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schwatzgelbes Halbzeitgespräch mit Ulrich Hesse-Lichtenberger

24.07.2003, 00:00 Uhr von:  Wade
schwatzgelbes Halbzeitgespräch mit Ulrich Hesse-Lichtenberger

Er weiß nicht, seit wann er BVB-Fan ist, weil er es eigentlich schon immer war. Und wenn der in Dortmund geborene Journalist Ulrich "Uli" Hesse-Lichtenberger nicht in Unna aufgewachsen wäre, sondern in seiner Geburtstadt, dann wäre er sicher schon früher als 1977 im Stadion gewesen, so seine feste Überzeugung.

Geboren wurde er am 8.Februar 1966 in Dortmund. Seine Schulzeit verbrachte er in Unna, baute sein Abitur und studierte dann in Bochum Anglistik, Germanistik "und ähnlichen Unfug", wie Uli selbst berichtet. Einen aus seiner Sicht völlig nutzlosen Abschluss machte er dann irgendwann 1993 oder 1994 trotzdem, mit einer Magisterarbeit zum Thema "Baseball".

Vielen Dortmunder Fans ist UHL, so sein Kürzel, durchaus bekannt ? wenn auch unbewusst. Denn Uli schrieb von 1996 bis 1997 für die "BUDE", das bekannteste Dortmunder "Print" Fanzine. Seit seinem 19. Lebensjahr hatte er ein Musik-Fanzine mitherausgegeben und begann als freier Autor auch auf diesem Gebiet an zu schreiben. Unter anderem für das bekannte "Rolling Stone". Für eben jenes Heft hatte er 1996 eine Geschichte über den Fußball-Boom gemacht, die sich unter anderem mit solchen Fans beschäftigte, die sich das Spiel nicht wegnehmen lassen wollten. So lernte er erst Volker und dann Wolle von der "BUDE" kennen, die damals schon vier Ausgaben (drei offizielle und eine Null-Nummer) herausgebracht hatten.

Fürs fünfte Heft hat er dann über sein erstes Spiel im Westfalenstadion geschrieben, später folgten so legendäre Geschichten wie etwa sein Sousa-Interview. Der absolute Brüller ist aber der ziemlich durchgeknallte Text über den "Ärztestreit" aus der "BUDE" Nummer 6. Uli dazu: "Ende des Jahres muss mir jemand was ins Bier geworfen haben, als ich auf die Idee gekommen bin, so etwas zu schreiben. Ich bitte auf diesem Wege alle um Verzeihung, denen ich den letzten Nerv geraubt habe."

Seine lebhafte Art zu schreiben konnten schon viele bei der "BUDE" genießen. Uli ist dazu absoluter Fußballfachmann, und leistet erstklassige Recherchearbeit. Unter anderem schreibt er für die "taz" und die Süddeutsche Zeitung, für "When Saturday Comes", "FourFourTwo", "Guardian", "Sunday Times" (jeweils aus England). Im Mai 2002 erschien sein erstes Buch. Die erste englischsprachige Geschichte des deutschen Fußballs ("Tor" the Story of German Football - absolut lesenswert, Anm. der Red.). Ein weiteres Buch, über den Europapokal, wird demnächst erscheinen - diesmal auf Deutsch. Außerdem ist er seit kurzem Redakteur eines Magazins, das aber noch nicht das Licht der Welt erblickt hat.

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schwatzgelb.de: Du lebst in Witten, bist Du noch regelmäßig im Westfalenstadion?

Uli: Was für eine Eingangsfrage! Selbstverständlich! Seitdem ich mein Geld damit verdiene, über Fußball zu schreiben, kommt es schon mal vor, dass ich nicht auf der Südtribüne stehe, sondern mich auf der Pressetribüne herumtreibe. Aber das sind Ausnahmen. Ansonsten stehe ich noch immer da, wo ich seit 26 Jahren stehe - und hoffe doch stark, dass das auch die nächsten 26 Jahre noch so sein wird.

schwatzgelb.de: Kannst Du Dich noch erinnern, wie und wann Du BVB-Fan geworden bist?

