimmigkeiten, weil nicht miteinander gesprochen wird, sieht das völlig anders aus. Die Hemmschwelle liegt dann sehr niedrig. Wenn du Glück hast, steht dir in diesem Fall ein erfahrener Einsatzleiter gegenüber, der mit großen Menschenmassen umzugehen weiß und seinen Leuten Deeskalation und Zurückhaltung zur Aufgabe gemacht hat. Wenn du kein Glück hast, marschiert sofort die Schildkröte vorne weg und es setzt beim ersten Mucks eine ordentliche Tracht Prügel. Es ist schierer Wahnsinn, dass du an jedem Spieltag in Zeitung oder Internetforen Beschwerden über das Verhalten der Polizei finden kannst. Zieh da mal 50 Prozent von den Schilderungen ab und es bleibt immer noch ein trauriges Bild, das so nicht sein kann.

schwatzgelb.de: Du würdest einen engen Kontakt zwischen Polizei und Fans begrüßen?

Reinhard Beck: Ja, das ist meine tiefste Überzeugung.

schwatzgelb.de: Wie will man das anstellen? Das Vertrauen ist zerrüttet bis nicht vorhanden, auf beiden Seiten fehlt es an Verständnis für das jeweilige Gegenüber. Zudem wird der Polizei immer wieder Unehrlichkeit vorgeworfen, weil sie sich des Öfteren über gemeinsame Absprachen hinweggesetzt hat. Um das gerade zu biegen, müsste man sehr kreativ sein und völlig neue Wege gehen.

Reinhard Beck: Hast du dabei etwas konkretes im Sinn?

schwatzgelb.de: Das nicht, theoretisch gäbe es aber ein breites Feld an Möglichkeiten. Das kann damit beginnen, dass Vertreter der Polizei zu öffentlichen Fanstammtischen oder Veranstaltungen eingeladen werden, und dort enden, dass Stadionverbote zurückgenommen oder gar nicht erst ausgesprochen werden, wenn man als Hospitant einen Tag bei der Polizei verbracht hat. Beide Seiten müssten über einen sehr großen Schatten springen und verstehen lernen, wie der andere tickt.

Reinhard Beck: Damit hast du absolut Recht. Es muss wieder Ehrlichkeit im Umgang miteinander einkehren, damit ein Neubeginn gewagt werden kann. Diese beiden Bereiche müssen ganz, ganz eng zusammenarbeiten, wenn man das Problem der überzogenen Polizeigewalt eindämmen will. Ich halte es für unheimlich wichtig, dass die beim Fankongress gemachten Aussagen wirklich eingehalten werden und das Interesse an diesen Themen innerhalb des DFB nicht abebbt. Wir haben uns lange Zeit mit Theo Zwanziger unterhalten und ich glaube ihm, dass er diese Aussagen ehrlich meinte: Ich will das alles nicht und finde schlimm, was alles um die Stadien herum passiert. Jeder Fan soll friedlich ins Stadion gehen und nach dem Spiel wieder friedlich nach Hause gehen können. Das ist sehr viel mehr, als wir von all seinen Vorgängern je zu hören bekamen. Wir sollten unseren Teil beitragen und dafür sorgen, dass niemand einen Rückzieher machen kann. Das beinhaltet zwei Punkte: zuerst einmal müssen sich die aktiven Fanszenen ganz deutlich von Gewalt im Fußball distanzieren und klar machen, dass aktive Fans nichts mit Vandalismus zu tun haben. Ich habe da für mich eine einfache Faustregel: Wer andere Fans schlägt, Waschbecken von den Wänden tritt oder mutwillig Schaden anrichtet, hat im Stadion nichts verloren. Wir wollen nicht von der Polizei oder irgendwelchen Ordnern gegängelt werden, sondern uns frei bewegen können. Andersherum muss das unmissverständliche Signal von der Polizei und den Ordnungsdiensten kommen, dass sie uns diese Freiheit ermöglichen wollen. Wenn die richtigen Leute zusammenkommen und die Lobbyarbeit gut funktioniert, werden wir das irgendwann erleben können.

schwatzgelb.de: Was ich nicht ganz verstehen kann, ist die Haltung der Öffentlichkeit. Nehmen wir einen Durchschnittsbürger und Steuerzahler, der bei seiner Zeitungslektüre am Frühstückstisch sitzt und sich die Einsatzberichte des vergangenen Wochenendes durchliest: Stellt der sich nicht irgendwann mal die Frage wie viel das alles kostet? Wie werden die horrenden Ausgaben für weit mehr als eine Million Polizeieinsatzstunden jährlich gerechtfertigt?

