Das zerbrochene Glück
Um eine einfache Tasse? Es war eben nicht nur irgendeine Tasse, die man nach Belieben austauschen oder durch eine andere ersetzen kann. Es war eine besondere Tasse - meine Lieblingstasse!
Wenn ich Dir die Geschichte meiner Tasse erzähle, wirst Du wissen,
warum es mich so traurig macht, sie zerbrochen am Boden liegen zu sehen.
Es begann vor ungefähr vier Jahren: Ich sah diese Tasse -
nennen wir sie Borussia Dortmund - in einem Regal mit vielen anderen
Tassen in einem Laden. Ich hatte eigentlich gar nicht vor, mir eine
Tasse zu kaufen. Doch irgendetwas fiel mir sofort ins Auge und fesselte
meine Aufmerksamkeit.
Strahlend gelb leuchtete SIE wie ein Stern zwischen den anderen
Tassen hervor. Oder lag es an dem rätselhaften schwarzen Muster aus
Buchstaben und Zahlen, dass ich sie in die Hand nahm? Ich weiß nicht
mehr was es war, aber irgendetwas brachte mich dazu, sie ausführlicher
zu betrachten. Sie glich so gar nicht den anderen roten, grünen oder
blauen Tassen im Regal. Ich strich mit dem Daumen über das Muster und
sah, dass ihr Gelb an einigen Stellen schon etwas verblasst war und die
Lackierung leichte Kratzer hatte. Aber das störte mich nicht.
"Was willst Du denn mit der," fragten mich Freunde, "die ist doch schon ganz angeschlagen. Nimm lieber eine von diesen!"
Sie zeigten mir die roten, die ganz in unserer Nachbarschaft
hergestellt wurden, die königsblauen, die bei einem Freund schon seit
langem zuhause im Schrank standen und die weiss-blau-karierten mit dem
roten Rand, die größer und besser verarbeitet waren als alle anderen und
von Nordösterreich aus ganz Deutschland überschwemmten. Doch keine von
denen konnte mein Herz erobern, ich wollte immer nur die eine - die
Schwarzgelbe.
Seither lebe ich mit dieser Tasse und ich habe es
nicht eine Sekunde lang bereut. Viele kostbare Momente hat sie mir in
den vergangenen Jahren geschenkt und ebenso viele Erfahrungen, die ich
nicht missen möchte. Einige davon durfte ich machen, andere musste ich
machen.
Ich habe Menschen kennen gelernt, die mit mir ein Stück des
schwarzgelben Weges gegangen sind und Menschen, die zu treuen Freunden
und Begleitern wurden. Ich habe Reisen unternommen und stundenlange
Gespräche geführt, für die es ohne die Liebe zu meiner Tasse keinen
Anlaß gegeben hätte. Ich bin durch Meere, ja ganze Ozeane von Gefühlen
geschwommen und das in 90 Minuten-Etappen. Ich habe gebangt, gehofft,
geliebt, gezittert, gebetet, geflucht, verwünscht und manchmal sogar
gehasst...
Es sind diese lebendigen Erinnerungen, die mich Tag für Tag, Spieltag
für Spieltag, immer enger an meine Tasse binden. Erinnerungen, von
denen Javier Marias einmal schrieb, sie seien wie auf der Netzhaut
eingebrannte Bilder aus der Vergangenheit. Bilder von entscheidenden
Toren, Duellen um den Ball, von Heldentaten, aufsehenerregenden
Schiedsrichterentscheidungen, von wichtigen Siegen und demütigenden
Niederlagen. Nichts von alledem würde ich jemals eintauschen oder
ersetzen wollen!
Vielleicht verstehst du jetzt besser, was diese Tasse für mich so besonders macht und mich um ihren Zustand trauern lässt.
Ich schaue auf das Kunstwerk aus Scherben zu meinen Füßen und kann noch
gar nicht begreifen, wie es geschehen konnte. Was vor wenigen Minuten
noch ganz stabil, stark und heil erschien, ist wie eine Seifenblase
zerplatzt. Dort unten auf dem Boden liegt mein BVB, zerbrochen,
aufgespalten in seine Einzelteilen. Ich sehe Männer in Nadelstreifen,
hochbezahlte und verunsicherte Sportler, aber keine Mannschaft,
Vereinsmitglieder, die sich nicht gesehen fühlen und dazu Fans, die sich
untereinander nicht verstehen - alles einzelne Splitter eines ehemals
großen Ganzen.
Ich fühle mich allein. Eine innerliche Leere breitet sich in mir aus
und lässt mich hart schlucken. Ja, es war vorauszusehen. Ich wollte es
nur lange nicht sehen! Andererseits, wäre es überhaupt zu vermeiden
gewesen? Ihr Ansehen hatte in der letzten Zeit merklich gelitten, die
Kratzer von damals hatten sich in kleine Risse verwandelt und mit jedem
Riss war sie instabiler geworden, auch wenn man es ihr auf den ersten
Blick nicht gleich ansah. Eine winzige ungeschickte Handbewegung hatte
gereicht, um sie aus dem Gleichgewicht zu bringen und stürzen zu lassen.