Uli: Nein. Ich weiß natürlich, dass es Leute gibt, die aus ganz bestimmten Gründen in ganz bestimmten Momenten Fan eines Teams geworden sind, und mir selbst ist etwas in der Art auch schon widerfahren. Am 25. April 1979 wurde ich großer Fan von Nottingham Forest. Aber was den BVB angeht, so kann ich mich nicht an eine Zeit erinnern, in der ich kein Anhänger gewesen wäre. Ich bin in Dortmund geboren, und mein älterer Bruder ging zu jedem Heimspiel, fuhr zu jedem Auswärtsspiel ? also wuchs ich als BVB-Fan auf. Es wäre damals erheblich geschickter gewesen, Fan eines erfolgreichen Klubs zu sein ? Bayern, Gladbach, später Köln oder Hamburg -, aber ich hatte niemals das Gefühl, eine Wahl zu haben. Was ich datieren kann, ist mein erstes Heimspiel: 29. Januar 1977 gegen den KSC (7:2 gewonnen).

schwatzgelb.de: Was war der bewegendste Moment, den Du als Fan mit dem BVB erlebt hast?

Uli: Fast alle Fans meiner Generation (ich bin jetzt 37) sagen, dass das DFB-Pokalfinale 1989 das Größte war, dass selbst die 95er Meisterschaft oder das Champions-League-Finale niemals an Berlin heranreichen können. In gewisser Weise stimme ich dem zu, weil ich mich noch gut erinnern kann, wie fassungslos ich an diesem Tag im Berliner Olympiastadion das Spiel verfolgte. Mir war bis dahin noch nie die Idee gekommen, der BVB könne jemals einen Titel gewinnen, aber als Dickel das 3:1 schoss, liefen mir plötzlich Tränen übers Gesicht. Allerdings passierte mir das Gleiche 1997 in München, als Rickens Heber ins Netz fiel (von dort, wo wir standen, sah es zunächst aus, als würde der Ball weit am Tor vorbeigehen). Und deshalb entscheide ich mich für den Moment, der wirklich anders war als alle anderen: Wegmanns 3:1 Sekunden vor Ende des 2. Relegationsspiels gegen Fortuna Köln 1986. Auf den Fernsehbildern sieht man die Massen auf der Südtribüne jubeln, aber so habe ich diesen Augenblick nicht in Erinnerung. Vor und neben mir waren Dutzende von Leuten, die nicht mehr auf das Feld blickten, sondern den Boden anstarrten oder gar Fahnen über ihre Köpfe gezogen hatten. Wegmann stupste den Ball in Zeitlupe über die Linie, und für eine Ewigkeit herrschte absolute Stille und totale Regungslosigkeit auf der Tribüne. Erst dann brach der Jubel los. Wir fuhren über die B1 zurück nach Unna, und niemand fuhr schneller als 60 km/h, niemand hupte. Wir waren alle völlig ausgelaugt.

schwatzgelb.de: Bist Du Vereinsmitglied bei Borussia und / oder in Besitz einer Dauerkarte?

Uli: Seit 1982 habe ich eine Dauerkarte (Stehplatz Süd), obwohl man damals nicht wirklich eine brauchte ? der BVB hatte so 25.000 bis 27.000 Zuschauer im Schnitt. Vereinsmitglied bin ich aber nicht, weil es da eine unappetitliche Geschichte um einen Bekannten meines Bruders gab, die mich misstrauisch werden ließ, was die klubinternen Abläufe betrifft.

Anpfiff

schwatzgelb.de: Die Fanszene in Dortmund hat sich seit Anfang der 90-er Jahre sehr verändert. Viele Fans fürchten die immer stärker werdende Kommerzialisierung, sehen sich nur noch als schmückendes Beiwerk des großen Geschäfts "Fußball". Wie siehst Du die aktuelle Situation der Fans beim BVB?