Reinhard Beck: Ein gewisses Maß Sicherheit wird von den meisten Besuchern gewünscht und muss garantiert sein, das ist die Aufgabe der Polizei. Diese große Menge Einsatzstunden lässt jedoch deutlich erkennen, um was für eine große Arbeitsbeschaffungsmaßnahme es sich bei diesen Einsätzen handelt, wie ich vorhin schon mal angedeutet habe: Man macht sich wichtiger, als man ist. Die Gründe kannst du ganz einfach nachvollziehen, wenn du überlegst, was wirtschaftlich dahinter steckt: Da ist zum einen die Polizei, die keine Stellen verlieren möchte, und andererseits ein übertriebener Sicherheitsgedanke, der durch ständige Debatten über Terroranschläge und wachsende Gewalt neue Nahrung erhält. Durch die enorme Kommerzialisierung des Fußballs wurden zudem die Interessen einer bewussten Verlagerung unterworfen: man möchte den Fan nach wie vor als bewegte Masse im Stadion haben, aber zu jeder Zeit totale Kontrolle über ihn ausüben können. In den 1970-er und 1980-er Jahren gab es Randale in den Stadien, bei gewissen Spielen Massenprügeleien und Sachbeschädigungen direkt davor – was es nicht gab, war eine Polizei, die sich dafür interessiert hätte. Heute sehen wir das völlig andere Extrem, was daran liegt, dass viele Dinge zusammenlaufen: zum einen gibt es diesen großen Druck, der durch die Kommerzialisierung und Hypermedialisierung ausgelöst wird, zum anderen bedarf es aufgrund der großen Summen einer extremen Berechenbarkeit für die Vereine, Medien und Sponsoren und zum dritten gibt es eine Polizei, die diese Berechenbarkeit garantieren soll. Und das wird bewusst künstlich hoch gefahren, womit sich dann auch die extremen Dimensionen erklären lassen. Der Clou daran ist der: Wenn man auf Deeskalation und Zurückhaltung setzt, verhalten sich Menschen viel friedlicher, wie wenn man ihnen pausenlos bis in die Haarspitzen gepanzerte Aufpasser in den Weg stellt. Denen gegenüber hat man keine großen Hemmungen, sich seiner aufgestauten Aggressionen zu entledigen und ihnen entgegen zu brüllen. Da gibt es ein schönes Beispiel, das ich für absolut passend halte: Wenn sich eine Gruppe aktiver Fans, die zum Teil vielleicht schon ein bisschen was getrunken haben, auf den Weg zum Stadion begibt, macht es einen großen Unterschied, ob diese Fans alleine laufen oder von zwei Hundertschaften begleitet werden. Wenn sie alleine sind, verhalten sie sich relativ ruhig und unauffällig. Hält man sie jedoch im Kessel eingeschlossen und versucht sie möglichst schnell ins Stadion und nach Spielende wieder in die Busse zu pferchen, steigt das Maß an Provokationen nach außen immer weiter an. Sie fühlen sich gegängelt, werden übermütig und halten sich in ihren Gruppen für unangreifbar. Dieses Verhalten kannst du hervorragend beobachten.

schwatzgelb.de: Danach zu urteilen ist es fast schon wahnwitzig, dass diese Methoden umso mehr Anwendung finden, je größer die zu erwartenden Spannungen sind.

Reinhard Beck: Ich werde es mein Leben lang nicht verstehen können, wie jemand alleine in voller BVB-Montur nach Gelsenkirchen fahren und dort durch die Straßen laufen kann. Die Wahrscheinlichkeit, dort von einer Horde Blauer abgefangen zu werden oder eine Flasche an den Kopf zu kriegen, ist riesig. Diese Gefahr schwindet erst, wenn man mit vielen anderen BVB-Fans auf engstem Raum zusammensteht und die Polizei dazu kommt. Dann geht das Gepöbel und Geschiebe los, weil sich plötzlich jeder für unbesiegbar hält. Wenn ich mich an meine Jugend zurück erinnere, hatte ich immer höchsten Respekt vor Fahrten nach Gelsenkirchen – nicht vor diesem Verein, sondern vor der An- und Abreise. Hatte ich meine Freunde mit dabei war ich etwas weniger kleinlaut, kam dann noch die Polizei hinzu, konnte mir gar nichts mehr passieren. Dieses Phänomen erleben wir heute um ein Vielfaches verstärkt. Es ist ein schmaler Grat zwischen der Erhaltung von Sicherheit und der Beschwörung potenzieller Konflikte, zumal sich die Brennpunkte bei zu starker Überwachung immer weiter weg von den Stadien bewegen.

schwatzgelb.de: Wie viel Technik kommt bei dieser Überwachung zum Einsatz?

Reinhard Beck: High-End, das kann man nicht anders beschreiben. Überall hängen Kameras, jeder Winkel der Stadien ist ausgeleuchtet und kann eingesehen werden. In Dortmund wurden genauso wie in allen anderen WM-Stadien Kameras eingebaut, die dazu in der Lage sind, selbst aus großer Entfernung Augenscans durchzuführen. Du stehst oder sitzt in deinem Block, die Kamera erfasst dein Gesicht und friert das Bild im richtigen Blickwinkel ein. Die Software teilt dein Gesicht in viele kleine Quadrate auf und misst extrem genau den Abstand zwischen den Augen sowie weitere biometrische Merkmale. Wenn du einmal in einer bestimmten Datei gelandet bist oder aus einem anderen Grund bei der Polizei auf der schwarzen Liste stehst, können die in wenigen Sekunden herausfinden, ob du der richtige Stefan bist. Dann holen sie dich gezielt aus dem Block. Neben dieser Technik im Stadion kommen natürlich noch diverse Kameras bei den Hundertschaften zum Einsatz, die jeden Augenblick als mögliches Beweismittel festhalten wollen.

schwatzgelb.de: Die Biometrie-Kameras verfügen über eine derartige Ausstattung, dass sie zur Steuerung von Lenkraketen verwendet werden könnten und unter das Kriegswaffenkontrollgesetz fallen. Ist der Einsatz im Stadionalltag überhaupt zulässig?