Immer noch ohnmächtig stehe ich vor dem Scherbenhaufen. Ich
hatte mein Bestes gegeben, um es nicht dazu kommen zu lassen - sorgsam
wie einen Schatz hatte ich sie gehütet, umsichtig und aufmerksam war ich
im Umgang mit ihr gewesen. Es hatte einfach nicht gereicht! Ich merke
Wut in mir aufsteigen, die ihre Kraft aus meiner Ohnmacht zieht und mich
hinterrücks mit ihren anklagenden Fragen überfällt: Wieso hat es nicht
gereicht? Was ist schiefgelaufen? Wer trägt Schuld an der ganzen Misere?
Schließlich "muss" doch jemand Schuld sein! Jemand muss die Verantwortung für diese Katastrophe übernehmen! Doch wo suchen? Liegt der Fehler bei der Vereinsführung, weil sie in der Vergangenheit zu risikobereit gewirtschaftet hat? Sind die Spieler schuld, weil sie immer wieder wichtige Spiele nicht gewinnen oder weil sie überwiegend zwar gute Einzelspieler sind, aber nicht als Team auftreten? Liegt es etwa an den Fans, die sehr kritisch sind und die Mannschaft zuhause schnell unter Druck setzen, so dass sie Angst hat und nicht frei aufspielt? Oder haben sich die verschiedenen Faninteressen so weit voneinander entfernt, dass eine geschlossene Unterstützung der Mannschaft gar nicht mehr möglich ist?
Die Bruchstücke auf dem Boden antworten nicht auf meine Fragen. Ich
merke schnell, dass es keinen Sinn hat, an irgendeiner Stelle die
alleinige Schuld für den Zusammenbruch des Ganzen zu suchen. Es gibt zu
viele Wahrheiten und jeder kennt eine andere. Es ermüdet mich, darüber
zu streiten! Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer und ein Tor noch
kein Unentschieden. Nein, es war die Vielzahl der Risse und kleinen
Brüche, die zur endgültigen Instabilität geführt haben. Es war ein Riß,
ein Bruch zuviel...
Behutsam sammle ich die Scherben auf und
lege sie vor mir auf den Tisch. Die Wut schwindet, doch unter der Wut
liegt die Trauer verborgen. Was fange ich nun an mit meinem zerbrochenen
Glück?
In einem leichten Anflug von Melancholie schwelge ich
wieder in den Glückseligkeiten vergangener Tage und frage mich
ängstlich, was wohl die Zukunft für uns bereithält. Werden wir
irgendwann wieder einmal so ausgelassen feiern können wie 2002 im Mai
oder ereilt uns das gleiche Schicksal wie andere Vereine vor uns, die
irgendwann einmal im Niemandsland deutscher Spielklassen verschwanden?
Wo spielen heute eigentlich die Stuttgarter Kickers, Fortuna Düsseldorf
oder Waldhof Mannheim?
Doch letztlich fühle ich, dass es gar nicht so sehr darauf ankommt,
wann wir uns wo in welcher Spielklasse wiederfinden. Ich würde es
sowieso nicht über's Herz bringen, meine geliebte schwarzgelbe Tasse mit
all den daran geknüpften Erinnerungen, Hoffnungen und Werten in die
Ecke zu stellen, um mir dafür irgendeine andere, vielleicht neuere oder
schönere, aus dem Schrank zu holen.
Ich könnte sie kleben,
denke ich bei mir und halte die einzelnen Bruchstücke probeweise
zusammen. Einen Versuch ist es auf jeden Fall wert!
Aber kann es
gelingen, sie wieder in ihre ursprüngliche Form zu bringen? Besorgt
frage ich mich, ob die Bruchstücke überhaupt wieder auf Dauer
zusammenhalten können oder ob sie bei der nächsten Belastung gleich
wieder auseinanderbrechen? Ich weiß zwar, sie wird nie wieder ganz die
Tasse sein, die ich einmal gekannt habe, aber wird mir der Tee daraus
immer noch genauso gut schmecken wie früher oder bleibt ein bitterer
Beigeschmack zurück?
Du merkst es schon: Ich kenne in diesen Tagen mehr Fragen als Antworten.
Das ist es auch, was mich derzeit oft ein wenig mut- und ratlos sein
lässt. Doch auf eine, vielleicht sogar die wichtigste aller Fragen, kann
ich dir eine Antwort geben.
Lohnt es sich?
Ich sehe
deinen fragenden Blick, während du diese Worte aussprichst und muss
lächeln. Leise fange ich an, eine Melodie zu summen...
"Solange
die Erde sich dreht, solange der Traum nie vergeht, solang' das Feuer
in uns brennt und schwarz-gelb ein jeder kennt, ja solange und für immer
BVB!!!"
Geschrieben von Ramona