Uli: Zuerst einmal geht es uns noch großartig, verglichen mit dem Mutterland des Spiels und seiner Fanszene. In England kauft mal eben ein russischer Milliardär einen Traditionsverein, und einige meiner Freunde dort können es sich nicht mehr leisten, ihren Klub spielen zu sehen. Und während wir durchaus Regionalliga-Fußball verfolgen könnten, sobald uns die Bundesliga zu zirkushaft wird, haben viele englische Fans nicht mal mehr diese Option: Im letzten Jahr kostete die billigste Jahreskarte für Boston United (gerade in die 3. Division, also die 4. Liga, aufgestiegen) 189 Pfund - das waren zu der Zeit 283 Euro! Außerdem mache ich mir keinerlei Illusionen, was die Vergangenheit angeht. Auch in den 70-ern und 80-ern waren wir nicht mehr als schmückendes Beiwerk - und vermutlich noch nicht mal das. Heute tun die Klubs wenigstens so, als lägen ihnen die Fans am Herzen, und auf gewisse Weise ist das sogar nicht gelogen, denn wir sind ja inzwischen alle zu Konsumenten geworden, und die darf man nicht vergrätzen. Aber als ich anfing, ins Stadion zu gehen, war es ganz offensichtlich, dass die Klubs sich einen Dreck um ihre Fans scherten, was ja erst dazu führte, dass sich Fan-Clubs bildeten, die dann in der Regel auch noch Ärger mit den Vereinen bekamen. Dinge wie Kinderhorte und Stadionhefte sind (nicht nur in Dortmund) in den 70-ern von Fans gegründet worden - denn damals wäre es keinem Verein in den Sinn gekommen, seinen Zuschauern so etwas zu bieten. Also: Niemand soll sich von sentimentalen alten Säcken erzählen lassen, früher wäre alles besser gewesen. Es war nur anders schlecht.

schwatzgelb.de: Woran könnte es Deiner Meinung nach liegen, dass die Stimmung im Westfalenstadion, vor allem auf der Süd, nicht mehr so ist wie Anfang der 90-er Jahre?

Uli: Es liegt am Erfolg. (In gewisser Weise natürlich auch an der oben erwähnten Kommerzialisierung, aber die ist ja ebenfalls in erster Linie ein Ergebnis des sportlichen Erfolges der 90-er Jahre.) All die Gründe, die man immer und überall hört und liest - die Akustik-Probleme durch den Umbau, zu viele Modefans auf den Rängen und dann auch noch die Schwierigkeit, sich mit einem Trupp von kaum erwachsenen Neureichen zu identifizieren -, gäbe es ohne die Siegesserie des letzten Jahrzehnts gar nicht. Und Erfolg, so ist das eben, erhöht die Ansprüche, für die Spieler ebenso wie für die Fans. Das ist ein ganz normaler psychologischer Effekt, den ich gar nicht bedauere. Sollte der FC St. Pauli 2007 und 2008 Meister werden und 2009 die Champions League gewinnen, dann wird auch das Millerntor nicht mehr in seinen Grundfesten wackeln, wenn 2010 ein knappes 2:1 gegen den VfL Wolfsburg gelingt.

schwatzgelb.de: Fanvereinigungen wie z.B. "The Unity" versuchen mit großem Einsatz, die Stimmung im Westfalenstadion zu verbessern. So verzichten diese Gruppen im Stadion auf den Einsatz von Rauch und Pyro und legen ihren Schwerpunkt auf Fahnen, Doppelhalter und Choreos. Sie stehen immer 100% hinter der Mannschaft, egal, ob sie gut oder schlecht spielt. Trotzdem wächst die Akzeptanz bei den anderen Fans nur langsam. Was denkst Du, woran das liegt?

Uli: Vielleicht an der natürlichen Abneigung vieler Leute gegen Choreographien jeder Art. Ich zum Beispiel halte noch nicht einmal diese schwarzen oder gelben Zettel hoch, die von Zeit zu Zeit verteilt werden, damit das Stadion auch schön in unsere Farben getaucht ist, wenn die Mannschaften einlaufen. Vor dem Champions-League-Finale etwa herrschte eine Riesen-Stimmung in beiden Fankurven, bis die Veranstalter anfingen, die Lieder per Anlage vorzugeben und die La Ola zu choreographieren. Gut, im Falle der Ultras kommt die Aktion von den Fans selbst, aber mir ist trotzdem etwas Spontanes einfach lieber als etwas Geprobtes.

schwatzgelb.de: Du hast die Zeit der Kutten, der Hools und anderer Fangruppierungen bei Borussia live miterlebt. Glaubst Du, dass Gruppen wie "The Unity" in Dortmund auch eine neue Fankultur aufbauen können, oder wird diese Fanbewegung eine reine Subkultur bleiben?