Reinhard Beck: In Deutschland werden diese Kameras zumindest nicht produziert, die stammen in der Regel aus Amerika oder Japan. Ob der Einsatz rechtlich einwandfrei ist, kann ich nicht beurteilen. Zuerst hieß es damals, dass diese Kameras nur während der WM zum Einsatz kämen, doch abmontiert wurden die bis heute nicht. Schau einfach mal an der Südtribüne unter das Dach, da siehst du gleich hinter dem Catwalk so komische Halbkugeln – das sind diese Kameras, in alle Richtungen frei beweglich. Und ganz ehrlich: Glaubst du tatsächlich, dass die nicht mehr eingesetzt werden, wo sie schon mal da sind? Ich bin überzeugt davon, dass die Kameras heute noch benutzt werden, falls ihr Einsatz nicht zu teuer sein sollte. Denn zu teuer ist der einzige Grund, warum eine verfügbare Technik in Deutschland nicht zum Einsatz kommen würde.

schwatzgelb.de: Mit den hohen Kosten wären wir dann wieder beim Steuerzahler angekommen.

Reinhard Beck: Da beißt sich die Katze in den Schwanz. So lange niemand von diesen Dingen weiß und sie nicht thematisiert werden, kann sich kein Widerstand regen. Das war im Übrigen auch eine Sache, die wir mit Unsere Kurve zum Ausdruck bringen wollten: Wir sind normale Bürger und Steuerzahler, die mit diesen Methoden nicht einverstanden sind. Dieser ganze Apparat sähe anders aus, wenn die Städte oder Vereine dafür bezahlen müssten – dann würden die Ticketpreise schon bald englisches Niveau erreichen. Das ist aber nicht der Fall, weshalb man die Schraube schön weiter drehen und eine Steuermillion nach der anderen zum Fenster raus schmeißen kann. Das Thema Sicherheit zieht natürlich, denn wenn ich Schäuble zuhöre, traue ich mich ja fast nicht mehr über die Straße zu gehen (Lacht).

schwatzgelb.de: Es wäre ein Segen für unsere Nation, wenn Unsere Kurve einen Beitrag zur sorglosen Teilnahme am Straßenverkehr leisten könnte.

Reinhard Beck: (Lacht) Das wäre ein Ding! Wobei ich meinen Mitstreitern bei Unsere Kurve wirklich sehr viel zutraue. Da sind hoch intelligente Menschen mit dabei, die Konversation auf allerhöchstem Niveau betreiben können und sich sehr bemühen, für diese Probleme Lösungen zu finden. Es wird ein langer Weg werden, doch wenn alle Seiten dazu bereit sind, wieder in die Realität zurückzukehren und sich nicht wie bisher in Phantasiekonstrukten zu verirren, können wir in Deutschland sogar zum Vorbild für ganz Europa werden. Wir müssen nur die Interessen von Polizei, DFB, DFL und Fans unter einen Hut bekommen, wobei ich bei all diesen Akteuren ausreichend starke Persönlichkeiten kennen gelernt habe, dass ich das für möglich halte.

schwatzgelb.de: Wie können wir uns die Zeit vertreiben, bis es so weit ist?

Reinhard Beck: Es wird sich alleine deshalb schon bald etwas ändern müssen, weil die Spannungen innerhalb der Vereine von Tag zu Tag stärker werden. Die sozialen Unterschiede werden zum großen Problem, eine Stärkung des sozialen Engagements wird unumgänglich sein. Es wäre schön, wenn der Vorstand der Fanabteilung gemeinsam mit der Fanbetreuung des BVB, dem Fanprojekt und den neuen Fanbeauftragten ein großes Projekt auflegen könnte, um den Fannachwuchs beschäftigen und von der Flasche fernhalten zu können. Ich kann dir sogar heute schon sagen, was ich machen würde: Ich würde jede Menge Farbe besorgen, den Jungs und Mädels von The Unity in die Hand drücken und sie gemeinsam mit den jungen Fans darum bitten, diesen ganzen grauen Beton in das größte Kunstwerk zu verwandeln, das ein Stadion je gesehen hat. Sprayen bis der Arzt kommt – das Ergebnis wäre so geil, das glaubst du gar nicht.

schwatzgelb.de: Vielen Dank für das lange und spannende Interview, Reinhard Beck!

Den ersten Teil unseres Interviews findet ihr hier: "Wir fühlten uns wie Versuchskarnickel"

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