Uli: Wo ist das Problem mit Subkulturen? Ich denke, die Ultras würden nicht wollen, dass ihr Ding irgendwann zu einem Modetrend wird, an den sich die halbe Tribüne dranhängt. Auch Kutten und Hools sind und waren Minderheiten, und das ist und war völlig in Ordnung. Ich habe außerdem noch nie so etwas wie eine homogene "Fankultur" gesehen. Eine Zeitlang stand ich auf der Süd direkt vor einer Biker-Gang (die sitzen inzwischen - aber nicht im Knast!), neben mir war ein Busfahrer, vor mir ein BWL-Student. Die Tribüne ist nun wirklich groß genug für uns alle.

schwatzgelb.de: In den Medien wird häufig das Bild des prolligen, besoffenen, grölenden Fan dargestellt. In Dortmund redet man aber auch gerne von den "besten Fans der Liga." Glaubst Du, dass die Dortmunder Fanszene in den Medien richtig dargestellt wird?

Uli: Hm. Ich weiß nicht, ob der besoffene Proll wirklich so häufig in den Medien auftaucht. Und selbst wenn das so wäre: Es ist ja nicht gerade, als gäbe es ihn nicht in den Stadien. Allerdings stimmt es natürlich, dass die nachdenklichen, kritischen, engagierten Fans selten zu Wort kommen. Was auch daran liegen kann, dass es fast unmöglich ist, die Fanszene eines beliebigen Klubs korrekt darzustellen. Dazu ist sie einfach zu vielschichtig und uneinheitlich. Es ist ja noch nicht einmal möglich, mit Gewissheit zu sagen, wen "die Fans" mögen und wen nicht. Als die Sache mit Michael Skibbe damals eskalierte, äußerte sich ein Bekannter von mir in einer Zeitung und gab an, dass die echten Fans alle hinter dem Trainer stünden, weil die ständigen Unmutsäußerungen dem Verein schadeten. Ein guter Freund von mir erzählte mir jedoch fast zur selben Zeit, dass alle Zuschauer in seinem Block der Meinung waren, dass es besser wäre, in die 2. Liga abzusteigen, als weiter "diesen Schalker" an der Seitenlinie zu haben. Diese Skibbe-Affäre warf übrigens noch eine andere Frage auf: Was sind eigentlich "gute" Fans? Unser Präsident und so manche Beobachter waren damals von Teilen des Publikums enttäuscht, weil für sie ein "guter Fan" wohl jemand ist, der bedingungslos hinter Klub, Mannschaft und Trainer steht und niemals pfeift oder schimpft. So definiert man auch heute noch "gute Fans" zum Beispiel in Kaiserslautern, aber in Dortmund war das nie, nie, nie der Fall. In den 70-ern und frühen 80-ern galten die Dortmunder Fans als "gut", eben weil sie kritisch waren und sich nicht alles bieten ließen. Ich kann mich noch an eine Zeit erinnern, in der das Westfalenstadion ligaweit gelobt wurde, weil das Publikum dort auch Leistungen des Gegners zu würdigen wusste und schon mal einen Angriff des Gastes beklatschte - und zwar nicht, wie das in den 90-ern üblich wurde, aus Ironie oder um die eigene Elf zu treffen.

schwatzgelb.de: Du hast international viel Lob für Dein Buch "Tor! The Story of German Football" erhalten. Wann schreibst Du Dein erstes Werk über den BVB?

Uli: Vor zehn Jahren schrieb ich Herrn Niebaum mal einen Brief, um ein Buchprojekt vorzuschlagen. Ich habe nie eine Antwort bekommen. Das war vielleicht auch besser so, denn man sollte zu dem, worüber man schreibt, schon eine gewisse Distanz haben können.

schwatzgelb.de: Könntest Du Dir vorstellen, daran mitzuarbeiten (z.B. durch entsprechende Buch u. Zeitungsveröffentlichungen), die heutige Fanszene in der Öffentlichkeit richtig darzustellen?

Uli: Siehe meine Antwort auf die vorletzte Frage. Und was ist "richtig"? Vermutlich das, was Euren Vorstellungen entspricht, und damit wären wir schon beim Problem. Es passiert oft, dass Leute auf mich zukommen und sagen: "Du glaubst nicht, was mir passiert ist! Schreib da mal drüber, mach das publik!" Und dann muss ich immer antworten: "Ich bin kein Pressesprecher. Wenn ich was darüber schreibe, dann muss ich erstmal recherchieren - und vielleicht stellt sich dann heraus, dass ich die Sache ganz anders sehe als Du. Was dann?" Und ich habe ja auch schon über Teile der Fanszene geschrieben - und so Volker von der "Bude" kennen gelernt.

Abstoß

schwatzgelb.de: Die rechte Szene in Dortmund ist immer noch präsent, wenn auch nicht mehr so stark wie Anfang der 90-er Jahre. Was müsste der Verein, aber auch die Fans tun, um gerade die jugendlichen Anhänger vor den Einflüssen dieser Szene im Stadion zu schützen?

Uli: Du meinst sicher "wie in den 80-er Jahren", denn verglichen mit dieser Zeit war es Anfang der 90-er schon geradezu ruhig. Um die Frage zu beantworten: der Verein kann kaum etwas tun. Ich vertrete die etwas unpopuläre Haltung, dass auch Faschos ein Recht haben, ins Stadion zu gehen und den BVB zu sehen. Mir ist sogar etwas unwohl bei der Vorstellung, der Klub würde bestimmten Leuten wegen bestimmter Meinungsäußerungen Stadionverbot oder Ähnliches erteilen, weil ich mir nicht sicher bin, wo das enden wird. Ich hatte früher oft genug Stress mit Skins (weniger im Stadion, meistens bei Konzerten), aber andererseits ist auch ein Bekannter von mir - ein Redskin - von Antifa-Leuten verprügelt worden, obwohl er einen unübersehbaren "SHARP"-Aufnäher trug (= Skinheads Against Hate And Racial Prejudice). Ich habe also Probleme damit, wenn jemand schikaniert wird, nur weil er einem irgendwie nicht in den Kram passt oder das Gesamtbild stört. Wer etwas tun kann, das sind in der Tat die Fans. Vor einiger Zeit war ich mit einem Freund von mir im Stadion. Er ist aus London, Arsenal-Fan - und Jude. Als kurz vor Schluss das "Sieg!"-Gejohle losging und die Arme nach vorne gestreckt wurden, da war er etwas irritiert, und ich hatte Probleme, ihm zu erklären, dass "die besten Fans der Liga" nicht etwa Nazi-Gesten imitierten, sondern bloß nicht nachdachten.

schwatzgelb.de: Gerd Kolbe hat in seinem Buch, über den BVB während der NS-Herrschaft, die Vergangenheit unseres Vereins sehr ausführlich und lückenlos aufgearbeitet. Nun haben die Blauen aus Herne West angekündigt ihre NS Vergangenheit aufarbeiten zu lassen. Was meinst Du, können die Leser da erwarten?

Uli: Entschuldige bitte, aber jetzt bricht kurz der Journalist in mir durch: Wir können nicht wissen, ob Kolbe die Geschichte "lückenlos" aufgearbeitet hat. (Wobei ich außerdem bezweifle, dass so etwas überhaupt ginge.) Was die Pappnasen betrifft, so erwarte ich ein sehr interessantes Buch, das ein ganz anderes Spektrum abdecken muss als Kolbes Werk. Schließlich war der Klub, über den wir gerade reden, der Vorzeigeverein des Landes und des Regimes. Was jetzt aber nicht gehässig gemeint ist, denn beim BVB wären auch ganz andere Mechanismen abgelaufen, wenn er zu jener Zeit zu den Top-Klubs gezählt hätte. Besonders gespannt bin ich darauf, ob neues Material zu den Finals 1939 und 1941 aufgetaucht ist, denn in beiden Spiele trafen die Pappnasen auf österreichische Teams - und es gab jeweils Gerüchte über Manipulationen aus politischen Gründen.

schwatzgelb.de: Findest Du, dass der BVB trotz seines enormen Wachstums traditionsbewusst geblieben ist, und woran machst Du Deine Meinung fest?

Uli: Das Ganze ist ein Eiertanz, wie ihn zum Beispiel auch gerade Newcastle United und die Pappnasen aus Du-weißt-schon aufführen. Letzteren gelingt er im Moment noch recht gut, aber wie ich oben schon mal geschrieben habe, war der BVB - anders als die Blau-Weißen - noch nie der große Klub für Romantiker und Sentimentalisten. So gesehen kriegt es Borussia eigentlich noch ganz gut hin, und immerhin bekommt man in Dortmund mehr alte Größen regelmäßig am Stadion zu sehen als bei vielen anderen Klubs (von Aki, Emma und Jockel Bracht bis Zorc)

Eckball

schwatzgelb.de: Was hältst Du von der Umwandlung des Vereins BVB 09 in eine KGaA? Mit welchen Gefühlen verfolgst Du die Vermarktung des BVB?

Uli: Aus heutiger Sicht fand der Börsengang zum falschen Zeitpunkt statt. Nicht wegen des Kursverfalls der Aktie - der war zu erwarten und ist ja eigentlich nur aus Image-Gründen ärgerlich für den Klub -, sondern weil man Kapital in einer Boom-Phase bekam und nicht etwa in einer Dürrephase, wie wir sie im Moment haben. Es wäre natürlich ideal, jetzt investieren zu können. Aber Deine Frage war anders gemeint, nicht wahr? Also: Wie die meisten deutschen Fans kann ich Aktien noch immer nicht mit Fußball in Verbindung bringen, weiß aber natürlich, dass man in vielen anderen Ländern nicht versteht, wo das Problem sein soll. Ich schätze, ich verdränge dieses Thema einfach. Zum Marketing: Es ist eine Katastrophe, und ich habe auch keine große Lust, mich darüber auszulassen. Nur soviel: Ich kann in den Megastore gehen und fünf verschiedene Pur-Harmony-CDs kaufen, die alle gleich verlogen, schlecht und peinlich sind. Aber ich kann nicht in den Megastore gehen und ein Video (oder eine DVD) vom 1966-er Europapokalsieg kaufen. Oder vom 1989-er Pokalsieg. Oder vom 11:1 gegen Bielefeld. Ich brauche keine Fußmatte mit BVB-Logo, aber ich hätte schon sehr gerne eine Aufzeichnung des zweiten Relegationsspiels 1986.

Einwurf

schwatzgelb.de: Wenn Du die Wahl hättest zwischen Deiner jetzigen Karriere und einer Karriere als Fußballprofi beim BVB, welche würdest Du wählen?

Uli: Riesen-Frage! Als ich elf Jahre alt war ? und das ist eine wahre Geschichte ? schrieb ich Otto Rehhagel, damals BVB-Trainer, einen Brief. Ich fragte ihn, was ich tun müsste, um Spieler bei Borussia zu werden, da das so ungefähr die einzige sinnvolle Tätigkeit sei, die ich mir für mein weiteres Leben vorstellen könne. (Ich bekam keine Antwort, was ich Otto nie verziehen habe.) Aber schon ein paar Jahre später war Profi-Fußballer nicht mehr mein Traumberuf. Sondern Punk-Musiker. (Man sieht, es ging mir nie ums Geld.) Und dann irgendwann stellte ich fest, dass ich nicht etwa über Fußball und Musik schreibe, weil ich ein verhinderter Fußballer oder Musiker bin, sondern weil ich das Schreiben liebe. Also: Ich behalte lieber meinen Beruf. Aber Danke der Nachfrage.

Steilpass

schwatzgelb.de: Wie hältst Du Dich auf dem Laufenden über die Geschehnisse rund um den BVB?

Uli: Ihr würdet jetzt gerne hören "Übers Internet", stimmts?

schwatzgelb.de: Nö!;-))

Uli: Aber es ist so, dass ich aus beruflichen Gründen so viele Zeitungen und Magazine lese, dass ich nicht anschließend auch noch Websites absurfe. Aber ich habe mich sehr gefreut, als ich mich bei Euch darüber informieren konnte, wie man wohl lebend nach Rotterdam und zurück kommen könnte. Solche Fragen interessieren die Zeitungen ja nur am Rande - oder nur dann, wenn es zu spät ist.

Abseits

schwatzgelb.de: Was macht für Dich beim BVB den Unterschied zu Vereinen wie dem FC Schalke 04 und Bayern München aus?

Uli: Ich verweise auf die zweite Frage. Natürlich gibt es Unterschiede zwischen den einzelnen Klubs, aber für mich haben sie nie wirklich eine Rolle gespielt. Ich würde also auch dann noch zum BVB gehen, wenn wir nicht so ein tolles Stadion hätten, wenn die Fans weniger treu wären, wenn der Klub eine ganz andere Tradition hätte usw.

Elfmeter

schwatzgelb.de: Angenommen, Borussia Dortmund gibt Dir einen Scheck über 1 Mio. Euro um dieses Geld in irgendeiner Form für den Verein zu investieren. Was machst Du damit?

Uli: Ich gebe 50 kleinen Klubs aus der näheren Umgebung je 20.000 Euro für die Jugendarbeit, vor allem, um vernünftige Trainer zu engagieren. Ich habe selbst, aus der Not heraus, F-, E- und D-Jugendliche bei einem solchen Vorstadtverein trainiert und weiß deshalb, wie viele Talente ein Späher der großen Klubs nie zu Gesicht bekommt, weil sie das Fußballspielen entnervt und desillusioniert rasch wieder aufgegeben haben.

Freistoss

schwatzgelb.de: 1 Frage, 3 Antworten: Was fasziniert Ulrich Hesse-Lichtenberger am BVB?

Uli:

1) Die Südtribüne

2) Die totale Identifikation der Stadt mit dem Klub

3) Die Vereinsfarben (kein Witz!)

Aber noch mal: Ich habe mir den Verein nicht gewählt, weil mich etwas fasziniert hätte, und ich würde auch hingehen, wenn das Stadion Mist wäre, der Klub niemanden interessierte und die Mannschaft in Rot-Grün kicken würde.

Aufstellung

schwatzgelb.de: Wer war oder ist Dein Lieblingsspieler beim BVB und warum?

Uli: Manfred Burgsmüller. Wir hatten mal ein Heimspiel gegen Werder, Anfang der 80-er, und traten sehr ersatzgeschwächt an. Zorc musste im Sturm spielen, Siegfried Bönighausen machte eine seiner wenigen Partien. Vor dem Anpfiff hatten wir Angst, Bremens Trainer Otto Rehhagel, der den BVB noch gut kannte, würde die Gunst der Stunde nutzen und auf Offensive setzen. Aber dann plätscherte der Kick so vor sich hin, weil wir nicht gewinnen konnten und Werder wohl nicht wollte. Kurz vor Ende bekam der BVB vor der Nordtribüne eine Ecke. Burgsmüller schlurfte in Richtung Strafraum, als habe er eigentlich keine Lust mehr. Dann blieb er stehen, bückte sich und schnürte die Schuhe neu. Sein Gegenspieler stand etwas unschlüssig neben ihm, weil Manni offenbar gar nicht auf die Ausführung des Eckballs achtete. Als der Ball in der Luft war, sprang Burgsmüller auf, machte ein paar Schritte vorwärts und drückte das Leder am kurzen Pfosten ins Netz. Es war das einzige Tor des Spiels. Muss ich noch mehr sagen?

schwatzgelb.de: Welchen Spieler würdest Du gerne einmal im Dress des BVB spielen sehen?

Uli: Viele, viele Jahre lang war das der Uruguayer Enzo Francescoli. Als wir den nie holten, habe ich es aufgegeben, über so etwas nachzudenken. Im Moment: Pavel Nedved.

schwatzgelb.de:

Uli: Es ist gut möglich, dass Max Michallek der größte Spieler war, den wir je hatten, aber ich beschränke mich jetzt auf Leute, die ich habe spielen sehen, sonst ufert das Ganze aus. (Wir spielen sehr altmodisch, mit Sammer als Libero. Und Ente Lippens wird es nicht gefallen, die linke Bahn zumachen zu müssen. Sieht aus, als hätte Sousa eine Menge Arbeit vor sich.)

Ulrich Hesse-Lichtenberger´s AllStars-Team:

Tor: Stefan Klos

Abwehr: Julio Cesar - Matthias Sammer - Thomas Helmer

Mittelfeld: Lothar Huber - Paulo Sousa - Marcel Raducanu - Manfred Burgsmüller - Willi Lippens

Sturm: Erwin Kostedde - Stephane Chapuisat

Abpfiff

schwatzgelb.de: Was wünschst Du Dir, bezogen auf Borussia Dortmund, für die Zukunft?

Ulli: Ein 6:2 gegen Schalke, nach 0:2 Rückstand.

Wir danken für das Gespräch

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